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3. „Bonanzarad“

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Die beiden Jungs von „Miami Vice“ haben uns in den 80ern in Sachen Mode eigentlich alles versaut, was es zu versauen gab. Mit diesen aufgekrempelten Ärmeln an den Sakkos und den monströsen Schulterpolstern oder mit dieser lächerlichen, dünnen Lederkrawatten zu den pastellfarbenen Hemden, sahen wir zwar aus, wie Einser-Abiturienten oder Muttis Lieblinge. Aber sie haben uns damit jeder Chance beraubt, heute auf Familientreffen Bilder von damals an zu schauen, ohne einen Blutrausch in den Augen zu bekommen. Gleichwohl sprang Kommissar Schimanski vom „Tatort“ für uns in die Bresche. Ein Beamter der Polizei, der nicht im gepflegten Zweireiher auf Arbeit kam, sondern die Chuzpe besaß, in einem Bundeswehrparka nach Dieben und Mördern zu ermitteln. Ich meine, der „Tatort“ war die hohe Schule der Sonntagabendunterhaltung. Die halbe Bundesrepublik saß sonntagabends um viertel nach Acht vor den Empfangsgeräten und schaute den „Tatort“. Man wollte seriöse Kommissare sehen, die gewohnt professionell ihre Fälle lösten. Man wollte keinen schnoddrigen Polizisten sehen, der sich im abgewetzten Parka über tote Körper beugte. Einen Bundeswehrparka hatte damals jeder, er galt aber eigentlich als uncool.

Die Coolsten von uns trugen auch in unseren sibirischen Wintern immer noch Sommerjacken. Was daran cool war, kann ich nicht sagen, mal abgesehen davon, dass wir uns jeden Morgen mit ewigen Diskussionen bei unseren Müttern durchsetzen mussten. Aber offensichtlich waren wir bereit dazu, uns im Winter den Arsch abfrieren. Und was wir damals noch für Winter hatten oder? Ich kann mich erinnern, dass ich einmal bei -21 Grad mit dem Fahrrad in die Schule geradelt bin. Natürlich nicht mit einer Sommerjacke. Wir wollten cool sein, aber nicht als doof gelten. Mit Parka, Handschuhen, Mütze und einem Schal, den ich mir vor Mund und Nase wickelte, weil es so kalt war, dass man kaum die Luft atmen konnte, strampelte ich eine gute halbe Stunde in die Schule. Das rettete mich wahrscheinlich vor dem Kältetod, hatte aber mit Sicherheit nichts Modisches oder Hippes an sich. Herr Schimanski, alias Götz George machte dann den Bundeswehrparka wieder salonfähig. Wenn Schimmi ihn trug, konnten wir ihn auch tragen. Schimmi war cool. Auch bei uns Jugendlichen. Er traute sich so Sachen wie „Scheiße“ und „Leck mich am Arsch“ im Fernsehen zu sagen und so was sagte man in den Augen unserer Eltern nicht im Fernsehen. Schimmi schon. Darum war er cool. Ergo war auch der Parka cool. Im Grunde also eine klassische Win-Win-Situation. Ansonsten unterlag man zu der Zeit keinem „Modediktat“, das uns mehr oder weniger vorschrieb, was wir zu tragen hatten. Natürlich gab es schon unterschiedliche Gruppierungen, zu denen man sich mehr oder weniger hingezogen fühlte. Aber der Einzelne war doch wichtiger und stand über rein optischen Merkmalen. Man trug einfache, unifarbene Hemden und dazu eine schwarzen Anzugweste von Opas altem Anzug oder wahlweise von der Mutter oder der Oma selbst gehäkelte Pullover. Pink-schwarz gestreifte Röhrenjeans, bei denen ich bis heute nicht weiß, wie ich da rein gekommen bin. Wahrscheinlich hat man mich mit so einer Weihnachtsbaum-Netzmaschine rein geschossen oder die Hose um mich herum genäht. Grüne Bomberjacken mit orangenem Innenfutter waren modern. Obwohl wir wussten, dass grüne Bomberjacken eigentlich Problemjacken, weil „gefährliche“ Jacken waren, weil sie bevorzugt von Skinheads getragen wurden Keiner von uns wollte für einen Pimmelkopf gehalten werden oder von ihnen Prügel kassieren, weil man ihre „Vereinskleidung“ trug. So was war tatsächlich möglich. Mir wurde in unserer Eishalle „Einmal Fresse Polieren“ angeboten, weil ich mir ein paar Lederhandschuhe, die ich mir zum Schutz mitgenommen hatte, so halb in die Hosentasche steckte und sie halb heraushängen ließ. Das sei das Erkennungszeichen der „Gang“, so wurde mir von einem der Mitglieder erklärt und man mochte nicht, wenn so Lappen wie ich, die Handschuhe so in der Tasche hätten. Die „Gang“ war der Inbegriff der Aschaffenburger Bandenszene, die sich selber gerne auf gleicher Stufe wie die „Bloods“ oder die „Crips“ aus South Central L.A. sahen. In Wahrheit trugen sie aber alle nur die gleichen Jacken, lungerten auf dem Bahnhofsvorplatz herum und genossen ihr gefährliches Image. Ja, dass mochte ich dann aber irgendwie nicht, dass man dachte, ich würde zu einem Haufen Jungs dazu gehören, die gar nicht das waren, was sie vorgaben zu sein. Wie blöd wäre das denn gewesen?

Nach langen und endlosen Diskussionen mit meiner Mutter, durfte ich mir dann endlich eine schwarze Bomberjacke kaufen. Allerdings mit gelbem Innenfutter. Zog ich die Jacke auf links, sah ich aus, wie ein Gelber Engel des ADAC. Meine Bomberjacke war also alles andere, als cool. Weiße Tennissocken waren auch ein modisches Must have. Heute nur noch ein Privileg sandalentragender Pauschaltouristen. Weiße Tennissocken. Schlimm oder? Zum Sport natürlich auch heute noch völlig ok. Ach und selbstverständlich hatte man noch einen „Atomkraft? Nein danke“-Button“ am Kragen. Adäquat dazu gab es rot-weiß oder schwarz-weiß gemusterte Palästinenser-Tücher um den Hals gewickelt. Unsere Füße steckten entweder in Chucks, meistens aber in Adidas-Turnschuhen.

