Читать книгу Die letzte Kolonie - Markus Bundi - Страница 9

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Florios Schluckauf hallte durch die Höhle. Natalia war im Nu wach. Ihr Liebster hatte sein Lichtlein angeknipst und leuchtete an einen bestimmten Ort, schien in der Wölbung der Grotte in einiger Distanz etwas entdeckt zu haben. »Bisch biider?« – Florio war zu keiner Reaktion im Stande, Natalia wiederholte ihre Frage, rückte zu ihm rüber, versuchte ihrerseits, etwas im schwachen Schein der Funzel zu erkennen. Doch da war nichts, nichts Außergewöhnliches. Feuchter Beton, Algenartiges und Schimmel.

Als der Schluckauf allmählich verebbte, stammelte Florio etwas von einem blinkenden roten Licht, das er gesehen habe, ganz gewiss nicht das Auge eines Tieres, weder von Ratte noch Schimpanse, ein kurzes Blinken, scharf und hart. Und er versuchte, seinen Worten Nachdruck zu verleihen, sagte: »Hami biimer!« – Überzeugend klang das in Natalias Ohren nicht. Sie forderte den Verschreckten auf weiterzuschlafen, sie würden alle Kraft noch brauchen, griff ihm ins verstrubbelte Haar und suchte mit der anderen Hand die seine, jene, die sich ans Licht klammerte.

Hatte er denn geschlafen? Florio war zu jener Zeit nicht in der Lage, immer sicher zu unterscheiden, ob er wachte oder schlief. Er befand sich in der Erweckung, so jedenfalls bezeichnete er seinen Zustand; da war ein Übergang, eine Schwelle, da hatte sich das Denken seiner bemächtigt – auf unwiderstehliche, vielleicht auf unrühmliche Art; was mit ihm geschah, unterlag nur bedingt einer Kontrolle. Ja, gewiss, er musste geträumt haben, von Schimmeltieren und blinkenden Lichtern. Das war nicht das erste Mal, seine Schlafstörungen hatten schon vor ihrer Abreise überhandgenommen. Störungen, Irritationen, Gedanken, alles einerlei und wiederum auch nicht. Florio gehorchte, das hatte er entschieden, er gehorchte sich, wann immer er zu verstehen glaubte; er ordnete die Signale, die Reize und was grad auf ihn einwirkte, erstellte Zusammenhänge, vorläufig. Erinnerung und Gedächtnis waren nicht dasselbe, das war ihm unlängst aufgegangen, obwohl ihm die Klarheit für dieses Verständnis noch fehlte.

Als spräche sie mit einem verängstigten Kind, wirkte Natalia auf Florio ein, der darauf bestand, nicht geträumt zu haben, vielmehr habe ihn die Erinnerung gepackt, wie er das erste Mal zum Alten aufgebrochen sei. Hätte er bessere Worte dafür gefunden, Florio hätte seiner Liebsten berichtet von diesem Zustand, der ihn zu zerreißen drohte, er war bei sich und außer sich zugleich, befand sich in einem Strom, gehorchte einer Ahnung, ohne Worte, aber mit Zuversicht.

Sie setzte sich aufrecht neben ihn, legte den Arm um seinen Nacken, strich ihm die Wirbelsäule entlang über den Rücken, um die Starre zu lösen; instinktiv hatte sich Florio geduckt, vor der Gefahr klein gemacht. Er versuchte zu atmen, regelmäßig ein- und auszuatmen, den Schluckauf fürchtend, die Fortsetzung suchend.

Sie drückte ihm sanft aufs Kreuz, nuschelte ihm Koseworte ins Ohr, immer wieder »Flöru«, damit er sich aufrichtete, den Kopf hob, flüsterte weiter und wechselte zu klar umrissenen Wörtern, forderte ihn auf zu erzählen, jene Geschichte zu erzählen, die ihm wieder hochgekommen war, von der ersten Begegnung mit dem Wassermann. Natalia hatte den Alten selbst nie zu Gesicht bekommen, ein sagenumwobener Mann, dem Vernehmen nach der älteste, der in der angrenzenden Charge und vielleicht überhaupt lebte.

»Schlemihl! Ich habe dich erwartet! Tritt ein.« Mit diesen Worten habe ihn der Wassermann empfangen, damals. Florio begann, Natalia vom Stück zu erzählen, das Gregor und er noch aufgeführt hatten. Darin sei es um einen Mann gegangen, eben Schlemihl, der seinen Schatten verloren, unbedacht weggegeben hatte. Der Alte, fuhr Florio fort, musste eine der Aufführungen im Spect gesehen haben, und er habe ihm zu verstehen gegeben, dass es keine richtigen Namen gebe. Gregor habe den grauen Mann gegeben, der Schlemihl den Schatten nahm.

