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4. „Die schönste Zeit“
ОглавлениеUnser erstes Demo-Tape.
Mein Gott, ja. Die erste Band und das erste Demo-Tape.
Die erste Band war ja schon was ganz Besonderes. So was, wie die erste Freundin. Man hat ein ganz spezielles Verhältnis oder genauer, eine ganz spezielle Erinnerung an die erste Band. Man mag noch so schlecht gewesen sein und meine Fresse, das waren wir, man denkt doch immer wieder gerne und mit einem Schmunzeln auf den Lippen daran zurück. Die Band bestand aus Jens am Bass, Dieter am Schlagzeug, Thorsten am Keyboard und mir, an der Gitarre. Einen Sänger hatten wir nicht und eigentlich wollte auch keiner von uns singen. Was irgendwie blöd war, denn eine Band ohne Sänger ist irgendwie, nun, naja, irgendwie Kacke. Das hatten wir wohl noch nicht so richtig durchdacht. War die ersten Proben auch noch egal, da wir eh nur so ein bisschen herumspielten und darüber sprachen, wie toll wir werden würden. Als wir dann aber so langsam zum ersten Lied kamen, musste eine Entscheidung her. Als ich auf Toilette war und zurück in den Proberaum kam, hatte man ganz heimlich den Mikrofonständer samt Mikro auf meinen Platz gestellt. Die fadenscheinige Begründung: „Na, du stehst doch jetzt eh schon davor“, schien dann auch ausreichend genug für den Rest der Kapelle zu sein, um mich einstimmig als offiziellen Sänger der Band anzuerkennen. Also hab ich dann, um dem Klischee des Gitarre spielenden Rockstars gerecht zu werden, auch noch gesungen. Unter mitleidigem Lächeln meiner Bandkollegen schwor ich grausame und kalte Rache.
Was sie allerdings nicht bedachten war, das in aller Regel der Sänger, der Frontmann, dass geilste Stück DNA innerhalb der Band ist. Tja. Und Gitarristen waren unter Instrumentalisten schon immer die coolsten Musiker in einer Band. Also gleich zweimal cool. Eigentlich ganz gute Voraussetzungen für eine Karriere als Rockstar. Zuallererst klärten wir unseren zukünftigen Musikstil, was unsere Probetermine erheblich vereinfachen sollte. Wir wollten am Anfang Lieder aus den 80ern spielen. Ein bisschen unbekanntere Sachen. Später dann, sollten es schon eigene Stücke werden. Wenn man so sah, wer aus den Wogen der NDW als Rockstar hervorging und zumindest einen gewissen nationalen Erfolg erreichte, war es durchaus eine Option, eine internationale Rockstarkarriere anzustreben.
Wir einigten uns auf ein paar Stücke, die wir spielen wollten und jeder hatte die Hausaufgabe, seinen Teil des Liedes bis zur nächsten Probe spielen zu können. Ich setzt mich zu Hause mit meinem Kassettenrecorder und der Gitarre hin, spielte das Lied ein ums andere Mal ab, hörte mir Harmonien, verschiedene Läufe, Solis und den Text heraus und übte das solange, bis ich es ohne Fehler und blind nachspielen konnte. Und wenn ich blind sage, dann meine ich blind, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hasste diese „Griffbrettglotzer“. Gitarristen, die sich auf der Bühne nicht bewegen und keinen Blickkontakt mit dem Publikum aufnehmen können, da sie aufs Griffbrett schauen müssen, um selber sehen zu können, wie toll sie Gitarre spielen. Gibt’s hunderte davon. Weltklassegitarristen wie Mark Knopfler, Garry Moore, Steve Stevens, Angus Young. Alles Griffbrettglotzer. Aber das ist halt nur meine Philosophie. Muss ja nicht jeder so sehen und machen. Sieht aber halt eben cooler aus, wenn man seinen Krempel spielt, ohne zu schauen, wie es aussieht. Wenn jeder von uns seine Sachen spielen konnte, probten wir dann solange, bis das alles schön zusammen passte und nach unseren damaligen Maßstäben gut klang. Geprobt haben wir anfangs im Büro von Jens´ Vater. Der hatte seine eigene Versicherungsagentur und duldete unsere musikalischen Gehversuche gerne. In seinen jungen Tagen war er selber begeisterter Musiker und noch immer ein richtig guter Hobbymusiker und fand es einfach gut, dass wir zusammen Musik machen wollten. Unseren Drummer, man sagte ja der Coolness wegen nicht Schlagzeuger. Nein, nein, das waren Drummer, so wie der Bassist ein Basser war und Klavierspieler, Keyboarder waren. Amerikanischen Blueslegenden, egal ob an der Gitarre oder am Klavier, gab man ganz gerne so coole Beinamen, wie „Blind“ John Davis, David „Honeyboy“ Edwards oder Bumble Bee Slim. Nur Gitarristen waren Gitarristen. Gene Simmons von Kiss spielte eine E-Gitarre in Form einer monströsen Axt, die auch der Einfachheit halber „The Axe“hieß. Aber selbst das hätte im Fernsehen, bei irgendwelchen Interviews zu Ehren der eigenen Popularität blöd geklungen. Früge Harald Schmidt in seiner Show nach dem gespielten Instrument, würde man antworten: „Ich spiele die Axt, Herr Schmidt.“ Auch „Ich spiele the Axe“, klänge nicht wirklich cooler. Darum blieb es bei Gitarrist. Ich war der Gitarrist. Fertig.
Unser Drummer wurde alsbald, mehr oder weniger freiwillig, durch Frank ersetzt, einem Schulfreund von Jens. Dieter war bei der Bundeswehr und hatte nur noch sehr unregelmäßig Zeit zum Proben und das dann auch nur noch am Wochenende. Das fand wiederum der Vater von Jens, trotz seines Verständnisses für unser steil nach oben gehende Rockstarkarriere, ziemlich blöd. Denn er und seine treue Ehefrau, hätten auch gerne ein ruhiges Wochenende, wofür wir natürlich Verständnis hatten.
