Читать книгу Tina Turner - Die Biografie - Mark Bego - Страница 9

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Da er fest dazu entschlossen war, seine Familie, bestehend aus den drei Töchtern, aufrechtzuerhalten, ließ sich Richard mit einer ganzen Reihe von Frauen ein, die er bei sich in das kleine Haus in Spring Hill einziehen ließ. Unter den ersten war eine geschiedene Frau mit Namen Essie Mae, die aus dem nahegelegenen Ripley stammte – und die er heiratete. Ihre Tochter Nettie Mae zog auch mit ein.

Anna und Alline und ihre Halbschwester Evelyn mochten die beiden eigentlich von Anfang an nicht. Es war sogar so, dass sie Essie Mae den Spitznamen „Frog“ (Frosch) gaben und Nettie Mae bei ihnen „Pig“ (Schwein) hieß. Tina sind die breiten Hüften des „Froschs“ und ihr Mund mit den vielen Goldkronen noch gut in Erinnerung. Und sie weiß noch, wie neidisch sie auf die umfangreiche Garderobe von „Schwein“ war.

Da „Frosch“ darauf bestand, zog die Familie ins nahegelegene Scott’s Hill in ein Haus neben dem örtlichen Friedhof. Die Harmonie im Bullock’schen Heim war allerdings nicht von langer Dauer. Richard und Essie Mae begannen sich zu streiten. Mehr als einmal kam es gar zu Handgreiflichkeiten. Eine ihrer schlimmsten Auseinandersetzungen endete damit, dass Essie Mae Richard Bullock ein Messer zwischen die Beine rammte.

Es dauerte dann nicht mehr lange, bis „Frosch“ und „Schwein“ ihre Sachen packten und für immer fortgingen. Zu diesem Zeitpunkt hörte Richard damit auf, seine Kinder mit in die Kirche zu nehmen. Das zog eine ganze Reihe von Babysittern und Haushälterinnen nach sich. Unter den Frauen, die sich um Anna und ihre Schwestern kümmerten, waren Miss Jonelle und Ella Vera, die Schwiegermutter von einem von Richards Brüdern.

Entweder kamen die Leute zu Anna, Alline und Evelyn nach Hause und betreuten sie dort oder die Mädchen mussten zu diesen Babysittern gehen. Eine Weile lebte Miss Jonelle sogar mit bei den Mädchen im Zimmer. Doch bald begannen sich auch Richard und Miss Jonelle zu streiten. Wieder dauerte es nicht lange, bevor Miss Jonelle ebenfalls ihre sieben Sachen packte und ging.

Ihr Leben verlief derart zwar nicht gerade glücklich, aber Anna gelang es trotz dieser ständig wechselnden Bezugspersonen und der ebenso häufig wechselnden Partnerinnen ihres Vaters, sich ihre eigene Identität zu bewahren. „Wenn sich irgendjemand um mich kümmerte, dann war das meine Schwester“, so Tina. (1)

Als sie 13 war, passierte ihr etwas Unangenehmes. Irgendwie erfuhr Ella Vera davon, dass Anna ihre Periode noch nicht bekommen hatte. Ella Vera machte sich Sorgen, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein könnte und wandte sich aus diesem Grund an Richard und erzählte ihm davon. Dieser ging mit Anna dann zum Arzt, um das abklären zu lassen. Anna empfand diese ärztliche Untersuchung als entsetzlich. Wenig später bekam sie dann ihre erste Periode. Das schockierte Anna noch viel mehr. In ihrem Teenagerkopf machte sie den Arzt dafür verantwortlich, dass diese monatliche Plage nun zu einem wiederkehrenden Teil ihres Lebens wurde.

Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was als Nächstes kam. Ganz plötzlich verließ ihr Vater die Familie und zog in den Norden, nach Detroit. Nur drei Jahre, nachdem ihre Mutter weggegangen war, wurden Anna und Alline nun sozusagen zu Waisen – denn man ließ sie allein.