Liebe Kids im Jahre 2014/15. Chucks sind keine Erfindung von Euch. Die gab es und jetzt haltet euch fest, vor 60 Jahren schon. Sie sind also uralt. Converse waren in den 50ern Turnschuhe, die jeder Schüler beim Schulsport an hatte. Anstatt Eure Eltern immer als uncool oder peinlich zu bezeichnen, solltet Ihr vielleicht mal in deren Kleiderschränken nachschauen. Ihr werdet euch wundern, wie viele coole Klamotten da drin sind. Alles, was Ihr anhabt und was heute cool ist, gab es nämlich schon mal vor 50-60 Jahren. Man trug früher auch schon Flip-Flops. Nur sagte man da Klapperlatschen zu und sie waren aus Holz. Jetzt erleben die Klapperlatschen ihre Renaissance aus Gummi, oder Leder, aber es ist eine Erfindung von „uns“. Versteht Ihr? Von uns. Apropos Flip-Flops. Was machen eigentlich Menschen mit zwei linken Füßen? Kaufen die sich zwei Flip-Flips oder was?

Aber zum Thema Flip-Flops muss ich Ihnen jetzt mal was sagen.

Und das ist mir ein ehrliches Anliegen. Liebe Flip-Flop tragenden Männer. Flip-Flops sind keine und ich werde nicht müde, das zu wiederholen, KEINE Männer-Schuhe. Bei Frauen sieht das ja noch irgendwie sexy aus. Bei Frauen sind wir es aber gewohnt, dass sie offene Schuhe tragen. Wir Männer sollten das nicht tun. Als Kind war das ja ok und ging wohl auch nicht anders, weil Mutti uns die Klamotten raus legte. Mutti hatte die Macht, uns zu zwingen, lange Unterhosen, Rollis mit kratzendem Kragen, gelbe Pullunder und Moonboots anzuziehen. Sie hatte aber ebenfalls die Macht, uns Hausarrest zu geben. Also eine recht schlechte Verhandlungsbasis für uns. Aber heute hat Mutti keine Macht mehr über uns. Selbst Camper tragen nur noch sehr selten Flip-Flops.

Wenn sie zum Beispiel morgens aus dem Sanitärgebäude kommen und im Campingplatzkiosk noch fünf Schrippen zum Frühstück kaufen, tragen sie lieber diese Clogs. Es gibt eigentlich nur eine einzige Situation, zu der es akzeptiert ist, Flip-Flops zu tragen. Wenn Camper mitten in der Nacht auf die Toilette müssen und der Wohnwagen über keines dieser Chemieklos verfügt. Dann und nur dann, kann man in Flip-Flops schlüpfen und zur Toilette gehen. Aber das war es dann auch schon. Niemand möchte ungepflegte, nackte Männerfüße in Flip-Flops sehen, ok? Weder in stylischen Leder-Flip-Flops, noch in jugendlich bunten Gummi-Flip-Flops. Was soll das denn bitte? Ein Mann mit freiem Oberköper und Flip Flops in der FuZo? Das sieht aus, als würde er gerade runter zum Strand latschen. Fehlt nur noch das Badehandtuch, lässig über die Schulter gelegt, ein Sommerstrohhütchen aufm Kopp und ne Kühltasche. Wir befinden uns hier aber in einer Fußgängerzone und nicht aufm Campingplatz oder am Strand. Nein, nein, nein. Schluss. Aus. Niemand will das sehen. Männer tragen feste Outdoorschuhe, mit grober Sohle, mit denen man stante pede die Eiger Nordwand besteigen kann. Aber keine popligen Gummilatschen. Das ist albern. Ihr seid Männer, ok? MÄNNER. Und Männer tragen keine Campingplatz-Nachts-zum-Pickeln-geh-Latschen.

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Fahrradfahren war auch schon mit dreizehn Jahren nicht einfach nur Fahrradfahren. Die Auswahl an verschiedenen Fahrrädern war sicherlich nicht so umfangreich, wie das heute der Fall ist. Es gab kein Mountainbike mit Scheibenbremsen, geschweige denn ein Fully oder Hardtail. Es gab kein All Terrain Bike mit 21-Gang-Schaltung, Hydraulikbremse und Doppelbrückenfedergabel, keine Dirtbikes und keine Fixies. Was auch immer das sein mag? Ich kenne den Name „Fixies“ nur als Markenname für Babywindeln. Grundsätzlich unterschied man die Fahrräder mal in die Räder für uns, also, wir 13-jährigen Burschen und in die Fahrräder für die Großen. Verstand ich zwar nicht, denn das Rad meiner Schwester sah doch genauso aus, wie meins. Es hatte zwei Reifen, einen Sattel und einen Lenker. Der ganze Rest, den ein Fahrrad zu brauchen schien, war auch dran. Wo war der Unterschied? Dann könnte ich doch ein Fahrrad für Große haben. Wo war mein Fahrrad für Große? Es gab einfach nur ganz normale Damen- und Herrenräder. Die Dynamos funktionierten nicht richtig, wenn es regnete und die Vorderradbremse verweigerte nahezu völlig ihren Dienst, wenn die Felge nass war. Irgendwie fuhr man sich ständig irgendwelche spitzen Teile durch den Mantel und den Schlauch und immer wieder vibrierten einzelne Schrauben ab, weshalb Schutzbleche oder Gepäckträger abfielen. Wir Jungs bauten uns dauernd sogenannte Cross-Räder zusammen. Wir suchten uns dazu einzelne Fahrradteile vom Sperrmüll zusammen. Einen Rahmen fand man immer vor irgendeinem Haus liegen, zwei Räder dazu, einen möglichst breiten Lenker und fertig war das Cross-Rad. Das Ganze war der Vorgänger von den BMX-Rädern. Oh Mann, waren wir neidisch auf die Jungs, die damals schon echte BMX-Räder hatten. Die Mädchen hatten diese bunten Gummibänder oder Gumminetze links und rechts an den Hinterrädern, damit sich ihre Röcke nicht in den Speichen verfingen. Die Jungs pimpten ihre Fahrräder mit diesem legendären rechteckigen Tacho von VDO mit den gelben Zahlen. Der kostete damals schon satte 70 DM! Wow. Überhaupt waren Tachos damals der Inbegriff vom coolen Fahrrad. Ein Fahrrad ohne Tacho war gar nichts Wert. Wenn ein Junge dann ein Fahrrad für die Großen bekam, war das ein Rennrad mit Kettenschaltung. Fünf oder zehn Gänge. Mehr gab es damals gar nicht. Camper fuhren Klappfahrräder. Oma und Opa diese schwarzen Uralt-Räder, die vermutlich aus alten Panzerrestbeständen gefertigt wurden. Mit der Vorderradbremse wurde da ein massiver Gummiblock zum Bremsen auf das Rad gepresst. Mit so einem Fahrrad im Regen zu fahren, war eher etwas für einen ausgebildeten Stuntman. Ich konnte verstehen, warum Jungs Rennräder fuhren. Weil sie mit den chromblitzenden Rädern bei den Mädchen Eindruck machen wollten. Ich konnte verstehen, warum Camper Klappfahrräder fuhren. Weil sie es zusammenklappen und in den Wohnwagen legen konnten. Ich konnte verstehen, was diese Gummibänder an den Mädchenfahrrädern sollten und ich konnte verstehen, warum man im flachen, rauen, windigen, regnerischen Holland ein massives Holland-Rad fuhr. Was ich allerdings überhaupt nicht verstehen konnte war, warum einige Menschen hier in unserem schönen, schon leicht hügeligen Tor zum Spessart, wo es immerhin Berge mit bis zu 800 Metern Höhe gab, eins dieser kackschweren Holland-Räder fahren wollten? Der damalige Ferrari unter den Fahrrädern war das „Bonanzarad“. Ach, was sag ich. Es war der weiße „James Bond-Lotus“, nein, es war der fliegende „Zurück in die Zukunft-DeLorean“ der Fahrräder. Ein Bonanzarad war das Non plus ultra unter uns Jungs. Eigentlich war Bonanza ja der Markenname und das Rad sollte unter dem Begriff „Polorad“ eingeführt werden, was sich aber nie durchgesetzt hat. Darum blieb man eben bei dem Namen „Bonanzarad.“ Das „original“ Bonanzarad war orange oder rot. Charakteristisch für diese Räder war der Bananensattel, der das Gefühl vermitteln sollte, mal ganz locker sein „Mädchen“ mit auf eine Tour nehmen zu können. Da war aber eher der Wunsch der Vater des Gedanken.