Also trat Frank das musikalische Erbe von Dieters dreimonatiger Bandzugehörigkeit an. Ein sehr kleines Erbe, denn musikalisch gesehen, trommelte Frank, Dieter direkt in den Vorhof zur Hölle und nahm uns damit das schlechte Gewissen, ihn ersetzt zu haben. Dieter wusste nämlich bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts von seinem Nachfolger. Zu unser aller Beruhigung, nahm er es dann auch, Gott sei Dank, ziemlich sportlich, wünschte uns noch mit den Worten: „Ihr Arschlöcher. Ihr werdet es eh nicht schaffen“, auf seine ganz eigene Art Glück und Erfolg auf dem Weg in die Charts.
Frank kam und sah unser Probebüro. Wild durcheinander gewürfelt standen da die Gesangsboxen auf dem Schrank mit den Kundenordnern, der Gitarrenverstärker neben dem Kopierer und meine Texte lagen auf dem Computer. Ich hätte sie auch ebenso gut als Word-Dokument direkt vom Bildschirm ablesen können: „Es gäbe da eine andere Möglichkeit“, warf Frank ein und eröffnete uns damit die güldene Pforte, um das Mekka der Jung-Musiker zu betreten. Einen eigenen Proberaum. Franks Eltern leiteten ein Unternehmen für Sanitäreinrichtungen in Aschaffenburg. Ein Unternehmen recht fürstlichen Ausmaßes, um genau zu sein. Wegen einer Firmenerweiterung hatten sie ein leer stehendes Gebäude angemietet und genau da durften wir uns einen Proberaum aussuchen. Ein richtig, echter Proberaum nur für uns alleine, den wir uns aussuchen durften? Ja, scheiß doch die Wand an. Hatte man als Hobbymusiker überhaupt das Glück, einen Proberaum zu finden, ging das eher nach dem Motto: „Nimm es, oder lass es.“ Aber wir durften uns einen Raum aussuchen! Eine komplette kleine Gesangsanlage, Mikros, Ständer, Boxen, ein Mischpult, eine Endstufe und das alles hatte Frank vorher in dem Raum stehen, in dem er zu Hause Schlagzeug übte und brachte das als „Einstand“ mit. Das war ein echtes Novum in unserer steil nach oben gehenden Rockstarkarriere. Das waren unsere 72 Jungfrauen und der Durchmarsch in den Himmel zur gleichen Zeit.
Wie alle Frischlinge in der örtlichen, wenn nicht sogar bundesweiten Musikszene, saßen auch wir diesem Märchen auf, einen Proberaum zwecks der besseren Akustik mit diesen unsäglich blöden Eierkartons auskleiden zu müssen. Also machten wir uns daran, den stadtbekannten Eierkartondealer zu kontaktieren, der schnell, günstig und ohne Fragen zu stellen, noch am gleichen Abend lieferte. Am Abend darauf stand die Band, ausgerüstet mit mehreren Rollen doppelseitigem Klebeband, Teppichmessern und noch einigen Styroporplatten in unserem neuen, ziemlich geräumigen Proberaum, um Hunderte von Eierkartons passgenau zuzuschneiden und sie an die nackten Wände zu kleben. Wir schnitten, klebten und pappten an jeden Quadratzentimeter Wand des Raumes Eierkartonteile. Ich würde es ja auf den gleichmäßig steigenden Bierkonsum schieben, aber irgendwann begannen wir wie im Rausch, jeden erreichbaren Winkel des Raumes mit Eierkartons zu bekleben. In jede noch so kleine Ecke quetschten wir einen Eierkarton. Ja, selbst die Heizungsabdeckungen wurden mit Eierkarton beklebt. Was wahrscheinlich zur Folge hätte, dass es im Winter im Proberaum empfindlich kühl, unter der Heizungsabdeckung aber durchaus subtropische Temperaturen herrschen würden. Einen Kasten Bier und neun Rollen Klebeband später, wackelten wir lattenstramm wie zehn Russen, aber durchaus zufrieden mit unserer Leistung nach Hause und freuten uns auf einen perfekten akustischen Hörgenuss bei unserer nächsten Probe.
Und so trafen wir uns zwei Tage später wieder vor dem Proberaum, um unser Liedgut zu perfektionieren. „Vor dem Proberaum“, fragen Sie? Genau. Davor. Ich erklär´s Ihnen:
Wir mussten immer auf Frank warten, da er die Schlüsselgewalt über diesen alten Teil der Firma seines Vaters hatte. So recht wollte Franks Vater uns, diesem „langhaarigen, Stromgitarre spielenden Musikerpack“ noch nicht über den Weg trauen. Darum behielt Frank den Schlüssel bei sich und wir mussten vor dem Proben immer auf unseren „Torwächter“ warten. Noch immer euphorisiert von der „Unser-Proberaum-soll-schöner-werden-Maßnahme“ und zuversichtlich, ob des Sounderlebnisses, welches heute hier auf uns niederprasseln würde, standen wir vor unserem völlig neu gestalteten Proberaum. Aber hier sollte leider nur der Wunsch der Vater dieses schönen Gedankens bleiben. Als wir die Tür aufschlossen, quoll uns ein riesiger Brei aus doppelseitigem Klebeband, Styroporplatten und mühsam auf Maß geschnittenen Eierkartons entgegen. Aber, hallo. Das entsprach ja nun nicht ganz unseren Erwartungen. Wenn man sich diesen Klebeband-Eierkarton-Haufen in unserem Proberaum anschaute, hatte das doppelseitige Klebeband noch nicht mal einseitig geklebt. Natürlich bezichtigten wir uns erst mal gegenseitig der schlechten, unsauberen und im höchsten Maße unprofessionellen Arbeit, um einen Schuldigen für dieses Chaos zu finden. „Das ist voll deine Schuld, du Lauch“, stellten aber dann sehr schnell fest, dass das doppelseitige Klebeband in einem 99-Pfennig-Laden gekauft worden war und irgendwo aus Polen stammte. Dinge auseinander zu bauen hatten die irgendwie besser drauf, wie sie zusammen zu bauen.