„Ich konnte es einfach nicht glauben“, sagt Tina. „Da war ich nun – dreizehn Jahre alt und ohne Mutter. Und nun war auch noch mein Vater weg.“ (1)

Sie wurden zu Ella Vera abgeschoben. Obwohl diese nett zu ihnen war, zeigte sich Anna von der neuen Wohnsituation nicht allzu begeistert. Eine im Ort lebende Frau namens Florence Wright passte ebenfalls auf die Mädchen auf. Florence war Kosmetikerin gewesen, die Richard, in der Zeit, bevor er die Familie verließ, angeheuert hatte, um Annas und Allines Haare zu machen. Auch sie kümmerte sich oft um die Bullock-Mädchen.

Auf diese Lebensphase zurückblickend, erzählt Tina: „Ich wurde immer herumgeschoben, von einem Verwandten zum anderen. In meinem Leben gab es keine Stabilität.“ (5)

Eine Weile schickte Richard Ella Vera regelmäßig Geld für den Unterhalt, doch nach nicht allzu langer Zeit hörten die Zahlungen auf. Anna war äußerst frustriert wegen ihrer schwierigen Lebenssituation und der schmerzhaften Tatsache, dass beide Elternteile sie im Stich gelassen hatten.

Um Geld zu verdienen, besorgte sich Anna selbst einen Job und arbeitete für ein weißes Ehepaar, die Hendersons. Dies vermittelte ihr ein Zugehörigkeitsgefühl und gab ihrem chaotischen Leben ein gewisses Maß an Kontinuität. Bei der Arbeit im Haushalt von Guy und Connie Henderson lernte sie auch eine Menge fürs Leben: „Ich begann für eine weiße Familie als Hausmädchen zu arbeiten. Dort lernte ich viel für mein Leben als Frau – außer das Kochen –, denn ich war wie ihre jüngere Tochter. Ich lernte, mich um ihr Baby zu kümmern, so dass ich, als ich mein eigenes Kind bekam, in allem Bescheid wusste.“ (1)

Guy Henderson war Eigentümer eines Chevrolet-Handels in Ripley, Tennessee, und seine Frau Connie war, bevor sie geheiratet und den Beruf aufgegeben hatte, Lehrerin gewesen. Ihr Baby, David, kam, während sie bei ihnen beschäftigt war, in Annas Obhut. In der Zeit, als sie bei den beiden arbeitete, lernte sie, wie man ein Haus sauber und ordentlich hält, und eignete sich zudem alle Aspekte der Babypflege an. Annas Arbeit umfasste alles – vom Windelnwechseln bis zum Erledigen der Wäsche –, sie fühlte sich wie ein vollwertiges Mitglied der Familie und wurde auch so behandelt. Eine Weile lang hatte sie das Gefühl, dass sie einen Ort besaß, wo sie hingehörte.

Als sie bei den Hendersons wohnte, bekam sie auch mit, was eine richtige Familie ausmachte: ein Zuhause, in dem es keine körperlichen Auseinandersetzungen gab, man nicht bedroht wurde und keiner der beiden Partner außereheliche Affären hatte. Außerdem zeigten Guy und Connie einander offen ihre gegenseitige Zuneigung und Liebe. Indem sie einfach sie selbst und für Anna da waren, öffneten sie ihr die Augen für die Möglichkeit, ein völlig anderes Leben zu führen. Sie zeigten ihr, wie eine Ehe funktionieren konnte. Was ihr hier vorgelebt wurde, unterschied sich sehr stark von dem, was für sie inzwischen zur Normalität geworden war. Es weckte in ihr den Wunsch nach einem Zuhause, das so harmonisch war wie das der Hendersons. Ihr Leben in dieser Familie gab Anna ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit.

Da sie immer noch in der Gegend wohnten, wo sie aufgewachsen waren, lebten Anna, Evelyn und Alline noch ganz in der Nähe von ihren Verwandten. Es gab also eine Art von Familienzusammenhalt – auch wenn sie von ihren eigenen Eltern verlassen worden waren. Bis zum Jahr 1954 hatte es in der Welt der nun vierzehnjährigen Anna viele Veränderungen gegeben. Opa Alex war gestorben und hatte Oma Roxanna als Witwe zurückgelassen. Onkel Gill war aus dem Gefängnis entlassen worden – er hatte sein Haftstrafe für die Erschießung seines Rivalen abgebüßt. Oma Roxanna lebte nun bei Onkel Gill, der inzwischen geheiratet hatte.