Als Florio ins Erzählen zurückgefunden hatte, gelang es Natalia, das Lichtlein wieder auszumachen. Kein Licht mehr, nur die Stimme Florios. Die Berührungen und die Wärme. So fanden sie zueinander, immer und immer wieder, so hatten sie sich gefunden, aneinander gewöhnt – und wollten nicht mehr voneinander lassen. Natalia hatte von den Büchern gehört, die Gerüchten zufolge im Umlauf waren, und Florio bestätigte ihr, dass der Alte eine Sammlung davon besessen, Gregor das Lesen beigebracht habe, nicht nur einzelner Wörter, ganzer Texte. Alte Geschichten von jenem wundersamen Ort, Geschichten von oben.

Florio erzählte, wie Schlemihl sich nur noch in der dunkelblauen Phase im Spect bewegen konnte, denn niemand durfte den fehlenden Schatten bemerken. Dann aber verguckte er sich … in Mina, so richtig, so heftig, und »chaschder vorschtelle, vuwäge bono-bono!« Und er habe, also Schlemihl, dringlichst seinen Schatten wieder gebraucht. Die Szene an der Theke müsse dem Alten besonders gefallen haben, denn dort begegneten sich der graue Herr Gregor und Schlemihl Florio wieder – das Feilschen um den Schatten begann.

Der vielgelobte Geschichtenerzähler des Spect war alles andere als im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, erzählte lediglich in Fragmenten, doch Natalia wusste auch so, worauf die Geschichte hinauslief: Es ging ums Anderwasser. Florio erzählte weiter vom Helden Schlemihl, der sich das Wasser vom grauen Herrn nicht habe abgraben lassen. Zur Verblüffung aller habe Schlemihl, also er, den grauen Gregor auf seine magischen Turnschuhe aufmerksam gemacht. Denn mit diesen Tretern würde er allen den Rücken kehren und nach oben gehen – nicht mit Mina, sondern mit …

Da mischten sich die Zeiten, die Ereignisse purzelten ineinander. Dafür liebte Natalia Florio, und sie reagierte aufs Stichwort, drückte dem Mann einen Kuss auf die Wange und hauchte ihm das Zauberwort ins Ohr, ihren Namen. Es war das Mittel, das eine Fortsetzung versprach, sie beide den glücklichen Ausgang würde finden lassen. Und für Florio war es weit mehr als ein Mittel, es war zugleich die Aufforderung gewesen, sich erneut dem Schlaf zu ergeben.

Den Kopf an seine Schulter gelehnt, tauchte Natalia wieder weg. Florio blieb nichts anderes übrig, als sie sanft in ihre Liegeposition zurückgleiten zu lassen. Den Tumult im eigenen Kopf war er nicht losgeworden. Mochte das rote Licht auch seiner Einbildung entsprungen sein, er fand den Ausgang aus der Geschichte nicht. Sie steckten in dieser Höhle fest. Er, Natalia und … nein, er war nicht Schlemihl, doch dessen Geschichte, so, wie sie Gregor für die Inszenierung im Spect aufbereitet hatte, war an ihm haften geblieben. Du folgst einem Schattenspiel, du führst ein Selbstgespräch, du drehst dich im Kreis, und der Schatten ist weg, die Stimme versagt, drehst dich zurück, setzt auf Anfang und sprichst erneut. Fang den Hut! – Niemand umzingelt dich so gnadenlos wie du dich selbst.

Ich bin meine Vorstellung. – Das waren nicht Gregors Worte, das war er selbst. Gewiss wüsste Manipeter auch darauf ein Lied anzustimmen. Und Florio summte leise mit.

»Alle Getränke sind mit Wasch versetzt, anders geht es nicht.« – Die meisten Begriffe, die der Wassermann verwendete, hatte er damals nicht verstanden. Gewisse Aussagen blieben Florio schleierhaft, wie zum Beispiel, ohne die Zusätze würden die Untersch bald schon abdrehen, doch nicht alle beigemischten Stoffe seien für das Überleben notwendig. Einige hemmten das Denken, andere würden Glücksgefühle befördern: »Faktisch werdet ihr alle unfruchtbar und in einem fröhlichen Dämmer gehalten. Deine Neugier allerdings ist außergewöhnlich.«

Florio hatte dem Alten damals erklärt, er habe mit dem Anderwasser zur selben Zeit begonnen wie Gregor. Ein Lachkrampf folgte, eine Verkrümmung, die der Alte vor Florio nicht zu verbergen vermochte oder nicht verbergen wollte. Er selbst war zu jener Zeit in der Sprache des Wassermanns noch zu wenig geübt, er hätte gern nachgefragt, war aber auch so überfordert von den Eindrücken, die er an diesem Ort sammelte. Das war keine der üblichen Kammern, hier war Platz für weit mehr als Schlaf und Erholung.

