Читать книгу Die letzte Kolonie - Markus Bundi - Страница 8

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Als nach Gregors Abreise die Reserven des Anderwassers im Spect zur Neige gingen, machte sich Florio auf den Weg. Er kannte sich in den Chargen aus, wusste, wie man sich im System zu bewegen hatte, und er hatte von Gregor eine alte Zugangskarte bekommen. Bis dahin jedoch hatte er die dunklen Abschnitte und die schmalen Gänge gemieden. Zu viele verschwanden auf unerklärliche Weise.

Seit einiger Zeit fürchtete sich Florio vor Schimpansen, Manipeters Wunderfabelwesen, die sie zuweilen gemeinsam besangen, ohne jedoch zu wissen, was oder wer ein Schimpanse war. Ein Wesen ohne Hemmungen, ihnen nicht ganz unverwandt, so viel stand fest. Womöglich aber waren Schimpansen auch so etwas wie Riesenratten. In diesen Größenordnungen hatte Florio einige Male geträumt.

Das System war nicht für weite Wege angelegt, jeder wusste, in welche Charge er gehörte, und am besten blieb man, wo man war. Die persönlichen Plastikkarten öffneten nur wenige Türen. Der Passepartout, so hatte Gregor jene Karte genannt, die er ihm noch ausgehändigt hatte, würde ihm Zugänge verschaffen, von denen er nicht einmal ahnte, dass es sie gab.

Wenn Florio sich außerhalb des Spects befand und nicht in seiner Kammer war, fühlte er sich unwohl, sobald er Geräusche oder Gerüche wahrnahm, deren Herkunft er nicht kannte, die er nicht auf eine Ursache zurückführen konnte. Fremde Gesichter irritierten ihn, die ausdruckslosen wie die neugierigen, und im Zweifelsfall, dafür reichte schon ein Fingerschnippen aus der Ferne, fühlte er sich beobachtet. Auf Gregors Wegbeschreibung aber war Verlass. Florio passierte die Esszeile und kam beim ovalen Brunnen an, wo sich jeweils noch mehr Leute versammelten als im Spect. Die Leute kamen aus vielerlei Gründen zur Quelle des Ursprungs, wie der Brunnen auch genannt wurde. Hier bediente man sich, labte sich am Wasch. Hier suchte man nach bekannten Gesichtern, an diesem Brunnen wurde auch Tauschhandel getrieben. Wer etwas suchte, das er brauchte, kam zur Quelle des Ursprungs und brachte etwas mit, von dem er hoffte, ein anderer würde darauf anspringen.

Florio war länger nicht mehr an diesem Sammelplatz gewesen, die Kapuzenmänner schreckten ihn ab, wer sein Gesicht verbarg, hatte auch anderes zu verbergen. Hier wurden Waren feilgeboten, die es gar nicht gab, hier wurden Dinge verhandelt, die kaum einer verstand, wenngleich jeder so tat, als ob. Du gehst dann in die Richtung weiter, wo du nichts vermutest, wo es am dunkelsten ist – Gregors Stimme.

Es fiel Florio nicht leicht, sich gegen seinen Instinkt und für die Schimpansen zu entscheiden. Es gab viele dunkle Ecken, doch nur aus einer Richtung kam niemand. Dorthin musste er. Florio umrundete ein weiteres Mal das Oval des Brunnens, wurde von einer Frau angerempelt, die ihn kurz anstarrte und fluchend an ihm vorbeizog. Ein kleiner Kapuzenmann zupfte ihn am Ärmel, flüsterte ihm etwas zu, mehr ein Raunen war’s, ein Angebot oder eine Anfrage. Florio verstand nicht. Für seinen Passepartout hätte er wohl alles bekommen, und geriete er an den Falschen, er würde ohne Umschweife in Ketten gelegt, unschädlich gemacht – oder Schlimmeres.