Annas Halbschwester Evelyn entdeckte, dass sie von einem wohlhabenden Jungen aus der Gegend, der noch zur High School ging, schwanger war. Als er ihr vorschlug zu heiraten, lehnte sie ab. Sie war in einen anderen Jungen verliebt und wollte mit dem Vater ihres Kindes nichts mehr zu tun haben. Stattdessen bekam sie ihr Kind, dem sie den Namen Dianne Curry gab, und lebte bei Onkel Gill.

Evelyn und ihre Cousine Margaret wurden sehr enge Freundinnen. Es war sogar so, dass Oma Georgie immer sicherstellte, dass die beiden Mädchen ständig zusammen waren, so dass sie nicht in allzu große Schwierigkeiten gerieten. Anna sah sie jeden Samstag in Ripley und freute sich, wenn die beiden sie besuchen kamen.

Da sie etwas älter war als die anderen Mädchen, verhielt sich Evelyn Anna gegenüber ein wenig kühl und reserviert. Sie tat so, als wäre sie lieber mit jungen Erwachsenen als mit jungen Mädchen zusammen. Doch Margaret begleitete sie auf Schritt und Tritt und Anna liebte ihre Cousine einfach über alles. Im Grunde freute sie sich die ganze Woche darauf, Margaret wiederzusehen.

In vielerlei Hinsicht wurde Margaret für Anna zu einer Art Ersatzmutter. Sie redete mit ihrer jungen Cousine über das Leben, sprach mit ihr über Gott und die Welt. Margaret klärte Anna über Liebe und Sex auf. Margaret sprach mit ihr über Jungs und das Küssen und erzählte ihr, wer mit wem schlief. Anna war von Margarets Geschichten über ihre Verwandten und vom ganzen örtlichen Tratsch begeistert.

Im gleichen Jahr wurde dann auch Margaret von einem Jungen aus der Gegend schwanger. Darüber war sie sehr bestürzt und tat alles, was sie konnte, um ihren Körper dazu zu bringen, das in ihr wachsende Kind abzustoßen.

Anna war der einzige Mensch, dem Margaret von ihrem Dilemma erzählte. Noch heute erinnert sie sich an den letzten Tag, an dem sie Margaret lebend sah. Es war der Besuch, bei dem ihr Margaret auch von ihrer Schwangerschaft verriet. Margaret hatte gehört, dass, wenn man schwarzen Pfeffer mit heißem Wasser vermischt trank, dies eine Fehlgeburt auslöste, weshalb sie dieses fürchterliche Gebräu zu sich nahm und damit verzweifelt versuchte, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen.

Nach diesem Besuch ereignete sich ein sehr tragischer Vorfall. Margaret und Evelyn wurden, gemeinsam mit einer anderen Cousine namens Vela Evans, von einem Mann mit dem Auto zu einem Basketballspiel im Ort mitgenommen. Leider hatte der Mann sehr viel getrunken und seine Fahrtüchtigkeit war stark eingeschränkt. Als er die Spur wechselte, um ein langsames Fahrzeug zu überholen, fuhr er direkt in einen entgegenkommenden Diesellaster. Sowohl Margaret als auch Evelyn verstarben noch an jenem Abend.

Anna war bei den Hendersons, als das Telefon klingelte und sie die schreckliche Nachricht erhielt. Als sie es gesagt bekam, fiel sie in Ohnmacht. Bis dahin hatte sie immer angenommen, dass nur Weiße es fertigbrächten, ohnmächtig zu werden, wenn man ihnen eine furchtbare Neuigkeit überbrachte. Sie dachte, Schwarze nähmen Tragödien einfach als gegeben hin und kämpften sich tapfer durch alle Härten, die ihnen das Leben auferlegt. An jenem Abend entdeckte sie, dass der Körper eines jeden Menschen unter Schock kollabieren konnte. Als Anna von Margarets Tod erfuhr, spürte sie förmlich, wie ihr die Beine ihren Dienst versagten.