»Und, keine schlechten Gefühle?« – Die Frage zielte auf seinen Konsum des Anderwassers. Florio berichtete von den Erfolgen beim Spiel, gab seine gesteigerte Lust zu, die sich im Verlauf der Phasen zu einer Sucht auswuchs, bono-bono, hellblau oder dunkelblau. Zorn und Niedergeschlagenheit, Schlafstörungen, Sinnesirritationen. Bilder hätten sich übereinandergeschoben, geblendet sei er zeitweise gewesen, überempfindlich, dann wieder unempfindlich, hoch und runter, rein und raus. Zum ersten Mal in seinem Leben habe er eine Prügelei angezettelt und dann auch nicht zurückgesteckt, ausgeteilt, eingesteckt, sich nicht mehr gespürt, sich zu sehr gespürt. Das Schreien und das Wimmern in seiner Kammer, ungekannte Laute, die aus ihm hervorgebrochen seien, leise, zittrig, begehrend und aufbrausend, dann wieder kleinlaut, jammernd, flehend. Er erzählte, wie ihm das Echo der Wände zuweilen entgegenschlug, ihn durchwirkte, kleinmachte und ihm wieder Mut einflößte, ihn barg und wiegte, sodann wieder aufrieb und durchschüttelte.

Florio räumte ein, seither mehr bei sich zu sein, alles in allem, allen Verquerungen und Widersprüchen zum Trotz, auch schneller, der Kopf zumindest, der Körper rebelliere manchmal, alles, alles gerate zuweilen in Aufruhr … als überhole er sich selbst, er dem Wodka deswegen häufiger zuspreche als früher, weil sich dann die Zeit wieder verlangsame, er zurück in den Takt fände – oder völlig aus dem Tritt gerate. Und weil sein Gegenüber schwieg, erzählte Florio auch von den Verzerrungen, mit denen er anfangs zu kämpfen hatte: die eigentümliche Ballung von Zeit, dieses Bewusstsein, das Bewusstwerden eines jeden Augenblicks. Wie jedes einzelne Ding seine Aufmerksamkeit erregte, alles um ihn herum vor Energie strotzte, ihn ansprach, herausforderte und vereinnahmte. Auf wundersame Weise habe sich dank des Anderwassers die Konzentrationsfähigkeit gesteigert, einzig Gregor sei im Stande gewesen, diesen Wandel, diese Verwandlung zu verstehen.

Florio hob den Kopf, wagte einen Blick in die Richtung, von wo es ihm rot entgegengeblinkt hatte. Nichts. Kein Schimpanse, keine Ratte. War er bei sich, ließen sich die Vorstellungen ordnen, abgleichen mit dem, was war. Empfindlichkeit und Empfänglichkeit, das ist das Erwachen. – Gregors Worte.

Natalia schlief, sie schlief tief und fest, unangefochten; nur ein gutes Wesen konnte sich so hingeben. Und weil sie das bei ihm konnte, an seiner Seite, auch an diesem unwirtlichen Ort, konnte er nicht gänzlich auf der falschen Spur sein, obschon er nur einer Ahnung folgte, seiner inneren Stimme, die doch fest verankert war, aus einer Gewissheit heraus zu ihm sprach, die er, einmal zur Ruhe gekommen, nicht weiter hinterfragen mochte.

Ein skurriler Wasserhändler mit verätztem Gesicht, mehr hatte er in dem Mann zunächst nicht gesehen. Dieser Alte konnte bedrohlich die Stirn runzeln, das aber konnten andere auch. »Ich habe die heutige Wasch-Formel mitentwickelt«, sagte er irgendwann, zog eine kleine Apparatur aus der Hosentasche, drückte auf einen der Knöpfe, und die Wand vor ihnen bewegte sich leise surrend zur Seite.