Bei uns scheiterte diese Idee ganz einfach daran, dass wir a) schlicht und ergreifend kein „Mädchen“ hatte, wir b) die Lust dazu gar nicht hatten, ein „Mädchen“ mit auf Tour zu nehmen und c) wegen der ungünstigen Gewichtsverteilung das Fahrrad einfach nach hinten gekippt wäre. Das war nämlich der große Nachteil, weswegen diese Fahrräder bei unseren Eltern gar nicht so gern gesehen waren. Wenn man ganz hinten auf dem Bananensattel saß, lag der Schwerpunkt leicht hinter dem Hinterrad und die Gefahr bestand, beim Anfahren mit dem Rad nach hinten zu kippen. Es gab eine Rückenlehne aus verchromtem Metall, die einen eben genau dazu verleitete, ganz nach hinten zu rutschen und sich ganz cool an die Lehne zu lehnen. Jeder von uns Bonanzarad-Rockern hat mindestens einmal beim Anfahren einen ziemlich uncoolen Abgang über das Hinterrad gemacht und sich dafür in Grund und Boden geschämt. Die gesamte Optik des Fahrrads war ja so ein bisschen an das Aussehen eines Choppers angelehnt. Einen Chopper, wie ihn Peter Fonda im Film „Easy Rider“ fuhr. Darum gab es noch eine Imitation einer Federung an der Vorderradgabel, die so aussah, wie eben die Federgabel eines Choppers und den obligatorischen hoch nach oben gezogenen Lenker. Eigentlich sollte am Lenker noch der obligatorische Fuchsschwanz hängen, aber das war zumindest mir dann doch ein bisschen zu viel des Guten. In der Mitte der Stange vom Sattel zur Gabel prangte noch die High-Tech-Drei-Gang-Hebel-Schaltung. Ich denke, sie sollte vielleicht so ein bisschen den Eindruck eines Tanks und der Armaturen eines Motorrades vermitteln, sah aber eigentlich mehr wie der Schalthebel eines Autos aus. Landläufig sagte man zu der Schaltung immer nur „Pornoschaltung“, weil sie zwischen den Oberschenkeln angebracht war. Fragen Sie mich nicht, wo da die Verbindung lag? Ich weiß es nicht. Es gab den ersten, zweiten und den dritten Gang und zwischen zweitem und drittem Gang, gab es noch einen Leerlauf. Und dieser Leerlauf brachte dieser Schaltung auch den Namen „Selbstmordschaltung“ ein. Wie es zu diesem Namen kam, kann ich Ihnen aber sehr wohl erklären. Wenn man beim Beschleunigen im Stehen fuhr, konnte man aus Versehen mit dem Knie an den Schalthebel kommen und ihn vom dritten Gang, in die Leerlaufstellung schieben. Dadurch rutschte man schön geschmeidig durch und kloppte sich an der Mittelstange die Nüsse auf. Aber so was von. Gell, das tut schon alleine vom Lesen weh, meine Herren? Muuuaharhar. Diesen, nennen wir es „Fehler“, machte jeder von uns. Einmal. Mindestens einmal. Alleine die Erinnerung an den Schmerz verhinderte in aller Regel aber, dass das öfters vorkam. Der Erstkontakt zu alkoholischen Getränken fand auf Geburtstagspartys statt. Gut getarnt in der süßlich schmeckenden Erdbeerbowle, die mit Einwilligung der Gastgebereltern zubereitet wurde. „Kann ja nicht viel passieren“, dachten die Eltern. „Eine Flasche Sekt auf fünf Liter Bohle. Außerdem sind wir ja da.“ Da es wie gesagt der Erstkontakt zu Alkohol war, wurden diese fünf Liter Bohle bis auf den letzten Tropfen weg gesoffen und die Ersten lagen um elf Uhr über den Jägerzaum gelehnt und kotzten die Erdbeerbowle in den Garten der Gastgebereltern. Hätte man ahnen können. Die, die wirklich abstinent blieben, tranken Coca Cola aus Dosen. Und zwar die, bei denen man noch den Verschluss wegschnippen konnte. Heute nur noch als Restbestände im Ausland zu erhalten. Wir lümmelten auf Knautschsäcken herum, aus denen man nie mehr so geschmeidig aufstehen konnte, wie man sich hinein fläzte. Man paddelte wie ein Käfer, der auf dem Rücken lag, mit allen Vieren herum und musste sich zur Seite herausrollen. Erst dann konnte man aufstehen. Schon damals eine eher peinliche Aktion. Männer meines Alters setzen sich heute nicht mehr in Knautschsäcke. Auch wenn es zum Beispiel zum Lesen sehr gemütlich ist. Heutzutage würde uns aber die freiwillige Feuerwehr mit einem riesigen Brecheisen aus dem Sitzsack stemmen müssen und dieser Peinlichkeit setzen wir uns nicht aus.