Man hatte uns doppelseitig verarscht. Wir beschlossen, dass wir diesen 99-Pfennig-Laden, wenn wir mit unserer steil nach oben gehenden Rockstarkarriere ganz dick im Geschäft wären, auf das Heftigste, in den einschlägigen Musiksendungen und Samstagabendshows, beleidigen würden. In diesem Proberaum entstand auch unser erstes Demo-Tape. Ein Demo, vor allem das erste Demo-Tape, ist so was wie der Heilige Gral eines Musikers und dient mehreren Zwecken. Es ist so: Grundsätzlich finden Eltern es gut, wenn ihre pubertären Jungs beschließen, ihre Freizeit damit zu verbringen, anstatt in verrauchten Kneipen herum zu hängen, Bier zu trinken, Kippen zu rauchen und Mädchen auf die Ärsche zu schauen, lieber in einem Proberaum zu stehen und sich ihren musikalischen Ideen hinzugeben. Ob dann am Ende eine Punkband oder eine volkstümliche Blasmusikkapelle heraus kommt, ist dabei völlig egal. Zumindest sind die Jungs von der Straße weg und machen keinen Unsinn. Wenn dann aber die Jungs über Monate in einem dunklen Proberaum verschwinden ohne ein brauchbares Ergebnis vorweisen zu können, könnten Eltern irgendwann dann doch misstrauisch werden. Das erste Demo ist daher quasi der erste echte hörbare Beweis, etwas künstlerisch Kreatives geleistet zu haben. Das wir in den dunklen Proberäumen Bier getrunken haben, Kippen geraucht und der Sängerin auf den Arsch geschaut haben, ahnen die lieben Eltern dabei eher selten. Das erste Demo ist aber auch die erste Möglichkeit, sich selber, die eigene Band, die eigene Musik auf einer Aufnahme zu hören. Es ist so etwas wie ein Kinderbild von früher, die erste Siegerurkunde bei den Bundesjugendspielen oder der erste Applaus in der Theatergruppe. Eine bleibende Erinnerung an einen besonderen Moment. Im Wert steht das Demo-Tape sogar noch über der ersten richtig produzierten CD, finde ich. Bis es nämlich soweit ist, hat man schon unzählige Demos aufgenommen. Mit den Worten: „Hört euch mal den geilen Scheiß hier an“, wird diese Kassette bei jeder Gelegenheit, bei jeder Party, im Auto oder bei Freunden ins Tapedeck geschoben, um ihnen zu zeigen, was man sich da im Proberaum ausgedacht hat. Es gibt ein Original von diesem Demo-Tape und es werden ständig „Sicherheitskopien“ angefertigt. Es wäre ein nicht zu ersetzender Verlust, wenn das Demo verschwinden würde oder kaputt gehen würde. Darum bleibt das Original auch eigentlich immer an einem sicheren Ort und das ist meistens der Proberaum. Für unseren Proberaum waren wir sehr dankbar. Schon damals war es sehr schwer, in Aschaffenburg eine geeignete Räumlichkeit zu finden. Proberäume haben alle eins gemeinsam. Meistens sind es runter gekommene, seit langem leer stehende, dunkle, muffige, eher zu kalte, als zu warme Kellerräume, ohne Toilette und fließend Wasser, ohne Sitzgelegenheiten und auch ohne den gesamte Rest, der einen Raum behaglich wirken lässt, für den man den Besitzer allerdings mit einem gar fürstlichem Salär entlohnen muss. Wir aber hatten ein ehemaliges Büro im Erdgeschoss, mit Fenstern, genug Abstellflächen und Einbauschränken und es war weder zu warm, noch zu kalt. Darum beschlossen wir, uns bei unserem Proberaumspender zu bedanken. Unter dem Vorwand etwas Wichtiges klären zu müssen, lockten wir ihn zu uns in den Proberaum. Der später zu uns stoßende Saxophonist Andreas, ein fertig studierter Architekt, machte Franks Vater klar, dass in der einen Ecke des Proberaums „irgendwas mit der Statik nicht stimme“. Als er dann zu uns in den Raum kam, standen wir mit umgeschnallten Instrumenten da und sangen ihm „Jailhouse Rock“ von Elvis Presley, umgetextet in „Proberaum“ vor, um unsere Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen. So stellte sich die Sachlage wenigstens für uns dar. Ausgehend von dem, was dann geschah, war das wohl eine völlige Fehleinschätzung der Situation. Tatsache war nämlich, dass ihm sein schütteres Haupthaar, wie von einer professionellen Windmaschine angestrahlt, wie ein Fähnchen im Wind nach hinten wehte. Seine, zu diesem Zeitpunkt noch durchaus freundlich gestimmte Mimik, entgleiste ihm durch den enormen Schalldruck gänzlich und schien wie im Gesicht festgefroren. Wir föhnten diesen armen Mann, aufgrund unserer brachialen Lautstärke, einmal quer durch den Proberaum an die Wand und man hatte das Gefühl, als wäre er auf halber Höhe an selbiger fest getackert. Sein Gesicht schlabberte und wabberte wie Wackelpudding im Luftstrom, als würde er beim Tiefflug eines Tornado-Kampfjets aus dem Cockpit schauen. Oder vielleicht beim Start des Space Shuttles direkt hinter den Feststoff-Boostern stehen. Vielleicht noch treffender wäre, als würde er beim Indie 500 Rennen als Kühlerfigur auf einem dieser Rennboliden sitzen oder nee, noch besser, als würde er beim Einschlag einer Cruise Missile direkt auf dem Sprengkopf sitzen. Am Ende des Liedes, als er wie ein an die Wand geklatschtes Ei langsam nach unten rutschte, drückte er uns völlig konsterniert den Schlüssel in die Hand, schaute seinem Sohn kurz und tief in die Augen und gab ihm damit zu verstehen: „Komm Du mir nur nach Hause, Bürschlein.“ Ich glaube er hatte Angst, uns jemals wieder sehen und zuhören zu müssen. Noch zitternd von den enormen Schallwellen, denen sein Körper ausgesetzt war und leicht orientierungslos von den wummernden Bässen, quälte er sich zitternd und unsicher zum Ausgang. Wenn ich darüber so nachdenke, haben wir ihn danach nie mehr wieder gesehen.