Anna war bei der Beerdigung von Opa Alex gewesen. Sie hatte gesehen, wie friedlich er in seinem Sarg lag – er hatte so ausgesehen, als wäre er in einen tiefen und wohlverdienten Schlaf gefallen. Doch Margarets und Evelyns Beerdigung zeigten eine andere, kältere und furchtbarere Seite des Todes. Da lag ihre geliebte Cousine Margaret in ihrem Sarg, ihr Kopf war durch den Unfall plattgedrückt worden und über ihr Gesicht verlief eine riesige Schnittwunde. Man hatte sich kaum bemüht, die Auswirkungen des Unfalls kosmetisch zu kaschieren – es war ein schrecklicher und herzzerreißender Anblick.

Anna sah sich ihre jungen und leblosen Körper an und schrie: „Margaret! Evelyn!“ Doch die beiden sollten für immer schweigen. Ein weiteres Mal hatte Anna eine wertvolle Lektion über das Leben gelernt und wie schnell es für manch einen zu Ende sein kann. Nun war ihre Halbschwester nicht mehr da und ihre Kusine Margaret hatte sie ebenfalls verlassen. Sie hatte das Geheimnis ihrer Schwangerschaft mit ins Grab genommen – nur Anna wusste davon.

Anna empfand die Ereignisse als sehr schmerzvoll und spürte eine innere Leere. Sie dachte, dass der Schmerz, den sie gefühlt hatte, als zuerst ihre Mutter und dann ihr Vater sie verließ, schon furchtbar gewesen sei. Doch das hier war noch viel schlimmer und wesentlich schmerzhafter – ein tiefer und bohrender Schmerz, der einfach nicht nachlassen wollte.

Das Jahr 1954 erwies sich als ein Jahr voller Veränderungen in Annas noch jungem Leben. Einige dieser Veränderungen gelangten über das Radio zu ihr. Zuhause gab es immer ein Radio und Anna sah sich auf der anderen Seite des Äthers mit einer völlig anderen Welt konfrontiert. Sie und Alline hörten sich immer die Hörspielreihen an, die gesendet wurden. Sie weiß noch, dass sie sich die Gruselserie Inner Sanctum und die Krimireihe The Fat Man anhörten. Alline und sie kochten sich dann auf dem Herd immer eine Süßkartoffel (ohne etwas dazu) oder machten sich in einer Bratpfanne Popcorn und setzten sich danach hin und hörten sich die Sendungen an. Es gab keine Softdrinks oder Kekse, lediglich ein Glas Wasser, eine Süßkartoffel und etwas Popcorn. Beim Radiohören hielt ihre Fantasie sie stundenlang beschäftigt. Ihre Großeltern hörten sich im Radio oft Country- und Westernmusik an, wodurch Anna auch verschiedene aktuelle Musikrichtungen kennenlernte.

In jener Zeit wuchs und veränderte sich die Welt der Unterhaltungsmusik. Der Bigband-Swing-Sound der 1940er hatte sich in neue Musikformen verwandelt. Jazz und Blues waren von Rhythm & Blues und einer neuen Art von schneller, von Gitarren dominierter Musik, die man schließlich als „Rock & Roll“ bezeichnete, abgelöst worden. Anna erinnerte sich, wie LaVern Baker voller Inbrunst den Song „Tweedle Dee“ und Faye Adams „Shake A Hand“ sang. Und auch an den Sound von B.B. King und seiner Gitarre, die er auf den Namen „Lucille“ getauft hatte. Anna lernte den gesamten Text von „Tweedle Dee“ auswendig und sang das Lied dann immer laut vor.

Vom Herbst 1954 an begann die vierzehnjährige Anna auf die Lauderdale High School in Ripley, Tennessee, zu gehen. Das war eine völlig andere Welt. Wenn sie sich umschaute, sah sie die Mädchen, die älter als sie waren, mit ihren schönen Kleidern und den wohlgeformten Körpern, die darin steckten. Dadurch fühlte sie sich nur noch mehr fehl am Platz. Sie kam sich vor wie eine Fremde, die ein unbekanntes neues Land betrat.