Das Grundrauschen nahm zu, wenigstens kam es Florio so vor. Hatte er eben das Wort »Fleisch« vernommen? Ein Mädchen, das sich ihm untergehakt hatte, ohne dass er das mitbekommen hätte, zwinkerte ihm zu, lächelte, doch das war ein falsches Lächeln, ein verzerrter Mund in einem schiefen Gesicht. Er wand sich aus der Verhakung, hörte nicht mehr hin, machte einen Schritt zur Seite, vernahm ein verächtliches Zischen der Kleinen und schielte wieder in das Dunkel, zu jenem Ort, wo er hinmusste. Unbeobachtet. Was vom Brunnen aus gar nicht möglich war. Unauffällig. Auch das ließe sich kaum bewerkstelligen. Wie selbstverständlich? Florio versuchte es. Er stapfte los, nicht zu schnell und nicht zu langsam, um aus dem Rauschen heraus in das Dunkel hinein zu gelangen – und verschwand darin.

Zu seiner Überraschung fand er den beschriebenen Schacht sofort. Florio vermied es, sich umzudrehen. Er hätte niemanden entdeckt, stattdessen die Umrisse einer Überratte erahnt, einen Schatten, der ihm folgte. Das geschah aber auch so, in seinem Kopf wechselten sich die Gestalten der Verfolger ab. Als er um eine Ecke bog, lag ein spärlich beleuchteter Raum vor ihm, nicht mehr blau, vielmehr grüngräulich, so schien es ihm, eine Lichtquelle ließ sich nicht ausmachen. Florio gelangte an die Stahltür, wie er schon so manche gesehen hatte, sie gehörte zu den unüberwindbaren Hindernissen der Charge. Eigentlich. Er schob den Passepartout in den dafür vorgesehenen Schlitz neben der Tür. Kaum war die Karte im Innern verschwunden, wurde sie wieder ausgespuckt. Florio schoss das Blut in den Kopf, mehr als zwei weitere Versuche hatte er nicht. Er nahm die Karte wieder an sich und überprüfte, ob er nicht versehentlich seine eigene in den Schlitz geschoben hatte. Eine unnötige Überprüfung, denn darauf hatte er schon zuvor geachtet. Er konnte umkehren oder es noch einmal versuchen. Oder warten. Doch worauf? – Ein Selbstgespräch würde ihm vor dieser Tür nicht weiterhelfen.

Er hauchte das Plastik an, rieb den Passepartout sanft am Stoff seines Pullovers, erst die eine, dann die andere Seite, atmete tief ein und steckte das Ding mit heißen Fingern ein weiteres Mal in den kalten Schlitz. Es klickte, es klackte, und die Tür öffnete sich.

Florios Körper durchflutete ein Strom, er spürte Kräfte, von denen er bislang nichts gewusst hatte; als hätte ihn jemand oder etwas aufgezogen, er war im Begriff, eine Schwelle zu übertreten. Die Möglichkeit, sich abzuwenden, umzukehren, war keine mehr. Hier und jetzt begänne seine Geschichte. Bevor die Tür es sich noch einmal anders überlegte, zog Florio den Passepartout, der wieder frei gegeben worden war, aus dem Schlitz und machte den Schritt auf die andere Seite.

Die Stahltür hinter ihm hatte sich mit demselben Klicken und Klacken wieder geschlossen, einen Verfolger gab es nun nicht mehr, wenn es zu einer Begegnung käme, dann lag diese vor ihm. Wie im Rausch ging er durch die Korridore und Gänge, ob Riesenratte oder Schimpanse, wer oder was auch immer auf ihn wartete, er war auf dem richtigen Weg, wenngleich das Licht immer spärlicher wurde.

Florio passierte mit Schwung ein Drehkreuz, kam an der von Gregor vorausgesagten verglasten Kabine vorbei und blieb vor den drei Treppen stehen. Er zuckte zusammen. Ein kaum vernehmbares Klacken hatte die Stille durchbrochen. Kein Klacken war’s, ein Zungenschnalzen. Jemand anderes lotete hinter ihm den Raum aus. Du kannst die Augen schließen, nicht aber die Ohren. Florios Euphorie war verflogen. Er kauerte jetzt am Boden, wartete. Die Sinne schärfen, Ruhe bewahren. Er hätte seine innere Stimme gern auf stumm geschaltet, und noch lieber wäre er losgerannt. Die Finsternis jedoch hielt ihn am Boden, die Luft war merklich kühler geworden, und das Dunkel begann, ihn einzukreisen. Der Verfolger verhielt sich ruhig. Aus welchem Winkel war er aufgetaucht, aus welchem Loch hervorgekrochen?