In der Schule bekamen wir von den Mädchen Poesiealben zugesteckt, mit der Bitte doch etwas Nettes da rein zu schreiben. Na toll. Was schrieb man denn bitte da rein? Ich meine, bei den hübschen und beliebten Mädchen war das kein Problem. Man schrieb: „Ausrufezeichen! Punkt daneben. Dich vergess´ ich nie im Leben“ oder so. Das war unverfänglich genug, verriet aber trotzdem so ein bisschen, dass man sie süß fand. Die normalen Mädchen bügelte man mit so was wie: „Punkt, Punkt, Komma, Strich. Fertig ist das Mondgesicht“ ab. Mein Standardspruch war da immer: „Wo man singt, da lass Dich nieder. Böse Menschen singen keine Lieder.“ Aber was zum Teufel sollte man bei den echt hässlichen Mädchen ins Poesiealbum schreiben, hä? Im Land der Dichter und Denker gab es massenweise Gedichte und Lieder für gottgleiche Schönheiten und feenhafte Wesen. Aber von einer „Ode an die hässliche Gabi“ hatte ich noch nichts gehört. Darüber hatte sich der Herr Goethe scheinbar auch noch nie so richtig Gedanken gemacht. Also, was sollte man da schreiben?: „Lass mich in Ruhe, Du Hackfresse“? Das ging ja nun auch nicht, denn wir wollten ja trotzdem auf die entsprechenden Garten- und Geburtstagspartys eingeladen werden.

Das Partyspiel der damaligen Zeit und eigentlich der einzige Grund, überhaupt auf eine Party zu gehen, war Flaschendehen. So. Und jetzt verrate ich Ihnen mal ein Partygeheimnis der Jungs von damals: Das Auswahlkriterium, ob wir auf die eine Party gingen, auf die andere aber nicht, hing ausschließlich von der Gästeliste ab. Auf coolen Partys war es so sicher wie das Amen in der Kirche, dass Flaschendrehen gespielt wurde. Deshalb war es wichtig, wer von den Mädchen aus der Schule auf die Party gehen würde. Hach Gott, ja. Flaschendrehen. Bei keinem anderen Spiel in dieser Zeit lagen himmelhoher Triumph (Knutschen mit der heißen Susi) und völliges und abgrundtiefes Versagen (Knutschen mit der nicht ganz so heißen Barbara) so dicht beieinander. Ein Knistern der Spannung lag in der Luft. Wie in Zeitlupe drehte sich wieder einmal der Flaschenhals ganz langsam an der heißen Susi vorbei, hin zu Barbara. Die Susi war, nennen wir es mal, rein körperlich etwas weiter entwickelt und alleine das war es schon wert, mit Susi zu knutschen. Barbara war aufgrund ihrer außen liegenden Zahnspange schon rein technisch gesehen, nicht so einfach zu küssen. Damals bedeutete einmal richtig Knutschen mit der heißen Susi einen gesellschaftlichen Aufstieg in der Schule. Man war mindestens bis zur nächsten Party der „Lord vom Ort“. Es war nämlich bekannt, dass die Susi mit Zunge knutschte. Hallo? Können Sie sich vorstellen was „mit Zunge“ für einen Stellenwert damals hatte?

Aber eigentlich schon fies, was Eltern und die Zahnmedizin Kindern damals zumutete. Dabei war Barbara eigentlich auch hübsch. Richtig hübsch, sogar. Bei späteren Klassentreffen, als Babsi ihre Altmetallsammlung schon Jahre wieder los war, stach sie die anderen Damen mit Leichtigkeit aus. Jörg, ein unscheinbarer Junge aus der Parallelklasse schien damals über die nötige Weitsicht und den Kennerblick zu verfügen und kam mit ihr in der Abschlussklasse zusammen. Sie blieben es auch über Jahre und heirateten nach der Schule. Bei den Klassentreffen stand Jörg dann immer blöd grinsend etwas im Abseits, während wir anderen Jungs bewunderten, welch schöner, weißer Schwan aus dem grauen Mäuslein von damals wurde. Die heiße Susanne von damals ging so langsam aus dem Leim und die Schwerkraft forderte von ihren damaligen körperlichen Vorzügen mittlerweile ihren Tribut. Bei Babsi konnte die Schwerkraft noch gar nix einfordern. Mit oder ohne Silikon, da waren sich die anwesenden Damen noch nicht so richtig einig, was uns Jungs aber ziemlich scheißegal war. Und wöchentliches Power-Yoga leimte zusammen, was zusammen gehörte. Ach so. Und Susanne hatte von Nikotin und Kaffee gelblich eingefärbte Hauer, während Babsi zwei Reihen strahlend weiße Zähne im Mund hatte.

In der Zeit konnte man in jeder freien Minute, egal ob in der Schule, auf Partys oder in der Freizeit, aus allen Ecken dieses „wrack-wrack-wrack“, jenes Drehgeräusch des Zauberwürfels hören. Kennt noch jeder oder? Ursprünglich mal als Geduldsspiel entwickelt, driftete aber bald als Zeitvertreib für Hochbegabte ab. Wir „normale“ Kinder drehten da im Idealfall vielleicht mal drei Seiten zusammen. Dann lief es aber wirklich schon super. Im Normalfall war aber nach zwei Seiten Schluss. Ohne Anleitung, wohlgemerkt. Mit dieser Anleitung konnte wirklich jede Blöd-Tröte den Würfel zusammenfummeln und die wurde mal im Stern veröffentlicht. Ich hab ihn immer, wie Hunderttausende andere auch, auseinandergebaut und wieder richtig zusammengesetzt. Sehr zur Freude meiner Eltern: „Siehste Papa. Der Junge ist schlau“, sagte Mutti: „Aus dem kann doch noch was werden.“ Ich sagte ihr es nicht, ich wollte sie nicht enttäuschen.