»Unsere Versorgung ist bis heute eines der bestgehüteten Geheimnisse. Das Wasser ist unser Lebenselixier, wie du weißt, und so galt es, alles, was unserem Fortbestehen und einem reibungslosen Zusammenleben förderlich ist, beizumischen. Mein Bruder und ich arbeiteten mit Feuereifer an der Verbesserung der Formel. Doch je zufriedener die Untersch zu sein schienen, desto skeptischer wurden wir. Eine unerwartete Trägheit stellte sich ein, die Leute begannen zu degenerieren. Wir kamen zu dem Schluss, dass Unglück und Angst wesentliche Antriebe unseres Forschens und Schaffens sind, die Bedingung jeder Neugier, jeden Fortschritts. Ohne Tiefen gibt es keine Höhen, kein Glücksgefühl. Das Staunen erstarb. Deswegen starteten wir ein zweites Projekt, entwickelten im Verborgenen die Formel für Anderwasser, das die physischen Bedürfnisse abdeckt, die Fortpflanzung nicht weiter verhindert, die Psyche aber weniger beeinflusst.«

Während der Alte sprach, sie waren inzwischen im hinteren Raum angelangt, hantierte er an allerlei Geräten, und als er seinen Vortrag unterbrach, den Blickkontakt mit Florio Schlemihl suchte und noch immer die Fragen sah, die dieser nicht zu stellen vermochte, lenkte er seine Schritte zu einem Becken hin und drehte den darüber angebrachten Hahn auf. »Komm! Was du hier siehst, ist natürliches, unbearbeitetes Wasser. Nimm einen Schluck!«

Florio hatte sich zur Zurückhaltung gemahnt, bevor er jedoch die Kontrolle über sich fand, hatte er eine Handvoll zum Mund geführt – und stellte verblüfft fest, dass es nach nichts roch! Der Alte nickte, lächelte. »Ja, das ist reines Wasser, besser geht’s nicht. Aber dein Körper braucht auch Vitamine, in den Pilzen ist kaum etwas drin, auch nicht im Einerlei. Darum die Aufbereitung, verstehst du?«

Später, es war ihr drittes oder viertes Treffen, hatte Florio erfahren, wie der Wassermann zu seinem verätzten Gesicht gekommen war. Ein Unfall. Eigentlich ein Glücksfall sei es gewesen, ansonsten wäre er längst in den Produktionshallen gelandet. Dort, bei den Pilzern, das wusste Florio, wurde keiner alt. Die Brüder waren unvorsichtig geworden, glaubten, die andern überzeugen zu können, dass man mit dem Zudröhnen der Untersch aufhören musste. Doch die Goner und ihre Oberen hatten nie bahnbrechende Entdeckungen erwartet, sondern reibungslose Abläufe, friedliches Beisammensein ohne Aggressionen, arbeitsame Untersch, psychisch einwandfrei.

Registriert war nur einer der Brüder gewesen, einer der Zwillinge. Die beiden lebten zu zweit das Leben von einem, ein Umstand, den sie, wie der Alte erzählte, einer weitsichtigen Ärztin zu verdanken hatten. Erst habe diese damit gerechnet, dass nur einer der schwachen Säuglinge es schaffen würde, nachdem sie aber beide durchbrachte, sah sie, welche Möglichkeiten sie den Jungs mit ihrer Eintragung eröffnete. Als der Bruder eines Tages nicht mehr zurückkam, wusste er sogleich, sie hatten ihn geholt, zu den Pilzern oder Tofflern in die Produktionshallen beordert oder gleich um die Ecke gebracht: »An eine andere, eine glückliche Fügung konnte ich damals nicht glauben.«

Nur wenige Tage später ging ein Experiment schief, und es sei aus gewesen mit der glatten Visage. Seither aber könne er wieder unter die Leute. Hätte er sein altes Gesicht behalten, er wäre früher oder später aufgeflogen. »Den Rest kannst du dir ja denken. Das war Vorsehung, mein junger Schlemihl, oder ganz einfach Glück, doppeltes Glück, wie sich dann herausstellte!«

Was Florio damals nicht ahnte: dass der Alte einmal selbst ein Goner war. Allein die vermeintliche Tatsache, dass es so etwas wie Zwillinge geben sollte, beschäftigte ihn mehr als genug. Doppelgänger, die gab es, zumindest auf den ersten Blick; Gestalten, die sich in ihrer äußeren Erscheinung sehr ähnlich waren. Was aber der Wassermann erzählt hatte, ging weit über ein Versehen hinaus – und sprengte seine Vorstellungskraft.