Nichts denken, die Sinne schärfen. Er müsste doch, wenn ihm der andere zu Leibe rücken wollte, das Quietschen des Drehkreuzes hinter sich hören? Und wenn es jemand übersprungen hätte? Die Drehkreuze waren von soliden Gittern umrahmt und ließen sich nicht umgehen. Keine Frage, ein Schimpanse konnte sich da durchmogeln, irgendwie. Florio öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, griff in die Innentasche und fühlte den Griff des Messers. Er war gewappnet, bildete er sich ein, er war bewaffnet, das war mehr als ein Zahnstocher, machte er sich Mut, wehrlos war er nicht. Er richtete sich langsam wieder auf, wählte eine der beiden Treppen außen. Metallstiegen. Er würde nicht geräuschlos nach unten gelangen, doch auch kein anderer. Er würde sich nicht überraschen lassen, es sei denn, sein Verfolger tauchte aus dem Nichts auf.

Er träumte nicht, alles ging mit rechten Dingen zu. Vorstellungen ausblenden, Sinne einschalten. Die linke Hand am Schaft des Messers, die andere an der Seitenverschalung der Treppe, nahm Florio behutsam Stiege für Stiege. Es geht abwärts, dachte er, ein überflüssiger Gedanke, dachte er, doch mit jedem Tritt öffnete sich unter ihm der Raum ein Stück weit, so kam es Florio vor, mit jedem Schritt betrat er Neuland. Er war ein Unbefugter, ein Angstwesen auf Abwegen. Er blieb abrupt stehen, horchte, ging weiter, ein warmer Luftzug strich ihm um die Wangen.

Am unteren Absatz angekommen, glaubte Florio, kleiner geworden zu sein. Doch er war nicht geschrumpft, sein Körper hatte sich lediglich zusammengezogen. Er musste sich wieder aufrichten, sich frei machen, tief ein- und ausatmen. Er hob den Kopf, schaute um sich, entdeckte jenen von Gregor angekündigten Seitengang. Ob er dem andern hier auflauern sollte? Er war nicht fürs Zustechen geschaffen, im Affekt, das ja, das vielleicht, wenn ihn jemand angriffe, würde er sich zur Wehr setzen. Einer Riesenratte würde er Widerstand leisten. Die Geräusche blieben aus.

Vielleicht war er bislang unentdeckt geblieben, jenen Verfolger in seiner Vorstellung konnte er weder abschütteln noch umbringen. Endlich ließ er den Griff des Messers los, zog den Reißverschluss hoch und setzte seinen Gang fort.

Auf Gregor vertrauend, tastete sich Florio vorsichtig die Wand entlang, spürte etwas Zähflüssiges an den Fingerspitzen, wollte aber nicht wissen, was es war. Sich weiter vorantasten, langsam einen Fuß vor den anderen setzen. Die Dunkelheit war noch das Geringste, die Stille bedrängte ihn, und etwas schien in der Luft zu liegen, das ihn zugleich lähmte und anstachelte. Unterschiedliche Luftströme, feine Temperaturunterschiede, atmen aber musste er, gleichmäßig ein- und ausatmen und einen Fuß vor den anderen setzen.

Wenn du ein Kribbeln in den Fingerspitzen fühlst, erste Vibrationen an den Wänden spürst, dann bist du auf dem richtigen Weg. Ohne Gregors Worte wäre er wohl nicht ans Ende dieses Stollens gelangt. Florio wurde erster Konturen gewahr. Da war Licht weiter vorne, der Stollen mündete in einen Tunnel mit Schienenstrang. Er blieb stehen, schaute erst nach rechts, von wo die Bahn kommen musste, dann nach links, wo sie anhalten würde. Florio sah sich nach einer Sitzgelegenheit um, irgendwo am Ende dieses Zugangsstollens hatte sich jeweils auch Gregor eingerichtet – und gewartet. Die Wände waren glatt, nirgends ein kleiner Vorsprung. Er roch an seiner Handfläche, hielt sich die Finger vor die Nase, an denen noch immer ein undefinierbarer Schleim haftete.