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Wir waren ja in den 80ern noch gefühlte 100.000 Jahre von Musikplattformen und MP3-Dateien entfernt, die man sich mal eben aus dem www saugte. Um seine Lieblingslieder zu hören gab es eigentlich das Radio und das TV. Absolutes Muss war „Pop nach Acht“ mit Thomas Gottschalk auf Bayern 3 oder die „Internationale Hitparade“ mit Werner Reinke auf Hessen 3. Beide Sendungen wurden einmal in der Woche gesendet. Auch das Fernsehen war schon so weit und versorgte uns mit Musik aus den aktuellen Charts mit Sendungen, wie „Formel Eins“ und „Bananas“ und diese Sendungen waren für damalige Verhältnisse der absolute Hammer. Die Creme de la Creme der Charts gaben sich ein Stelldichein. Die Zeit der teuer und aufwendig produzierten Videoclips wie zum Beispiel „Thriller“ oder auch „Sledgehammer“ war lange noch nicht gekommen, darum mussten alle Bands und Künstler noch selber kommen, um ihre neuesten Lieder zu präsentieren. Niemand war sich zu fein, mit Peter Illmann oder Frank Zander vor Ort in den Studios ihre Musik-Videos zu produzieren. Kleinere und private Fernsehsender und auch das noch neue Kabelfernsehen befanden sich noch im Experimentier-Stadium und Moderatoren und Teams konnten tun und lassen, was sie wollten. Die Musik-Videos waren darum zum Teil derart dilettantisch und im höchsten Maße unprofessionell, sodass Bühnenaufbauten während der Aufnahme umkippten oder Dekos zusammen klappten. Einmal fiel Jürgen Drews während er „Ein Bett im Kornfeld“ sang sogar in einen kleinen Brunnen, weil der Laufsteg zusammen brach.

Man konnte im Hintergrund noch Frank Zander, mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen, kreidebleich zur Hilfe eilen sehen. Ein Wunder, dass Weltstars wie Madonna, Rod Stewart oder ABBA nicht schreiend aus den Studios rannten und ihre Manager „Formel Eins“ und „Bananas“ nicht bis in die Hölle verklagten. „Formel Eins“ oder „Bananas“ zu verpassen war in etwa so, wie seinen eigenen Geburtstag zu verpennen.

Ich glaube, so richtig bin ich der Musik und dem Rock & Roll im speziellen verfallen, als mir ein Sammelalbum für Singles in die Hände fiel. In diesem Album steckten etwa 30 oder 40 Singles in so Klarsichtfolien und man konnte es wie ein Fotoalbum durchblättern. Außen herum war ein Einband im typischen 50er-Jahre-Stil. Das Teil gehörte meinem Vater und er hatte darin die Singles seiner Jugend gesammelt. Und was ich da für seltene Raritäten fand, war der Hammer. Singles von Elvis Presley, Bill Haley, Sam Cook und anderen Stars aus den 50ern im Original. Also, im Original im Sinne von, dass diese Singles von meinem Papa in den Jahren zwischen 1953 bis 1956 selbst gekauft wurden und es sich um Singles der ersten Auflage handelte. Ich hielt hier gerade 30 Jahre alte Singles in meinen Händen. Aufnahmen, die es heute so gar nicht mehr gibt. Damals schon echte Raritäten und heute sind sie es erst recht. Eine Aufnahme von „Lover Doll“ von Elvis Presley, die nur mit Kontrabass und Gitarre gespielt wurde. Eine Single von Bill Haley & His Comets, auf der bei den Liedern „Rock This Joint“ und „Rock Around The Clock“ aus Zeitmangel bei den Studioaufnahmen, dasselbe Gitarrensolo gespielt wurde. Erst bei der zweiten Auflage der Single, wurde ein anderes Solo eingespielt. Selbst im Radio, in Georg Kostyas Sendung „Aus meiner Rocktasche – Platten, die es in sich hatten“ konnte man so was nicht jeden Tag hören. Gute Aufnahmen bekam man zu der Zeit nur mit einem Radiorekorder hin. Vom Fernseher aus musste man ein Mikrophon vor den Lautsprecher halten, was allerlei Geklappere und Nebengeräusche verursachte und um direkt vom Plattenspieler aufzunehmen brauchte man die entsprechende Anlage oder ein Überspielkabel. Beides gab es in den 80ern noch nicht in jeden Haushalt und im Kinderzimmer erst recht nicht. Na ja und außerdem hätte man sämtliche LPs und Singles gebraucht und auch das war jetzt eher unmöglich. Vielleicht bei Richie Ritch daheim, aber nicht bei uns. Das Radio aber hatte wiederum den Nachteil, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, der Moderator entweder am Anfang oder am Ende des Liedes in die Aufnahme quatschte. Man quälte sich über Wochen hinweg durch die Radioprogramme, um endlich das Lied zu bekommen, hinter dem man her war. Die Finger auf den Tasten „Aufnahme“ und „Start“, wartete man, dass der Moderator endlich seine Ansage fertig hatte. Man war gespannt wie Pfeil und Bogen, bereit in einer Zehntelsekunde die Tasten los zu lassen. Die Finger begannen langsam zu zittern, Schweißperlen rannen über die Stirn, zur Nasenspitze, verharrten dort kurz, um dann lautlos zu Boden zu tropfen. Nicht eine Sekunde wollte man die Tasten zu früh loslassen, um auch ja nichts von der Anmoderation auf dem Band zu haben. Und meistens war dann doch noch ein „…kson“ von „Michael Jackson“ auf der Kassette. Das gleiche Drama spielte sich knapp drei Minuten später, am Ende des Liedes ab. Die letzten Töne klangen aus und man pokerte quasi mit Werner Reinke um jeden einzelnen Takt. „Warte ..... noch ein Augenblick und noch einen ...warte ...“ und dann: „Das w…“ Stopptaste drücken. Kacke, wieder nix. Mist. Eine echte Sisyphusarbeit, also. Bei Werner Reinke gingen aber mit der Zeit irgendwann so viele Leserbriefe ein, dass er ein Einsehen mit uns Kassetten-Junkies hatte und vor und nach jedem Lied so ein bis zwei Sekunden nichts sagte, damit wir alle die Start- und Stopp-Tasten drücken konnte, ohne einen Wortfetzen auf dem Band zu haben. Damit machte Herr Reinke sich zum Superstar unter den Kassetten-Kindern.

Der Super-Gau des Kassettenhörers war natürlich der Bandsalat und der meistens unweigerliche Riss des Bandes. Das Band sah aus, wie dieses geringelte, bunte Zeug auf einem Weihnachtsgeschenk. Trotzdem hab ich immer wieder versucht es aus den Spulen des Rekorders zu frickeln, mit einem Kuli aufzuspulen und es auch zu kleben. Meistens riss das Band aber doch wieder an der gleichen Stelle, weil es einfach zu dick war, um problemlos an Tonkopf und Rolle vorbei zu laufen. Passte man beim Kleben nicht richtig auf, konnte aus „Highway to Hell“ plötzlich satanische Botschaften in Form von dem unverständlichen „Lleh Ot Yawhgih“, da man

versehentlich beim Zusammenbauen das Band verdreht hatte.