Anna unterzog ihren Körper einer kritischen Betrachtung und fühlte sich danach noch unwohler: „In meiner Jugend war ich spindeldürr. Ewig lange Beine und nichts dabei, was Schwarze wirklich anspricht. Dazu muss ich vielleicht erklären, dass die Schwarzen in der Schicht, aus der ich damals kam, beleibtere Frauen bevorzugten.“ (5)

Die Mädchen auf ihrer High School hatten Kurven, volle Lippen und wohlgeformte Beine. Wenn sich Anna im Spiegel anschaute, bemerkte sie, dass sie nichts von alledem vorzuweisen hatte. „Das war damals in meiner frühen Jugend alles nicht so toll“, erinnert sie sich, „denn ich fand mich selbst viel zu dünn. Nichts war irgendwie am richtigen Platz.“(12)

Doch auf der Lauderdale High eröffnete sich für Anna eine komplett neue Welt. Da Anna großes Interesse daran hatte, Neues kennenzulernen, entdeckte sie alle möglichen Aktivitäten, an denen sie Gefallen fand und bei denen sie mitmachte. Da die Basketballmannschaft ihrer Schule das Spitzenteam der ganzen Gegend war, waren die Basketballspiele immer sehr aufregende Ereignisse. Anna trat deshalb dem Cheerleader-Team ihrer Schule bei.

Während ihrer Zeit als Cheerleader lernte sie ihre erste große Liebe kennen. Er spielte im Basketballteam der Carver High School in Brownsville, einer der mit der Lauderdale High konkurrierenden Schule. Als Lauderdale gegen Carver spielte, entdeckte sie ihn auf dem Basketballfeld. Es war Liebe auf den ersten Blick. In Annas Augen sah er unheimlich gut aus. Er hatte tolle Zähne, einen athletischen Körper und ebenmäßige dunkle Haut. Im gegnerischen Team trug er die Spielernummer 9.

Anna wollte unbedingt herausbekommen, wer er war. Sie ging deshalb hinüber zu einem der Trainer der Carver High-Mannschaft und erkundigte sich, wer denn die Nummer 9 sei. Der Trainer lief daraufhin einfach zu dem Spieler Nummer 9 hinüber und kam mit ihm im Schlepptau zu Anna zurück. Sie war selbst überrascht, wie bestimmt sie gehandelt hatte.

Wie sich herausstellte, war die Nummer 9 der Kapitän des Basketballteams der Carver High. Er hieß Harry Taylor. Tina zufolge funkte es sofort. Jedoch war ihre erste Begegnung nur von kurzer Dauer. Harry weiß noch, wie er – in der Hoffnung, er könne mit Anna sprechen – in einer Spielpause auf die Seite des gegnerischen Teams hinüberging. Doch als er dort ankam, war sie bereits weg.

Leider war Anna nicht die einzige Cheerleaderin ihres Teams, auf die Harry ein Auge geworfen hatte. Annas Erzrivalin war im selben Cheerleaderteam und hieß Rosalyn. Sie kannte Rosalyn bereits eine ganze Weile aus der Schule. Sie waren beide zusammen zur Grundschule, der Johnson Grade School Annex gegangen. Anna war entsetzt, als sie herausfand, dass Rosalyn Harry ihre Telefonnummer gegeben hatte. Dadurch fühlte sie sich noch weniger wohl in ihrer Haut, denn sie hatte noch nicht einmal ein Telefon zu Hause.

Doch wie es das Schicksal so wollte, kam es zu einer Art göttlicher Fügung. Zu jener Zeit hatte ihr Vater Richard Bullock Ella Vera noch ein wenig Geld für den Unterhalt von Anna und Alline geschickt. Als plötzlich kein Geld mehr floss, mussten Anna und Alline zurück in die Gegend um Nutbush, wo sie bei Oma Roxanna und Onkel Gill einzogen.

Damit verließen sie Lauderdale County und kehrten zurück nach Haywood County, das zu einem ganz anderen Schulbezirk gehörte. Auf einmal war Anna Schülerin der Carver High – der Schule, auf die auch Harry ging! Es war einfach perfekt.

Dass sie nun an die Carver High gekommen war, brachte viele positive Veränderungen in Annas Leben mit sich. Zunächst einmal begann der dortige Schulleiter Anna zu mögen. Er hieß Roy Bond. Eines Tages hatte sie sich in der Schule ein wenig daneben benommen und wurde zum Direktor geschickt. Mr. Bond sah Anna Mae Bullock kurz an und sagte dann zu ihr, dass er von ihr „Besseres“ erwarte. Mit einem solch ungebührlichen Verhalten hätte er eher bei einem anderen Schüler gerechnet – aber sicherlich nicht bei ihr. Diese Aussage brachte Anna dazu, sich einer kritischen Selbstbetrachtung zu unterziehen. In seinem Büro erteilte Mr. Bond ihr eine Strafpredigt zu ihrem Verhalten und sagte zu ihr, für ihn sei klar, dass sie nicht wie die anderen Schüler sei, er sehe in ihr etwas Besonderes. Nun, vielleicht war es ja gar nicht so schlecht, anders zu sein.