Er würde sich weder auf den Boden setzen noch an die Wand lehnen. Vielleicht hatte sich Gregor am Ende des Zugangsstollens auf die Unterkante gesetzt, die Beine in den großen Tunnel baumeln lassen. Das aber traute sich Florio nicht. Er würde warten. Ein Lied singen? Gern hätte er jetzt Manipeter an seiner Seite gehabt. Wenn sich die Gedanken zu schnell im Kopf drehen, ist es gut, wenn man sich austauschen kann; das Selbstgespräch aufheben, zuhören und nicken, das löste so manche Selbstverstrickung auf.

Gregor hatte ihm jede Begleitung strikt untersagt, du darfst niemandem trauen, hörst du, niemandem. Konzentriere dich auf dich selbst, auf deine Sinne, das ist anstrengend, doch es hilft dir zu überleben.

Manipeter hätte ein Lied anzustimmen gewusst, ein passendes, eines, das Erleichterung schafft. Im Gegensatz zu ihm selbst kannte der Kollege vom Spect all die Wörter, all die verbotenen Liedertexte auswendig, die Seelenwärmer. Florio verlegte sich aufs Summen, rieb am Hosenbein den Schleim von den Fingern, so gut es ging. Damit konnte er sich zur Not auch länger beschäftigen. – Die Seele ist das Eine und das Ganze, hatte Gregor gesagt, sie ist das Leben, das, was dich ausmacht. Florio wusste, dass sein Freund einen Vorsprung hatte, einen Vorsprung im Denken, im Begreifen. Begreifen kannst du die Seele nicht, wenn du dir deiner selbst gewahr bist, spürst du sie, du spürst dich, das ist dasselbe.

Manchmal hegte Florio den Verdacht, sein Freund würde lediglich Ballons aufblasen, bunte Ballons, die das Licht reflektierten. Ballons, wie sie sie ab und an im Spect durch den Raum zirkulieren ließen. Ein beliebtes Spiel, an dem sich viele beteiligten, indem sie zum bunten Tanz in der Luft beitrugen; den Ballon auf dem Finger balancieren, ihn anstupsen mit der Hand, mit dem Kopf, oder einmal kräftig dagegen pusten, dem Surren nachhören, wenn einem von ihnen plötzlich die Luft ausging. Nie ist jemand enttäuscht, dass sich in einem Ballon nur Luft befindet, zeitweilig eingesperrt, abgedichtet, in Form gebracht. Worte hingegen erweckten ein anderes Verlangen, einen Inhalt, irgendetwas Festes, einen Grund. Als er sich beim Zerkleinern der Pilze einmal in den Finger schnitt, aufschrie und dann Gregor die Wunde zeigte, sagte dieser nur, du spürst also den Schmerz. Das ist dein Lebenssaft. Und als Florio auf die Seele zu sprechen kam, ließ sein Freund wieder einen Ballon steigen, sagte etwas wie, auch im Blut werde die Seele spürbar, doch nur solange, wie es in Körpern zirkuliere.

Es atmet und pulsiert, Summen und Singen sind also Ausdruck der Seele, zog Florio ein vorläufiges Fazit. Dann aber schien es ihm wieder, als hätte er nur seinerseits einen weiteren Ballon aufgeblasen.

Der Boden begann zu zittern, gefolgt von einem anschwellenden dumpfen Geräusch, ein mechanisches Stampfen. Da war viel Kraft, viel Gewicht im Anrollen. Keine Überratte, die Bahn donnerte heran. Ein Stampfen, Schnauben und Tosen. Jetzt galt es, die Nerven zu behalten.

Gregor hatte Florio den Ablauf anhand eines gefüllten Wodkaglases und einer grünen Eile-mit-Weile-Figur auf der Theke des Spect veranschaulicht: Wenn der Zug an dir vorbei ist, springst du von der Bank, sprich aus dem Stollen, und eilst den Rücklichtern mit einer Doppelsechs nach – so schnell, dass du den Zug nicht mehr aus den Augen verlierst.

Die Lichter wischten an Florio vorbei, er wagte sich weiter nach vorne, und als ihn der letzte Waggon passiert hatte, sprang er aus dem Stollen, landete zwischen den Gleisen und rannte.