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"Blue eyes are shining and I feel my mind collapsing.
I love the way you walking and love the way that you talking.
I´m in love lay my hart to you feet.
I´m in love, I´m in love, I´m in love
(électrique: „I´m in Love“, unveröffentlicht.
Erste und einzige Aufnahme mit Dieter am Schlagzeug, bei der er sich gleich vertrommelt hat.)
Bald wurde uns klar, dass wir für zukünftige Verleumdungsklagen, Gerichtstermine, Plagiatsvorwürfe und mögliche Vaterschaftsklagen, dringend einen Bandnamen benötigen würden.
Erster durchaus kreativer und lustiger Vorschlag von Frank, wie wir fanden, war „Pink Rose.“ Wobei „Rose“ als Abkürzung für „Rosette“ stehen sollte. Hätte dann letztlich „Rosa Rosette“ bedeutet. Traf direkt unser Komikzentrum und sorgte für erhebliche Erheiterung im Proberaum. Wurde aber dann doch einstimmig abgelehnt. Wir befürchteten nämlich, aufgrund des Namens und des Eintrags ins Musiker-Branchenbuches nur noch für Schwulen-Clubs gebucht zu werden.
Keiner von uns hatte Lust, immer mit dem Arsch an der Wand durch die jeweiligen Clubs schleichen zu müssen. Allerdings wurden noch die Vorschläge „The Fistfuckers“ und „Faustgarage“ nachgereicht und wir kamen doch noch mal echt ins Grübeln. Aber mit Rücksicht auf das sicherlich noch immer angekratzte Verhältnis von Franks Vater zu unserer Band, wurden sie wieder verworfen.
Geschafft hatte es dann der Name „électrique“, angelehnt an das Lied „Our Friends Are Electric“ von Gary Newman, da dies das erste Lied war, das wir in der Besetzung gespielt haben. Kein Brüller, klar, aber schöner wie „Rosa Rosette“. Und uns standen nach wie vor alle homo- und heterosexuellen Bühnen und Clubs offen. Im Laufe der nächsten Probewochen fiel auf, dass Thorsten am Klavier immer öfters fehlte, was er mit der bevor stehenden Meisterprüfung entschuldigte. Ich persönlich glaube ja, ihm wurden unsere Ambitionen für die steil nach oben gehende Rockstarkarriere langsam unheimlich. Kurz darauf kam der schon erwähnte Saxophonist Andreas „ich hab noch ein Solo in F“, im Folgenden nur „Das Solo“ genannt, zu uns. „Ich hab noch ein Solo in F“, weil Andreas nicht Solis zum fertigen Lied komponierte, sondern sich ein sehr schön klingendes Solo, hier eben in F-Dur, erdachte und sich dazu ein Lied in der passenden Tonart suchte. Na ja, zu unserer und seiner Verteidigung möchte ich sagen, dass wir alle blutige Anfänger waren. Und Andreas´ Solo in F-Dur, war ein wirklich sehr schönes Solo. Als „Das Solo“ das erste Mal zu einer unserer Probe kam, rutschte unser Musikstil von da an runde 30 Jahre nach unten.
Wir fanden Gefallen an den Liedern aus den „Roaring Fifties“.
Und hier löste ich dann mein Versprechen der grausamen und eiskalten Rache ein, über das damals nur gelächelt wurde. Als Frank zu einer Probe später kam, da er noch etwas zu erledigen hatte, baute ich mit Jens, den ich für diesen heimtückischen Plan gewinnen konnte, kurzerhand das komplette Schlagzeug um. Als erstes bauten wir die Double-Bass-Fußmaschine ab. Dieses ständige Double-Bass-Bum-Bum-Bum-Dauerfeuer bei Peter Kraus´ “Sugar Baby“ passte halt einfach nicht. Aber Frank war der Meinung, er hätte diese Fußmaschine nun halt mal, also müsse er sie auch benutzen. Danach schraubten wir die Hängetoms ab, stellten die überflüssigen Becken und das Standtom beiseite und ließen ihm nur noch Snare- und Bassdrum, das Hihat und ein Becken, dass nach einer Mischung aus Ride- und Crashbecken klang und modifizierten es so, dass er zukünftig im Stehen trommeln musste. Wie Slim Jim Phantom, der Drummer der Straycats oder Peter Behrens, Schlagzeuger von Trio. Jens und ich freuten uns diebisch über unser teuflisches Vorhaben und konnten die Ankunft von Frank kaum erwarten. Frank kam, betrachtete sich kurz unser Werk, stellte sich wortlos hinter seine „Schießbude“ trommelte ein, zwei Minuten wütend darauf herum. Danach machte sich ein Grinsen breit und er sagte: „Cooool, muss ich nicht mehr so viel schleppen“, dann war das Thema durch. Frank trommelte ab da im Stehen. Ich muss zugeben, dass mich dieser reibungslose Ablauf ein klitzekleines bisschen ärgerte. Ab da rockten und rollten wir, swingten und jiveten, wir twisteten und shouteten, razzelten und dazzelten und zeigten Elvis, wo beim Pavian die Hupe hängt. Wir besorgten uns schwarze Stoffhosen, schwarz-weiß gestreifte Baseball-Trikots und föhnten uns die Haare zu Tollen. Wir legten Geld zusammen und kauften drei von diesen Elvis-Mikrofonen, die im Inneren die Technik von guten Shure-Mikrofonen hatten und Jens tauschte seinen Fender Jazzbass, gegen einen tschechischen ¾ Kontrabass. Meine Gitarre, einen schlechten Rikkenbecker-Nachbau, gab ich in Zahlung und besorgte mir eine dicke halbakkustische Washborne, die von weit weg betrachtet, durchaus etwas Ähnlichkeit mit einer Gretsch hatte. Von sehr weit weg betrachtet. Eine echte Gretsch konnte sich ja keiner leisten. Es gab und gibt durchaus Musiker, die für so eine Gitarre einen Auftragsmord begehen würden. Ich setzte den Erwerb mehrerer solcher Gitarren ganz oben auf meine To-Do-Liste, wenn wir erst mal bekannte Rockstars sein würden. Ab hier wurde auch klar, dass wir den ersten Bandnamenswechsel vornehmen müssten. Denn „électrique“ klang irgendwie unpassend und nicht dem Musikstil entsprechend. Und wieder zogen wir uns zur Konklave zurück und schon nach kurzer Beratung stieg weißer Rauch über unserem Proberaum auf. Nachdem die Feuerwehr wieder abgerückt war und den brennenden Abfalleimer am Eingang des Gebäudes, der durch eine unserer Kippen in Brand geraten war, gelöscht hatte, hieß es nach einer weiteren halben Stunde: „Habemus Bandname“. „The Studebakers“ war der Name, der uns ab da ganz nach oben in die Charts begleiten sollte.