Sie hatte nicht das Gefühl, gerade vom Direktor abgestraft worden zu sein. Es ging ihr eher ein Licht auf. Sie hatte immer gespürt, irgendwie anders zu sein, nicht überallhin zu passen. Möglicherweise war das ja etwas Gutes, vielleicht besaß sie eine besondere Eigenschaft, die anderen ins Auge fiel.

Dass Anna keine Eltern zu Hause hatte, war im Lehrerkollegium allgemein bekannt. Anna merkte, dass die Lehrer, einer nach dem anderen, anfingen, nach ihr zu schauen, und ihr dabei halfen, zurechtzukommen. Einmal sah die Schulbibliothekarin Anna vorbeilaufen und hielt sie an. Anna wurde von ihr darüber aufgeklärt, dass es sich für eine junge Dame nicht zieme, mit so einer schlechten Haltung und herausgestrecktem Bauch herumzulaufen. Sie müsse den Bauch einziehen und die Leute, besonders die Jungs, dürften sie nicht mit herausgestrecktem Bauch zu sehen bekommen. Von da an war Anna immer auf eine gute Haltung bedacht und achtete auf ihr Benehmen.

Nun, da sie zur Carver High School ging, begann Anna auch bald mit anderen Aktivitäten. Sie ging nicht nur ins Cheerleader-Team, sondern spielte auch in der schuleigenen Mädchenmannschaft Basketball. Sie war so mit ihren Nachmittagsaktivitäten an der Schule beschäftigt, dass sie manchmal, statt den Bus nach Hause zu Oma Roxanna zu nehmen, in der Stadt blieb und bei einer der anderen Cheerleaderinnen, Carolyn Bond (die aber nicht direkt mit dem Schuldirektor Mr. Bond verwandt war), übernachtete. Anna wurde auch Mitglied im Laufteam der Schule und erwies sich dort als schnelle und wettkampforientierte Läuferin. Mochte sie auch noch so sehr über ihre dünnen Beine gejammert haben, so stand doch fest, dass sie viel Kraft in diesen Beinen hatte und sie zu gebrauchen wusste.

Carolyn Bond erinnerte sich später, wie energiegeladen und beliebt Anna an der Carver High School war. Sie wirkte bei den Theateraufführungen der Schule und allen dort veranstalteten Talentshows mit. Bei Basketballspielen ging Anna in der Halbzeit aufs Feld und wurde zur Entertainerin: Sie tanzte und sang zu Musik, die vom Band kam.

Anna und Carolyn waren auch gemeinsam im Schulchor. Anna liebte es zu singen, und alle ihre Klassenkameraden bemerkten verblüfft, was für eine tolle Stimme sie – schon damals – besaß. Für schwarze Jugendliche gab es damals nicht allzu viele Orte, an denen sie ihre Zeit verbringen konnten. Um den Schülern ein organisiertes Freizeitprogramm zu bieten, veranstaltete die Schule an Samstagnachmittagen Tanzpartys. Auch dorthin ging Anna sehr gerne.

An den Abenden, an denen Anna bei Carolyn übernachtete, merkte diese, dass Anna nie Kleidung zum Wechseln dabei hatte, die sie nach den Veranstaltungen, die sie besuchten, anziehen konnte. Oft borgte Carolyn ihr deshalb einige ihrer eigenen Kleidungsstücke. Ganz besonders gefiel Anna ein bestimmtes Paar Jeans, das Carolyn besaß – denn sie fand, dass ihre Beine und Hüften darin kräftiger aussahen.