Achte auf die Schienen, die Schweißnähte, die Querverstrebungen, finde einen Rhythmus, schau nicht auf die Schlusslichter!

Florio war das Rennen nicht gewohnt. Selbstredend hatte er auf Anweisung Gregors trainiert, sich über das in den Chargen Notwendige hinaus bewegt, war ein wenig um die Flure und Korridore gezogen, schneller als sonst, doch hatte er letztlich keine Vorstellung davon, was Rennen wirklich bedeutete. Als Untersch ging man nicht an die physischen Grenzen, schon deshalb, weil man keine Ahnung hatte, wo diese Grenzen lagen. Man ging seinen Pflichten nach und hernach ins Spect.

Sein Körper wehrte sich, die Lunge, das Herz, er durfte nicht stolpern, nicht hier, nicht jetzt. Schon bog das Ungetüm in eine Kurve, drohte vor seinen Augen zu verschwinden. Sein Tempo war weit entfernt von einer Doppelsechs; Florio stellte sich den Schimpansen vor, wie er ihm auf den Fersen war, wie er mit gefletschten Zähnen Meter um Meter gutmachte, die Distanz zwischen ihnen verringerte, schon spürte er dessen Atem in seinem Nacken. – Das half, denn er beschleunigte, sein Puls raste, und in seinem Kopf hämmerte es. Florio sprintete, wie er es nie für möglich gehalten hätte, und dann hörte er das Quietschen, das Einsetzen der Bremsen. Der Schimpanse verschwand, der Rückstand auf die Lichter vor ihm verringerte sich, bald würde er das Klacken der Türen hören. Stillstand. Durchatmen und warten, bis die Letzten ausgestiegen waren …

Gregor trank den Wodka aus, füllte das Glas nach und hielt es ihm unter die Nase. Florio zögerte nicht, stürzte den Wodka in sich hinein, worauf sein Freund das Glas abermals füllte und sagte, dass in etwa so viel Zeit verstreiche, bis der Zug sich wieder in Bewegung setze.

… sich an der Seite hochziehen, und zwar bevor die Bahn wieder losfuhr, zur Gruppe der Verteiler, so hießen jene, die in diesen Waggons unterwegs waren, aufschließen und einer von ihnen werden. Gregor ließ das Holzfigürchen sachte ins Glas gleiten. Das geht ganz leicht, glaub mir, du wirst von den andern gar nicht beachtet werden, es sei denn, du keuchst und japst wie einer kurz vor dem Exitus.

Kein Japsen, doch in Florio rumorte es inwendig. Als habe er eben mehrere Gläser Wodka auf leeren Magen gekippt und müsse diese nun postwendend wieder freigeben. Nicht die Gläser, freilich. Und die Beine. Sie hatten gehorcht, hatten ihn bewegt. Die Seele ist ein Selbstbewegendes, ging es ihm durch den Kopf – … und du spürst also den Schmerz?

Er hätte Gregor verfluchen wollen; nein, noch war da kein Schmerz, doch Florio war sich sicher, dass dieser kommen würde, wie ihm jetzt die Stimmen durcheinandergerieten, die Stimmen und die Bilder, und da kehrte auch das Gefühl in den Waden und in den Oberschenkeln allmählich zurück. Eine Reaktion auf die Überbeanspruchung kündigte sich an, eine heftige Reaktion, und vielleicht hatte die Seele ja tatsächlich auch etwas mit Schmerz zu tun, mit Leid, mit Hoffnung, mit Trost … Wenn du dir deiner selbst gewahr bist, spürst du sie, du spürst dich, das ist dasselbe.

Florio konzentrierte sich aufs Atmen, drückte den Rücken durch, stellte sich aufrecht hin und übte den teilnahmslosen Blick. Tatsächlich gab es an dieser Station keine Kontrollen mehr, keiner wandte sich nach ihm um. Er war ein bunter Ballon, den alle sahen, der keinen störte. Er durfte jetzt nur nicht platzen. Diese Gefahr bestand jedoch nicht, das glaubte er zumindest, die Luft war raus, dennoch fand er in ein Gleichgewicht, in eine Ruhe, die womöglich nur seinem Ausgeliefertsein geschuldet war – darüber nachzudenken, fehlte Florio die Kraft. Die Reibungslosigkeit seines Unterfangens gab keinen Anlass für neuerliche Anstrengungen, weder denkend noch handelnd, er war Teil eines Prozesses, er konnte sich, wollte er die Mission nicht gefährden, nur hingeben, im Fluss bleiben, atmen und auftanken, durchatmen und Zuversicht üben, nicht wegtreten, nicht auffallen, sich treiben lassen, aufmerksam und unauffällig zugleich.