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Wir probten jetzt ein bis zwei Mal die Woche. Ziel war es, ein Repertoire von etwa einer Stunde zusammen zu bekommen, um endlich die Bühnen dieser Welt zu rocken.
Uns rannte nämlich die Zeit weg. Wir wollten noch jung genug sein, wenn wir das erste Hotelzimmer als Rockstars zerlegten. Man sollte uns das noch als Jugendsünde verzeihen können: „Die wollen doch nur spielen, die tun doch nix“, sollte unser Manager in diesem Fall sagen können und entschuldigend die Schultern heben. Wir wollten auf der Spitze unseres Erfolges noch so jung, attraktiv und „charming“ sein, dass der Hoteldirektor uns bei der Abreise lächelnd und gut gelaunt auf die Schulter klopfen und uns glaubhaft versichern würde, dass er sich auf das nächste Mal ganz besonders freuen würde. Einen Manager müssten wir uns für so Fälle natürlich dann noch besorgen. Ist klar. Und endlich war es soweit. Wir wurden für unseren ersten Auftritt gebucht. Um genau zu sein, zogen wir um einen Auftritt bettelnd, von Jugendhaus zu Jugendhaus, bis ein offener Jugendtreff in einem Stadtteil uns eine Chance geben wollte und uns seinen Veranstaltungsraum zur Verfügung stellte.
Wir bestachen einen Bekannten mit dem Versprechen, ihn nach unserem musikalischen Durchbruch mit Backstage-Pässen zu versorgen, wenn er uns ein Plakat entwerfen würde. Wir nahmen dieses Versprechen allerdings postwendend zurück, als wir dieses Kinder-Krickelkrackel-Plakat sahen, welches er uns da andrehen wollte. Die Tatsache, dass er strahlend verkündete, die Plakate schon zigfach in der Stadt aufgehängt zu haben, verbesserte seine Situation nicht unbedingt.
Am Tag des Auftritts wurden dann auch unsere schlimmsten Befürchtungen leider bestätigt, als wir im Jugendzentrum Horden von herumtollenden Kindern und ihre Mütter und Väter antrafen. Offensichtlich erweckte das Kinder-Krickelkrackel auf dem Plakat den Eindruck, es würde sich um eine lustige Kinderband handeln, die die Unterhaltung ihrer Halbwüchsigen übernehmen würde. Das und natürlich die 30-40 Kumpels und Bekannte von uns, die kamen um unser erstes echtes Konzert zu bejubeln, ergaben eine sehr merkwürdige Mischung. Zwar schauten die Eltern schon etwas skeptisch, als Jens seine zwei 30“ Roland-Bassboxen in den Konzertraum rollte. Meine Marshall-Box und mein Gitarrenverstärker wirkten in dem kinderzimmergroßen Veranstaltungsraum dagegen fast zierlich. Mit der zusätzlich für diesen Anlass angemieteten und möglicherweise etwas überdimensionierten Gesangsanlage, ergab das eine durchaus beeindruckende Lautsprecher-Wand. Als wir den Soundcheck machten, wurden den ersten Kindern zur Sicherheit zusammengeknüllte Taschentücher und Wattekugeln in die Ohren gestopft. Gott sei Dank konnten wir auch hier, dank unserer mörderischen Lautstärke, sehr schnell wieder das Kräfteverhältnis herstellen und panische Eltern zerrten ihre verschreckten Kinder an die frische Luft. Wir hatten mal gehört, dass das amerikanische Militär in der Wüste von Nevada Versuche machte, mittels extremer Schallwellen angreifende Gegner außer Gefecht zu setzten. Diese Versuche wurden wegen ihrer zweifelhaften Erfolge eingestellt. Wir lieferten hier nun schon den zweiten Gegenbeweis. Der Auftritt als solches, obwohl unser erster, verlief erstaunlich routiniert und unspektakulär. Zumindest bis zu dem Augenblick, als „Das Solo“ während eines Saxophonsolos mit einer schwungvollen Bewegung die obere Reihe Zähne eines Besuchers, einer außerordentlich gründlichen Extraktion unterzog. Obwohl die ganze Situation sicher recht tragisch und schmerzhaft war, entbehrte sie doch nicht einer gewissen Komik, als der „Extraktionierte“ laut fluchend durch die Menge taumelte, sich die Hand vor den Mund hielt und nach seinen Zähnen suchte: „Daf Arfloch hat mir die Fähne aufgeflagen. Verdammte Feife, Mann. Meine Fähne, meine ganfen Feif-Fähne sind weg, oh Gott. DU ARFLOCH MIT DEINEM FEIF-FAFOFON!“
Ich stelle mir das schon irgendwie merkwürdig vor, wenn man sich in einer persönlichen Notsituation glaubt und alle, die außen herum stehen, mit dem Finger auf einen zeigen, sich die Bäuche halten und einen hemmungslos auslachen.