An dem Wochenende vor Beginn des nächsten Schuljahres gingen Anna und Alline nach Brownsville, um dort ein wenig herumzulaufen und die Lage zu peilen. Da sie nicht vorhatten, sich irgendetwas Besonderes anzuschauen oder zu machen, trug Anna eines der Kleider, das sie nicht sonderlich mochte. Ihren Erzählungen nach trugen die schwarzen Jungs in Brownsville weiße Hemden sowie hautenge Bluejeans und die Röcke und Blusen der Mädchen, mit denen sie herumhingen, entsprachen von ihrem Stil her ganz der in den 1950ern beliebten Rock & Roll-Mode.

Natürlich lief sie zufällig just an diesem Abend ihrem Traummann in die Arme: Harry Taylor. Er trieb sich mit ein paar Freunden in der Innenstadt von Brownsville herum, in einem Viertel, das ebenfalls als „The Hole“ bekannt war. Auf einmal wurde Anna sehr schüchtern und drückte sich eine Weile dort herum, in der Hoffnung, dass er sie bemerkte. Selbstverständlich entdeckte Harry sie. Er kam zu Anna herüber und fing ein Gespräch mit ihr an. Es knisterte gewaltig und Annas erste Liebesbeziehung nahm ihren Anfang.

Mit Beginn des neuen Schuljahres wurden Anna und Harry ein Paar. Als Anna auf der Bildfläche erschien, trennte sich Harry von seiner damaligen Freundin Antonia Stubbs. Sein Herz schlug nun für die magere kleine Anna Mae.

Mittwochabends kam Harry immer gemeinsam mit einem seiner Freunde namens John Thankster bei ihr zu Hause vorbei. Die „offizielle“ Variante war, dass Harry und John Anna und Alline abholten, um mit ihnen ins Kino zu gehen, was Oma Roxanna milde stimmte. Doch des Öfteren hatten sie gar nicht vor, ins Kino zu gehen. John und Alline gingen oft in einen „Juke Joint“ im Ort – einen aus einem Raum bestehenden Club mit Alkoholausschank und einer Jukebox. Da beide weder rauchten noch tranken, blieben Anna und Harry im Auto.

An einem der langen Abende, die sie in Johns Auto verbrachten, schliefen Anna und Harry auf dem Rücksitz des Autos miteinander. Wie in ihrem 80er-Jahre-Song „Steamy Windows“, verlor Anna Mae hinter den beschlagenen Fensterscheiben mit Harry ihre Unschuld.

Später erinnerte sie sich: „Es tat so wahnsinnig weh, ich hatte das Gefühl, dass mein ganzer Körper bis hin zu den Ohrläppchen schmerzte. Oh Gott, ich dachte, ich sterbe. Und er wollte es gleich zwei- oder dreimal hintereinander machen! Es war, wie wenn man in einer offenen Wunde herumstochert. Ich konnte danach kaum laufen.“ (4)

Das Kleid, das Anna an dem Abend auf dem Autorücksitz anhatte, war total verschmutzt. Sie hielt sich für besonders clever, als sie es zusammenknüllte und ganz nach unten in einen großen Koffer stopfte, der unter ihrem Bett stand. Leider hatte sie das Pech, dass Oma Roxanna am nächsten Tag beschloss, dass es Zeit für einen Frühjahrsputz sei. Sie konfrontierte sie mit dem Kleid und Anna versuchte ihr glaubhaft zu machen, dass sie gerade ihre Periode bekommen habe und ihr Kleid deshalb so dreckig sei. Doch Oma Roxanna war viel zu klug und ließ sich von ihrer Enkelin keinen Bären aufbinden. Sie sagte zu ihr, dass das ihre Sache sei, wenn sie unbedingt schwanger werden wolle, da sie weder Vater noch Mutter hatte, die auf sie Acht geben konnten. Für eine ganze Weile war dies das letzte Mal, dass Harry Anna zu Hause abholen durfte, um mit ihr „ins Kino“ zu gehen.

Anna merkte bald, dass Harry jetzt, da sie zu einer seiner sexuellen Eroberungen geworden war, nicht mehr ganz so großes Interesse an ihr hatte. In der Schule war er ein sehr beliebter junger Mann und es dauerte nicht lange, da begann er eine Beziehung mit Annas Freundin Carolyn. Jedoch hielt auch das nicht lange. Bald machte Harry seinen Schulabschluss und ging zur Air Force. Anna traf ihn noch ab und zu. Eines Tages erzählte ihr eine Freundin im Schulbus, dass Harry ganz plötzlich geheiratet habe. Als er Theresa, eine seiner Freundinnen, geschwängert hatte, setzte sie ihn dahingehend unter Druck.