Aus heutiger Sicht gesehen sind CDs natürlich schon geil, klar. Klarer, brillanter Sound, fette Bässe, kein Knacken und Knistern mehr. Die Einführung des CD-Players bedeutete aber auch leider die Abschaffung des Plattenspielers. Kein magischer Augenblick der erwartungsvollen Stille mehr, wenn sich der Tonarm langsam absenkt. Keine Spannung auf die neue LP mehr, wenn sich der Saphir mit einem Knacken in die Rille setzt. Keine satanischen Botschaften mehr, wenn man die Platte mit den Fingern gegen die Laufrichtung drehte. Kein „I´m Satan“ bei dem Doors-Song „Break On Through to The Other Side“. Bei Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ konnte man „Oh, Here´s to My Sweet Satan...“ und „Power is Satan“ oder „Sad Satan“ hören. Auch „Turn Me on, Dead Man“ auf dem weißen Beatles Album im Lied „Revolution Nr 9“ wird man auf CD niemals mehr wieder hören können. Die Satans-Jünger glaubten zu wissen, dass Paul Mc Cartney zum Zeitpunkt der Aufnahme schon drei Jahre tot wäre und seit dem ein Doppelgänger den Job bei den Beatles übernommen hätte. Nach Wochen und Monaten, türmten sich die Kassetten in meinem Zimmer an allen möglichen Stellen bis zur Zimmerdecke auf und Mutti drohte mit der totalen Vernichtung der gesammelten Werke: „Räum ma diese blöden Kassetten weg, das sieht furchtbar aus.“ Zur Aufbewahrung bekam ich diese viereckigen Kassetten-Karussell-Dinger aus Plastik. Die gab es in Rot, Schwarz und so durchsichtigem Braun. Da konnte man mehrere aufeinander stellen und irgendwann stapelten sich dann eben die Kassetten-Dinger bis an die Zimmerdecke. Waagrecht passten acht Kassetten rein, allerdings ohne Hülle. War blöd. Senkrecht gingen, mit Hülle, vier rein. Auch blöd, weil zu wenig. Irgendwann hab ich dann alle Kassetten einfach in eine Kiste geschmissen. Noch viel blöder, weil man da gar nix mehr gefunden hat. Ein echter Segen, schon wegen des Platzes, war es da, als die ersten CDs den Weg in unsere Haushalte finden würden. Aber das dauerte noch.

Bevor ich das erste richtig echte Instrument, nämlich die alte Wandergitarre meiner Mutter in die Hände bekam, musste auch ich das musikpädagogische Konzept des Carl Orff über mich ergehen lassen. Im Kindergarten musste auch ich auf dem Orff ´schen Holz- und Blech-Schulwerk-Scheiß rumtrommeln, aber schon da wurde mir klar, dass Holzstäbchen aneinander schlagen und Fingerzimbeln irgendwie nicht wirklich meinem Musikgeschmack entsprechen würden. Ich meine, sind wir ehrlich, Fingerzimbeln und klingende Holzstäbe rocken nicht so wirklich oder? Trotzdem war ich vom „rocken“ noch echt weit entfernt. In der Grundschule schickte man mich, wie viele Tausend andere Schulkinder auch, in den Blockflötenunterricht am Nachmittag, um musikalische Grundkenntnisse zu erlernen. Eine Grundschulmusiklehrerin, die schon alleine wegen ihrer an den Seiten spitz zu laufenden Hornbrille und ihrem streng frisiertem Dutt irgendwie fies und furchteinflößend aussah und noch dazu Fräulein Hassköter hieß, leitete das Bootcamp für Grundschüler mit musikalisch talentierten Auffälligkeiten und machte uns immer ein bisschen Angst. Fräulein Hassköter, die irgendwann während ihres Studiums feststellte, dass sie es ab nun tagein, tagaus mit wissbegierigen Kindern zu tun hatte, kam zu dem Entschluss, offensichtlich den falschen Beruf gewählt zu haben. Sie glaubte hinter dem Schalter einer Bank wohl doch besser aufgehoben zu sein und nahm sich ab da vor, bis zu ihrer Pension aus Rache wissbegierige Grundschüler quälen zu wollen. Und darum flötete ich und zehn andere willige Schüler uns einmal in der Woche durch die Oktave der Höhner-Plastik-Blockflöte, bis ich nach etwa einem halben Jahr komischerweise begann, ständig meine Höhner-Plastik-Blockflöte zu verlieren, sie „versehentlich“ entzwei brach oder sie von der Autobahnbrücke fiel und von einer Kolonne 40-Tonner plattgefahren wurde, sie zerdrückte, sie geklaut bekam, sie anstatt meines Taschengeldes von größeren Jungs abgenommen bekam, sie irgendwo liegen lies, sie notleidenden Flöten-Obdachlosen schenkte oder sie „plötzlich und unerwartet“ in den gigantischen Holzschredder der örtlichen Parkverwaltung flog und mein Vater nicht mehr bereit war, mir eine neue Flöte zu kaufen. Da aber auch Fräulein Hassköter es nicht schaffte, meinen Willen, mein Interesse an der Musik und an Instrumenten zu brechen, begann ich der uralten Gitarre meiner Mutter die ersten Töne zu entlocken. Nach dem anfänglichen Rumgezupfe, verstand ich irgendwann das System dahinter. Dass man einer Saite der Gitarre unterschiedliche Töne entlocken konnte, indem man die Finger auf unterschiedliche Bünde drückte und dass man mit zwei, drei klingenden Saiten durchaus schöne Töne und nicht nur einen disharmonischen Würgereiz erzeugen konnte. Irgendwoher lernte ich die beiden ersten Akkorde, C-Dur und G-Dur und merkte aber auch recht schnell, dass ich damit nicht sehr weit kommen würde. Mir wurde der Zusammenhang von der Melodie und verschiedenen, an der richtigen Stelle gespielten Akkorde recht schnell klar. Ich brauchte mehr Akkorde. In einem BAP-Songbook zur LP „Von drinne noh drusse“ entdeckte ich eine komplette Grifftabelle mit sämtlichen Akkorden und wie und wann die Akkorde an welchen Stellen des Textes zu spielen waren. Ein zweites Songbook „Beatles Complete“, die Heilige Schrift sämtlicher Party-Gitarristen Deutschlands in den 80ern, folgte. Schnell hatte ich mehrere Songbooks zuhause. Wolfgang Ambross, Marius Müller-Westernhagen und alle möglichen Sammlungen, der besten Party- und Lagerfeuerlieder. Und da stand echt alles drin, was ein ambitionierter Lagerfeuergitarrist drauf haben musste: „House of Rising Sun“, „Country Roads“, „Hey Jude“, „Es lebe der Zentralfriedhof“. Damit wurde ich recht schnell auch immer besser und irgendwann konnte ich sämtliche Dur- und Moll-Akkorde und Akkorde, die man zu verschiedenen Überleitungen spielen konnte. Im Grunde genommen hatte ich mir völlig autark das Gitarrespielen beigebracht, ohne auch nur eine Note vom Blatt lesen zu können. Bei jeder Gelegenheit klimperte ich von da an auf der Gitarre herum. Meine Gitarre stand immer griffbereit in meiner Nähe. Ich begann eigene Lieder zu schreiben. Na ja, was man mit meinem damaligen Rumpelenglisch eben so Lied nennen konnte.