Gott sei Dank war dann alles doch nicht so schlimm wie es zuerst aussah. Es waren letztlich auch nur zwei Zähne und beide fanden sich beim Durchkehren wieder. Bevor wir am nächsten Tag unsere Instrumente und die Anlage zurück in den Proberaum brachten, fuhren wir die Zähne, in einem Becher mit Eiswürfeln schwimmend, bei seinem Besitzer vorbei. Ich meine, wir wussten ja jetzt auch nicht so genau, was man mit ausgeschlagenen Zähnen macht. Abgetrennte Gliedmaßen soll man ja auch eher kalt halten, also holten wir uns bei McDonalds einen Becher, holten von der Toilette etwas Wasser und schmissen die beiden Zähne zusammen mit ein paar Eiswürfeln rein. Andreas entschuldigte sich wort- und gestenreich bei „Naf Naf“, wie er fortan wegen seiner zahnlosen Lispelei bei uns hieß. Allerdings zuckte „Naf Naf“ bei jeder Bewegung, die seinem Gesicht zu nah kam, verschreckt zurück: „Hey Mann, tut mir echt leid, aber wenn man da so drin ist, in der Musik und es klingt gut und so. Dann passt man halt mal nicht so auf. Da schaltet man komplett aus. Man ist da wie in einem Tunnel. Das ist die Musik, ne.“ „Ja, Mann. Kann if fon verfehen. War fon ne geile Mucke.“
Mucke? Hat der grad echt Mucke gesagt?
Jeder Mensch hat so bestimmte Auslösemechanismen, die spezielle Reaktionen hervorrufen, wissen Sie? Bei dem einen genügt ein Geräusch oder ein Geruch. Bei dem anderen muss man den roten Knopf schon erheblich tiefer und fester drücken, um ihn zu aktivieren. Meine Zündkapsel ist, unter anderem das Wort „Mucke“. Wissen Sie, dass Wort „Mucke“ ist eigentlich ein Volumenmaß für Getreide in Antwerpen und hat mit Musik so jetzt eher weniger zu tun. Es heißt richtig „Mugge“, mit Doppel-g und kommt ursprünglich aus der DDR und bedeutet Musikalisches Gelegenheitsgeschäft. Also, nicht Musik hören, sondern Musik machen und zwar gegen Geld.
Als ich das Wort Mucke hörte, schaute ich wie durch eine blutrote Wand des Zorns. Hätten mich meine Bandkollegen nicht zurückgehalten, hätte ich „Naf Naf“ sicher einen dritten, vierten und möglicherweise auch noch einen fünften Zahn ausgeschlagen. Und den sechste noch zum Spaß obendrauf. Der siebte wäre dann aber echt die eigentliche Strafe gewesen: „MUCKE, ALTER? MUCKE? ICH ZIEH DICH GLEICH AUF LINKS, DU BROT. MUCKE? DAS WORT MUCKE GIBT’S GAR NICHT, OK? ICH KRIECH GLEICH LOCHFRAß, MANN. DU BIST DOCH FÜR´N MENSCH ZU BLÖD UND FÜR´N SCHWEIN HASTE ZU KLEINE OHREN, EY.“
Als mich meine Kollegen mit einem Gartenschlauch endlich aus dem Haus getrieben und mich in den Bandbus eingeschlossen hatten, hellte sich mein Tunnelblick langsam auf. Als man dem völlig verängstigten „Naf Naf“ vom Schrank herunter half, erklärte man ihm noch: „Hör zu, Mann. Um zu sagen, dass die Musik von einer Band gut ist, benutzt man so Worte, wie „geiler Scheiß“, „tolles Moped“ oder „geile Wurst“ und so. Und der Sound „funzt“, „knallt“ oder ist „fett“. Im Zweifelsfall geht aber auch: „geiler Scheiß“. „Geiler Scheiß“ ist immer, ok? „Geile Mucke hier“ sagen nur so Eier wie du, die keine Ahnung haben und ne Trompete nicht von nem Mofa unterscheiden können. Klar soweit?“ Da ich die Kindersicherung des Busses einfach nicht knacken konnte, brüllte ich „Naf Naf“ aus dem halb geöffneten Seitenfester zu: „Wenn ich Dich oder irgendeinen von Deinen Pseudo-Musikwissenschaftlern noch einmal über die „geile Mucke“ philosophieren hören, dann schieb ich Dir´n Jazzbass in den Arsch, hörst Du?“
Ein Jazzbass zeichnet sich dadurch aus, dass er einen längeren Hals hat. Sollten Sie also jemals vor der Wahl stehen, entweder einen Epiphone Thunderbird E-Bass oder eine Ukulele rektal verabreicht zu bekommen, sollten Sie sich definitiv für die Ukulele entscheiden. Als echten Fan hatten wir „Naf Naf“ von diesem Augenblick an, glaube ich, endgültig verloren. Nicht, weil er unsere Musik nicht gut fand. Nein. Er hatte einfach Angst vor uns. Per einstweiliger Verfügung setzte er durch, dass wir uns ihm nicht bis auf weniger als 200 Meter annähern dürfen. War ok für uns. Wir hatten unseren Spaß gehabt. Nun sollte er in Frieden sein Leben leben dürfen.
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Was unserem Bandgefüge sehr gut tat, war ja die Tatsache, dass wir uns auch privat sehr gut verstanden. Also, eigentlich ist es sogar eher andersherum gelaufen. Wir waren vorher schon alle in einer Clique, spielten alle unsere Instrumente und beschlossen dann irgendwann, wir könnten ja mal zusammen Musik machen. Und so entstand die Band. Soll heißen, wir haben schon vorher in unserer Clique recht viel zusammen unternommen.