Als Anna von dieser Neuigkeit erfuhr, war sie am Boden zerstört. In ihrem Herzen hatte sie weiterhin die Vorstellung gehegt, dass Harry und sie eines Tages wieder zusammenfinden würden. Doch das sollte nicht sein. Ihr ganzes Leben schien in sich zusammenzubrechen. Ihre Mutter hatte sie verlassen und dann ihr Vater. Ihre Cousine Margaret war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Alline stand kurz vor ihrem Schulabschluss und schmiedete Pläne, nach Detroit zu ziehen, um näher bei ihrem Vater zu sein. Bald würde also auch sie fort sein. Anna war es leid, bei ihrer Großmutter zu leben, und nun war auch Harry plötzlich aus ihrem Leben verschwunden. Was sollte sie bloß tun? Sie fühlte sich verlassen und allein.

Plötzlich kam ihr eine Idee. Sie hatte ja noch eine andere Großmutter, die ganz in der Nähe wohnte. Anna würde einfach zu ihr ziehen. Sie zog also zu Oma Georgie, die auf dem Land der Pointdexter-Farm wohnte. Oma Georgie hatte bereits alle Hände voll zu tun, weil sie nun das kleine Mädchen aufzog, das Evelyn nach dem Autounfall, bei dem sie und Margaret getötet wurden, zurückgelassen hatte. Etwas resigniert gab sie jedoch nach und erlaubte Anna, ebenfalls zu ihr zu ziehen.

Anna merkte, dass ihre alten Freunde, die Poindexters, nicht allzu glücklich darüber waren, dass sie auf ihrem Grund und Boden wohnte und nicht für sie arbeitete. Um dieses Problem zu lösen, begann Anna wieder, für Connie und Guy als Haushälterin und Babysitterin tätig zu sein.

Im Sommer 1956 machten die Poindexters einen kurzen Urlaub in Dallas, Texas. Sie nahmen Anna mit, denn sie sollte sich um das Kind kümmern. Während Anna sich in Texas aufhielt, verstarb plötzlich Oma Georgie. Als Anna zur Beerdigung nach Hause fuhr, traf sie dort auf jemanden, den sie schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte: ihre Mutter.

In der letzten Zeit hatte Zelma Bullock ihrer Tochter ein wenig Geld und Kleidung geschickt. Langsam begannen die Gefühle des Verletztseins und der Groll, den Anna ihrer Mutter gegenüber hegte, abzuklingen. Als sie zu der Beerdigung ihrer Großmutter eintraf, war sie über das, was sie dort zu sehen bekam, verblüfft:

Da stand sie, Zelma Bullock, schick und elegant gekleidet, in einem weißen Anzug mit modischen Schulterpolstern und zweifarbig braun-weißen Stöckelschuhen. Anlässlich der Beerdigung der Großmutter führten Zelma und ihre Tochter ein langes Gespräch. Zelma sagte, sie wolle, dass Anna zu ihr nach St. Louis ziehe.

Alline war zwischenzeitlich zu ihrem Vater nach Detroit gezogen, mit dieser Situation aber nicht zufrieden gewesen. So war sie nun auch schon in St. Louis bei ihrer Mutter. Für Anna schien es die perfekte Lösung zu sein, zu ihrer Mutter und ihrer Schwester zu ziehen.

Als Tina später auf diese Zeit zurückblickte, meinte sie: „Ich wollte immer weg von den Feldern, der ländlichen Umgebung. Tennessee war schon in Ordnung. Ich liebte es, am Ende des Tages unter einem Baum zu sitzen. Aber ich wusste, dass es da noch mehr gab. Deswegen zog ich zu meiner Mutter nach St. Louis. Denn für mich war das die Großstadt.“ (1)

So packte Anna Mae Bullock ihre paar Habseligkeiten zusammen und machte sich auf nach St. Louis. Dies war ihr Abschied von Nutbush, Henderson und dem westlichen Tennessee überhaupt. Sie ging fort und blickte nie zurück.

Tina Turner - Die Biografie

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