Gregor hatte Florio im Ungewissen gelassen, ihm kaum etwas von den Zusammenhängen eröffnet. Kein Wort davon, dass sie sich seit Generationen in einer großen unterirdischen Kolonie befanden, dass es dieses Oben tatsächlich gab, wo sich Menschen aufhielten, zu denen letztlich auch sie, die Untersch, gehörten. Was ihm der Wassermann nach und nach offenbarte, drohte Florio zu erdrücken. Seine kleine Welt geriet aus den Fugen, verdoppelte sich schlagartig. Zum unübersichtlichen System der einzelnen Chargen, deren genaue Zahl kaum jemand kannte, war eine Welt oberhalb hinzugekommen, eine Oberschicht, die einst entschieden hatte, eine unterirdische Kolonie zu begründen, eine Arbeitskolonie.

»Das Rätsel des Lebens wirst auch du nicht ergründen, fürchte ich, mit den Grundlagen aber solltest du dich vertraut machen.« Der Alte hatte ihm ein erstes Buch zur Lektüre anvertraut, einen Biologie-Kurs, angereichert mit vielen Illustrationen und noch mehr Text. Erst verstand Florio nahezu nichts, doch sein Ehrgeiz war angestachelt. Er wollte, wie der Wassermann es ausgedrückt hatte, den Schlemihl zum Leben erwecken. »Ohne Schatten gibt es keine Geschichte, und die Schatten der Untersch, das sind die Menschen.«

Man hatte ihn und alle in der Kolonie, oder fast alle, dumm gehalten, mit Wasch zugedröhnt, gefügig gemacht und von Buchstaben ferngehalten. Sein Rückstand, das wusste Florio, würde kaum aufzuholen sein.

Allmählich begriff er den Menschen als Schlauch, als Stoffumwandlungsschlauch. Flüssigkeiten und Einerlei, dieser Tofflerbrei, wurden durch den Mund eingeführt, im Schlauch verarbeitet, sodass der Untersch stehen und gehen konnte, und der Rest kam unten wieder raus. Intuitiv hatte Florio das längst verstanden, nun gewann er Einsicht in die konkreten Abläufe, erarbeitete sich Kenntnisse über die Organe, die inwendig ihre Aufgabe erfüllten, über Haut, Knochen und Muskeln, Stoffwechsel und Fortpflanzung, Zucker und Salz, Steißlage und Zwillinge. Und er lernte auch diese Sprache, die ihm zwar zunächst unnötig kompliziert und gewunden erschien, jedoch reicher war als das, was er kannte, und deshalb eine höhere Präzision ermöglichte. Was sie unten in den Chargen sprachen, kam ihm je länger, desto mehr wie eine Kindersprache vor, der Buchsprache zweifellos verwandt, jedoch verwaschen, fließender zwar, jedoch unscharf. Gut zum Austausch von Selbstverständlichkeiten, noch besser im Zudecken von Unklarheiten, wenig tauglich für brennende Fragen, geschweige denn für Antworten.

Wieder und wieder las er vom Sonnenlicht, dieser magischen Lichtquelle, die über allem thronte, die Leben schenkte, die im Zusammenspiel mit dem Wasser, dem reinen Wasser, die Oberfläche einer Kugel belebte, einer Kugel, in deren Innerem sie sich befanden, gefangen gehalten wurden. Sie alle litten an Vitamin-D-Mangel, weil das eine große Licht nicht bis zu ihnen in die Tiefe drang. Das Wort »natürlich«, wie Gregor es oft und gern verwendet hatte, eröffnete sich Florio nach und nach in ungeahnten Dimensionen. Die eigene Natur wurde ihnen hier unten vorenthalten, man beugte sie, man knechtete sie, und er stieß auf das Wort »Kultur« und auf immer neue fantastische Geschichten.

Der Alte hatte ihm präzise Informationen gegeben, zu welchen Zeiten das Anderwasser aus der siebten Öffnung der Quelle des Ursprungs sprudelte, immer zu Beginn der Hellblauphase, immer dann, wenn oben der Tag begann, wenn oben die Sonne aufging. Anderwasser für einen kleinen Kanister, fünf Liter. Damit galt es hauszuhalten. Wie Gregor es geschafft hatte, im Spect größere Reserven davon anzulegen, blieb Florio ein Rätsel. Wahrscheinlich hatte der graue Herr über mehrere Quellen verfügt. Wenigstens hatte er vom Alten erfahren, wie sie nun wieder zu Anderwasser kamen, immerhin zu so viel, wie Manipeter und er für den täglichen Gebrauch benötigten.

Die letzte Kolonie

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