Beliebter Freizeitspaß zur damaligen Zeit, war das vollkommen sinnlose Herumfahren mit dem Auto. Nennt man heute „cruisen“ und können sich nur noch Ölscheichs mit eigener Ölquelle leisten. Etwa 1,50 DM kostete damals ein Liter Benzin und mit rund 50 Mark konnte man das Auto noch fast voll tanken. Hammer, oder? Sinnloses Herumfahren war also noch ohne schlechtes Gewissen möglich. Natürlich waren der Führerschein, das Auto, Versicherung, Kfz-Steuer und Benzin damals noch viel günstiger. Aber auch die Löhne der Lehrlinge waren geringer. In meinem ersten Lehrjahr als Kfz-Mechaniker bekam ich 290, im zweiten 340 Mark. Meine Kumpels verdienten nicht viel mehr. Mein erster Käfer kostete 800 Mark. Wir hatten das Geld von unseren Lehrlingsgehältern zusammen gespart, vielleicht noch einen Teil von den Eltern geborgt und pflegten und hegten sie, wie ein kleines Königreich. Wir bastelten daran herum, schraubten hier und verschönerten dort, holten uns Tipps von anderen Bastlern. Wichtig war das Buch „Jetzt helf ich mir selbst“, eine Bastel- und Schrauberhilfe, die es für jedes Auto gab. Gab es für Käfer, Golf, Opel und was man sonst noch so fuhr. Alles konnte man noch selber machen. Bremsbeläge und Bremsschreiben oder Kupplung wechseln, Motor- und Getriebeöl wechseln und die ganzen Tricks und Kniffe, die man kennen musste. Wenn der Käfer nicht anspringen wollte, mit dem Hammer gegen den Anlasser schlagen, Heizklappen mit Schweißdraht festbinden, damit im Winter die Heizung ging, waren zum Beispiel Tipps, die da im Buch standen. Ab 140 klapperte jeder Corsa, jeder Panda, jeder Fiesta so erbärmlich, dass man auf höhere Geschwindigkeiten gerne verzichtete. Mein Käfer erreichte die 140 nur sehr selten und bei der Ente meiner Schwester stand die Zahl 140 gar nicht erst auf dem Tacho. Aber es war herrlich, einen eigenen Wagen zu besitzen. Es bedeutete für uns eine neu gewonnene Freiheit und Unabhängigkeit. Wir besaßen die Independenz, einfach zu sagen, wir fahren jetzt irgendwohin, auch wenn unser „Irgendwohin“ dann nur eine Fahrt durch den Spessart war. Meistens fuhr Roggie, einer meiner besten Kumpels damals oder Jens. Und das nicht, weil die beiden die besten Autos hatten, oh nein, Roggie hatte einen rostigen, roten Golf 1 und Jens einen ebenso rostigen, dafür weißen Ford Fiesta. Jens war aber, bei aller Mühe die er sich gab, ein nur eher mittelmäßig begabter Autofahrer. Ach was, sagen wir, wie es war. Er war ein mieser Fahrer. Ein richtiger mieser, sogar. Jens hätte es nicht mal geschafft, einen Einkaufswagen durch die Aldi-Gänge zu schieben, ohne wo dagegen zu stoßen. Er schaffte es irgendwie nicht, mit seinem bekackten Fiesta an der Ampel an zu fahren, ohne einen riesigen Satz nach vorne zu machen und uns wie bescheuerte Fahranfänger dastehen zu lassen. Gott, war das peinlich. Nein, der Grund, warum wir Jens´ oder Roggies Auto benutzten war, dass sie die besten Anlagen im Auto hatten. Letztlich war es aber immer Roggie, der fuhr. Das hatte einen einfachen Grund. Sein Vater arbeitete damals in der örtlichen Brauerei und hatte als solcher das Recht, auf den monatlichen Haustrunk. Jedem Mitarbeiter der Aschaffenburger Heylands Brauerei, stand jeden Monat, zusätzlich zum Lohn, eine gewisse Menge an freien Getränken zu. Das waren wohl immer so acht oder neun Kisten Bier. Natürlich ist Roggies Papa nicht mit uns abends im Auto durch die Walachei gefahren, aber Roggie hatte immer eine volle Kiste Bier im Auto. Immer. Wirklich immer. Und darum war in Roggies Golf immer die Bar geöffnet. Nur die Gäste haben öfters gewechselt. Mal der, mal der, aber immer einer aus der Clique. Dann fuhren wir durch den Spessart, hörten Musik und quatschen so über alles, was uns damals wichtig oder auch unwichtig erschien, über das aber gesprochen werden musste.
Über die Arbeit, über Musik, natürlich über Mädchen und über alles andere. So lösten wir unsere Probleme. Ein netter, kleiner Gesprächskreis unter Männern in einem Auto. Alles war cool.
Ja, ja, ja, ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen: „Wie kann der denn hier erzählen, dass Auto fahren und dabei Bier trinken cool sein kann? Das geht doch nun echt nicht. Das weiß ja nun wirklich jeder. Und was sollen denn die Kinder hier denken?“ Damit haben Sie natürlich auch vollkommen Recht und ich möchte das auch nicht schön reden oder entschuldigen. Aber es war nun mal so und drum erzähle ich es auch. Im Vergleich zu heute war damals aber auch noch viel weniger Verkehr. Wir sind oft ewig durch die Gegend gefahren, ohne auch nur ein einziges anderes Auto zu sehen. Das bedeutet freilich nicht, dass es weniger gefährlich war. Wir hätten uns auch vollkommen alleine sehr kunstvoll um eine knorrige Spessarteiche wickeln können. Aber wir waren keine Freaks, die aufgepeitscht von stampfenden Techno-Beats und merkwürdig bunten Tabletten mit anderen Autofahrern im Renntempo zur nächsten Disco rasten. Nein, wir fuhren im Tempo der Sonntagsfahrer über gewundene Spessartsträßlein und durch Ortschaften und erreichten eher selten die erlaubten 100 km/h auf Landstraßen. Eigentlich fehlten nur noch die gehäkelte Klorolle und der Wackeldackel auf der Hutablage.
Es ging uns ums Unterhalten, nicht ums Rasen. Und in Polizeikontrollen sind wir oft genug gekommen. Eben weil damals noch so wenig los war, war ein einsames, langsam fahrendes Auto für die Polizei Grund genug, mal etwas genauer nach zu schauen. Es war bestimmt auch eine nette und willkommene Abwechslung in der langweiligen Nachtschicht. Aber nicht ein einziges Mal war der jeweilige Fahrer über die 0,8 Promille gekippt. Außerdem sag ich ja auch nicht, dass es richtig war. Aber es war eben so und ist damit Teil der Geschichte.