Da öffnete sich Florio durch die Waggonfenster der Blick in eine Halle, wie er noch keine gesehen hatte. Die Bahn verlangsamte die Fahrt, kam schließlich zum Stillstand. Die Höhe des Raumes verursachte ihm Schwindel. Das hintere Ende der Halle war nicht zu erkennen, die Sicht von aufeinander gestapelten Kartons verstellt, der Weg versperrt von allerlei Stoff, der an Stangen hing, Bekleidung für alle Körperpartien. Das also war eines der Warenlager, über die er bislang nur Gerüchte kannte. Irgendwoher stammten all die Dinge. Hier war einer der Orte, zu denen nur wenige Untersch Zutritt hatten. Die Verteiler, die vor ihm den Raum betreten hatten, verliefen sich, jeder schien zu wissen, wo er hinwollte, wusste, was er brauchte.

Florio blieb unschlüssig vor einem der Kartons stehen. Er war randvoll mit Schuhen gefüllt. Unterschiedliche Größen, Formen und Farben, gebrauchte und neue. Wenn er schon mal hier war, konnte er die Gelegenheit doch nutzen, sich neu auszustatten. Seine alten Treter waren zwar bequem, fielen allerdings allmählich auseinander. Er griff wahllos nach einem der Schuhe, der mit seinem Gegenstück verschnürt war. Wohl nicht seine Größe, aber in gutem Zustand. Er blickte um sich, dann langte er tiefer, die Ware schien vorsortiert, in den unteren Schichten fanden sich die leichteren, jene, die er schon immer bevorzugte. Was er beim zweiten Versuch herauszog, kam seinen Füßen schon näher, und da das, was er in Händen hielt, weit mehr herzugeben schien als das, womit er gekommen war, bückte er sich. Die Schuhe passten, und er ließ sein altes Paar achtlos in den Karton plumpsen, erschrak im selben Moment, denn neben ihm machte sich ein Buckliger an derselben Kiste zu schaffen.

Der Mann grinste, also grinste er zurück. Immer das spiegeln, was dir unerwartet entgegentritt, das war einer jener Ratschläge, an die zu halten er sich allmählich gewöhnen wollte. Es galt, den Durchgang in die andere Halle zu finden. Wie er sich vom Buckligen abwenden wollte, raunte ihm dieser ein »Allesgueti« entgegen. Florio erwiderte den Gruß, wie es sich für einen Spiegelfechtermeister gehörte, da ergänzte der andere: »chunt vu obbe, dänk!« – Waren Bucklige nicht Glücksbringer? So oder so, der Mann schien fürs Erste zufrieden und begann seinerseits, die Ware zu prüfen. Florio ging weiteren Gesprächsansätzen aus dem Weg, ließ dem Mann noch ein freundliches Nicken zukommen und tauchte tiefer in die Halle ein.

Bliebe er in Bewegung, würde er nicht mehr angesprochen, er war ein Verteiler wie jeder andere in diesen Hallen, befugt und berechtigt, auf der Suche nach der passenden Ware, er durfte sich umschauen, auch wenn er die zweite Halle nicht sogleich fände. Eile mit Weile, nur nicht im Kreis gehen, das Glück nicht unnötig strapazieren.

Florio betrat den nächsten Raum. Weiter gehen, weiter gehend die nächste Ecke meistern, darum ging es. Sein Blick fiel auf ein Rohr, das von der Decke ragte, dessen schwarze Öffnung ihn anzustarren schien. Eine schwarze Öffnung ist eine schwarze Öffnung, sagte er sich, ist ein schwarzes Loch, das mir jetzt hinterherschielt, nur schielt, blöde schielt, mich nicht aufsaugen wird.

Die letzte Kolonie

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