Es war wahrscheinlich eher ein zielloses Herumgestocher im vorhandenem Vokabular, verbunden mit zufälligen Einschlägen in der Nähe der richtigen Grammatik. Aber es musste in Englisch sein. Hallo? Um sich Singer und Songwriter nennen zu können, konnte man doch keine Lieder mit deutschen Texten schreiben. Wie peinlich war das denn? Man konnte auf einer Party nicht im Kreise mehrerer Mädchen sitzen und sagen: „Mädels, ich singe euch jetzt mal ein Lied von mir“ und würgte dann so was wie: „Ich fahre die Straße herunter, auf meinem schwarzen Moped, mit meinem Schatz zusammen“ hervor: „The alley to the valley, with my bike on a ride, and my baby by my side“ rollte da schon runder zu der Gitarrenbegleitung. Das alles hatte natürlich die Folge, dass ich bei jeder Möglichkeit, die sich mir bot, meine Gitarre mitschleppte. Keine Party, kein Geburtstag, kein Grillen oder laue Sommernacht am See, ohne mich und meine Klampfe und mein Bedürfnis, den anderen Gästen meinen schier unermesslichen Fundus an Party-Liedern aufzunötigen. Am Ende waren es aber immer wieder dieselben Lieder, mit denen man die Leute begeistern konnte. „Country Roads“ von John Denver, „Hey, Jude“ und „Let it be“ der Beatles, „Dicke“ von Westernhagen und der Klassiker schlechthin, Wolfgang Ambros´ „Schifoan“. Und die Musik begann einen immer größeren Platz in meinem Leben einzunehmen. Ich nahm Gitarrenunterricht und machte dort schon nach kurzer Zeit erkennbare Fortschritte. Mein Ehrgeiz an der Sache war geweckt und ich bekam darum meine erste „richtige“ Gitarre. Die alte Sperrholzklampfe meiner Mutter hatte ausgedient. Nachdem ich ihr mit schwarzem Sprühlack eine Verschönerungsaktion gegönnt hatte, litt ihr Klang doch recht erheblich. Um die Wahrheit zu sagen, litt ihr Klang nicht nur erheblich, sondern der Klang verabschiedete sich zur Gänze, denn sie klang jetzt einfach nur beschissen. Dass der Lack beim Trocknen das gesamte Holz verziehen und dadurch der Klang nahezu komplett versaut werden würde, konnte ich doch nicht wissen. Ich bekam eine Ibanez Westerngitarre mit einem schmalen E-Gitarrenhals. Ein echt edles Teil. Da ich aber klassische Gitarre lernte und man dafür Nylonsaiten und keine Stahlsaiten brauchte, musste ich im Unterricht immer noch auf diesem alten, schwarzen Stück Holz üben. Der Unterricht hat mir vom reinen Spielen her nicht viel gebracht, da ich ja eigentlich schon so spielen konnte, um Leute zu unterhalten. Trotzdem möchte ich ihn nicht missen, da ich einige Spieltechniken lernte und auch Noten vom Blatt lesen lernen musste. Das Notenlesen hab ich aber genauso schnell wieder vergessen, wie ich es gelernt hatte, was meine Mutti nie verstehen konnte. Wie man denn ein Instrument spielen und Musik machen könne, ohne Noten zu lesen? Wie soll das denn gehen? Aber es geht. Um ein A-Dur zu spielen, reicht es aus, wenn ich weiß, wie dieser Akkord auf der Gitarre oder dem Klavier zu spielen ist. Es reicht, ein Blues-Schema und ein Tanzmusik-Schema und die Tonart des Liedes zu kennen, um mit ein paar anderen Leuten Musik zu machen. Die „Uuuh Baby, yeah Baby“-Lieder wurden besser und feiner und man konnte sie ohne roten Kopf zu bekommen, auch in der Öffentlichkeit spielen.

Computerspiele etablierten sich auf dem Markt und man hatte die ersten Spielekonsolen daheim und spielte Donkey Kong, Tetris, Super Mario Bros oder Pac Man. Wer von uns hat damals nicht Pac Man gespielt? Sinn von Pac Man, einer Punkte fressenden Käsescheibe war, sie durch ein Labyrinth zu steuern um Punkte zu fressen. Möglicherweise könnte man Pac Man als den ersten „Egoshooter“ der Computerspiele bezeichnen. Keiner meiner Kumpels, die dieses Spiel mit wachsender Begeisterung spielten, ist übrigens jemals Amok gelaufen oder hat sich auch nur mit dem Gedanken befasst. Zumindest meines Wissens nach. Und das, obwohl Markus mit „c“, sogar sein Geld bei Nintendo verdient. Da muss es also andere Gründe dafür geben. An mir ging diese Computerspielzeit allerdings gänzlich vorbei. Ich hab es versucht, hat mich aber nicht interessiert. Überhaupt nicht. Im Gegenteil. Mich langweilten diese Spiele sogar sehr schnell. Dass man mit dem PC auch Musik machen konnte, war eine völlig neue Erkenntnis für mich und begeisterte mich dagegen sehr. Die LP „The Luxury Gab“ von der englischen Synthie-Band Heaven 17 war meine erste LP, bei der sämtliche Schlagzeug- und Bass-Sounds komplett vom Synthesizer und dem PC erzeugt wurden. Eigentlich ist der Ausdruck „mit dem PC Musik machen“ auch gar nicht richtig. Der PC fungiert mit entsprechender Software dabei „nur“ als digitale Bandmaschine und vereinfacht die Bearbeitung der fertigen Aufnahmen erheblich. Zur Klangerzeugung dienen dann Synthesizer und verschiedene Soundmodule. Das war schon echt beeindruckend. Wegbereiter und Entdecker der elektronischen Musik und weltweit anerkannte Väter des Techno, waren die Musiker der deutschen Band Kraftwerk. Die machten eigentlich sogar schon um das Jahr 1975 herum, vollelektronische Musik. Letztlich gibt es zwei unterschiedliche Möglichkeiten den Computer, Synthesizer und Sequenzer in der Musik einzusetzen. Es gibt Bands, die ihre Instrumente und den Sound absichtlich künstlich und mechanisch klingen lassen wollen und andersherum gibt es Musik, bei der man nicht hören soll, ob die Aufnahme mit echten Instrumenten oder mit dem Synthesizer erzeugt wurden. Kraftwerk steuerte zu dem ZDF Politmagazin „Kennzeichen D“ die Titelmelodie „Ruck-Zuck“ bei. Von Liedern wie „Das Model“ oder „Computerwelt“, ließen sich unter anderem Depeche Mode und Ultravox inspirieren. Die Firma Steinberg verkaufte die erste Software, mit der Midi-Dateien zwischen Keyboard und PC ausgetauscht wurden, um ganze Lieder digital mit dem Heim-PC aufzunehmen. Und wenn man so will, hat mich von da an auch das Computervirus befallen, auch wenn es noch einige Zeit dauern sollte, bis ich beides zuhause haben würde. Ich fand es aber trotzdem immer wichtiger, ein richtiges Instrument spielen zu können.

÷

"What would you do, what would you do

when you don´t be needed by the others?

What would you do, what would you do

if you always be the loser?

That really brings you down, that really brings you down.

Down to the ground.“

(Ich: „What Would You Do“, unveröffentlicht.

Zweites eigenes, aufgenommenes Lied, beschreibt das traurige Ende meiner Teenager-Liebe mit dem schwarzhaarigen Mädchen)

Ich wühlte mich durch die vielen Reliquien meiner Vergangenheit, unter anderem in der Hoffnung noch irgendeinen Beweis meines musikalischen Lebenslaufes zu finden und stand inzwischen daheim im Keller. Und tatsächlich tauchte in einem Regal eine einzige und vermutlich letzte Kassettenkiste auf, die alle meine Umzüge unbeschadet überlebt hatte. Wie ein alter knatternder, schwarz-weißer 8-Spur Film, liefen Kindheitserinnerungen vor meinen Augen ab, als ich die Kiste nach oben ins Wohnzimmer trug. Im Sekundentakt, wie die einzelnen, belichteten Bilder des Films, zuckten mir Erinnerungen wie bunte Lichtblitze durch den Kopf und projizierten ein Déjà-vu nach dem anderen an die Leinwand meines Kopfkinos. Eine einzige Kiste aus grauem Pappkarton mit blauen Verzierungen hatte es geschafft, mich die letzten 30 Jahre aus meinem Kinderzimmer bis hierher zu begleiten. Wahllos nahm ich einzelne Kassetten heraus, schob sie ins Tapedeck und hörte mich durch meine Erinnerungen. Und derer gab es viele. Gute wie schlechte. Meinen Mix-Kassetten gab ich damals der Verwendung entsprechende Namen. Zum Beispiel den Namen des Urlaubsortes und dann Mix. Also, „Sölden-Skiurlaub-Mix“ oder so. Es fanden sich Lieder auf Kassetten wieder, die ich heute nicht mal mehr heimlich unter der Bettdecke hören würde. So wie „Vamos a la playa“ von Righeira mit der nicht viel besseren B-Seite „No tengo dinero“. Ich entdeckte eine ganze Kassette mit einem „Best off“ von Rondó Veneziano. Oh Gott. Rondó Veneziano. Dieses Weichspüler-Streichensemble, das barocke Gassenhauer mit moderner und klassischer Instrumentierung aufmotzte. Was mich aber echt stutzen ließ, war das „Best off“ auf der Kassette. Das würde nämlich bedeuten, dass ich mehrere LPs von denen besessen haben müsste, um mir eine Auswahl der besten Lieder aufzunehmen. Richtig gehend geschockt war ich, als ich auf der A-Seite einer Kassette mit dem Namen „Marbella-Sommerurlaubs-Mix“ von Modern Talking „Brother Loui“ und auf der B-Seite von Sandra „Maria Magdalena“ fand. Das war dann dioch zu viel des Guten. Ich beschloss trotzdem zur Sicherheit, sollte das jemals rauskommen, würde ich unter Eid schwören, dass mir diese Kassette untergeschoben wurde. Ich fand eine Kassette, auf der ich sogar das Plattencover der ersten Trio-LP nachgezeichnet hatte. Weißes Cover, zwei Herzen mit schwarzem Stift gemalt, wovon eines durchgestrichen war. Und darunter stand die komplette Adresse mit Telefonnummer: Regenterstr. 10a, 2907 Großenkneten 2, Tel: 04435/2300. Erinnern Sie sich? Und? Auch angerufen? Der Hammer war, am Anfang müssen die Herren Remler, Krawinkel und Behrens noch wirklich selber ans Telefon gegangen sein. Alle drei wohnte dort in einer WG. Später, als ich dort anrief, war leider nur noch ein Anrufbeantworter dran, der mir ein „Arschgeiles Weihnachtsfest“ wünschte. Aber dieses „Da Da Da“ war schon revolutionär in seinem Minimalismus. Überhaupt waren die Texte von Trio cool. Ich mochte Trio. Die gesamte NDW fand ich klasse. Spider Murphy Gang, natürlich. Deutscher Rock & Roll. Geier Sturzflug. „Besuchen Sie Europa“ oder „Bruttosozialprodukt“. Off Beat. Zum Teil lupenreiner Ska. Kraftwerk. Wird ja auch immer dazu gezählt. Die gab es aber schon zehn Jahre vorher und während der NDW veröffentlichten sie nur „Tour de France“ Aber trotzdem irgendwie NDW. Nena. Klar. Wer war nicht in sie verknallt, wenn sie diesen roten, knallengen Ledermini an hatte und ihre Luftballons steigen ließ. Mitte bis Ende der 80er erlosch langsam das Feuer der NDW und aus ihrer Asche erhoben sich der Techno, Dancefloor und der Euro Beat. Man hätte die Flammen der NDW noch ein bisschen brennen lassen sollen, denn so gut und abwechslungsreich wie in den 80ern wurde die Musik nicht mehr.

Ich fand allerdings auch ein paar richtig gute Kassetten. ZZ Top, Garry Newman, Toy Dolls, Queen und Elvis. Immer wieder Elvis Presley. Komisch irgendwie, dass man zu manchen Liedern gar nicht mehr steht und andere wiederum immer noch richtig funzen.

Ich wühlte und hörte mich weiter durch meine Kiste mit den Kassetten. Und da lag sie plötzlich. Fast ganz unten auf dem grauen Boden der Kiste. Eine schwarze 90er Maxell-Kassette CrO?, mit gold-weißem Etikett. Darauf stand „Original.“ Mehr nicht. Einfach nur „Original.“ Ich wusste sofort, was das war.

Der Dorfelvis

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