Das Stammpersonal unserer Clique bestand wohl so aus etwa 15 Leuten. Sowohl Singles als auch Pärchen. Und dann gab es natürlich noch hier und da wechselnde Gäste. Alles in allem dürften wir 20 Leute gewesen sein, wenn wir alle unterwegs waren. Ganz entgegen den heutigen Gepflogenheiten, waren wir früher so oft es möglich war, im Freien. Im Freien zu sein, war damals unser soziales Netzwerk, unser facebook. Sobald es die Temperaturen zuließen, fuhren alle zusammen an einen Baggersee in der Nähe und wir nisteten uns da oft von Freitagabend bis Sonntagabend ein. Wir sammelten Geld und kaufte an einer Tankstelle was zum Trinken und zum Grillen, womit unsere Grundbedürfnisse fürs Wochenende abgedeckt waren. Das war jetzt nicht so richtig echtes Campen, niemand stellte Zelte auf oder so was, aber es hatte doch so dieses Flair. Der eine pennte im Auto, der andere schlief im Schlafsack, einfach so draußen auf dem Boden, oder man leistete sich noch den Luxus einer Isomatte.
Ein angenehmer Zufall war die Tatsache, dass wir alle irgendwie auf die Fiftys abfuhren. Stefan, ein Kfz-Elektriker, hatte das Auto mit der besten HiFi-Anlage und er opferte regelmäßig völlig selbstlos seine Autobatterie. Wenn wir dann am Sonntag nach Hause fuhren, wurde seine Batterie einfach mittels Stromstoß aus einem anderen Auto defibrilliert. Aus Stefans Autoradio dröhnte das ganze Wochenende ständig irgendwelche Kassetten mit Musik aus den 50ern. Bill Haley, Dion and the Belmonts, Elvis natürlich, alles aus dem Film „The Wanderers“ und ebenso alle Soundtracks der „Eis am Stiel-Filme“, die wir damals ziemlich gut fanden. Die Tatsache, dass wir die Filme gut fanden, weil man Sybille Rauchs Hupen sehen konnte, bestreite ich aber an dieser Stelle nachdrücklich. Wir durchlebten in der Zeit unsere 50er Jahre, unser ganz eigenes „Stand by me“.
Manchmal setzten wir uns auch in die Autos und fuhren noch mal woanders hin um andere Leute zu treffen oder einfach, um was zu unternehmen. Also quasi Vorglühen am See und dann um die Häuser ziehen.
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Unser Aschaffenburger Volksfest war die einzige, vom Rathaus legitimierte, Großorgie fürs Volk. Natürlich war das eine Pflichtveranstaltung für uns. Oft waren einzelne von uns sogar täglich da. Am letzten Abend aber, liefen wir immer unter vollen Segeln mit kompletter Besatzung auf. Der letzte Abend war schon immer irgendwie was Spezielles. Eine besondere Stimmung lag da in der Luft.
Schnitt.
Neue Szene:
Außen - Volksfest:
„Eine Horde 12jähriger läuft über das Aschaffenburger Volksfest.“
Kamera läuft, Ton läuft – Kamera langsam aufziehen -
Klappe: Volksfest eins, die Erste: …. und bitte
Schon die ersten Plakate, die uns auf das Volksfest aufmerksam machten, versetzten uns in helle Aufregung. Wir konnten die Ankunft des fahrenden Volkes, der Händler, Gaukler, Narren und Taschenspieler und ihr buntes Treiben kaum noch erwarten. Unseren Eltern lagen wir quengelnd und nervend in den Ohren, bis sie uns endlich am Kindernachmittag auf das Volksfest ließen.
Wir zogen durch das bunte und laute Labyrinth der Volksfestgänge und hörten von überall her die laute Musik dröhnen. Wir standen staunend vor der „Wilden Maus“, einer alten, knarzenden Holzachterbahn für die ganze Familie. Wir blickten ängstlich auf die blitzende und blinkende „Krake“, diesem furchteinflößendem Monster aus Metall, wie es brüllend mit ihren Fangarmen Menschen wie Playmobilmännchen umherwirbelte, die verrückt genug waren, sich in die Gewalt dieses elektrischen Ungetümes zu begeben. Wir fürchteten uns vor der Geisterbahn, die im Sekundentakt mutige Fahrgäste verschlang und durch ihre schummrigen Gänge karrte. Es öffneten und schlossen sich krachend Türen, es rasselten die Ketten fürchterlicher Geister und abscheulicher Zombies und zerfledderte Leichen lachten irre in dem dunklen Labyrinth. Ein paar Jahre später würden wir genau diesen Ort aufsuchen, um mit unseren ersten Freundinnen ungestört zu knutschen. Wir rochen den Duft von gebrannten Mandeln, kandierten Äpfeln, Bratwürstchen und selbst hergestellten Kräuterbonbons. Die Zuckerwatte zog weiße Fäden wie feine Spinnweben in den rotierenden Kupferkesseln und wir bewunderten die Schützen an den Schießbuden um ihre Zielgenauigkeit, mit der sie die sich im Kreis drehenden Hasenattrappen trafen und mit einem metallischem „Klack“ umkippten.
Schnitt.
Neue Szene – Traumszene „Schlemmis Traum“
Innen – Kinderzimmer: Schlemmi liegt im weißen Frotteeschlafanzug mit kleinen, blauen Schiffchen drauf im Bett und träumt sich vom 12jährigen Burschen zum rotzfrechen 15jährigen.
Bilder fliegen im schnellen Bilderwechsel und kurzen Schnittfrequenzen vorbei:
Kindergeburtstage – Eier aufschlagen beim Bonanzarad fahren - erste Schultheateraufführung – Blockflötenkonzerte – Bundesjugendspiele – Geburtstagsfeten im Partykeller – Knutschen mit Susi beim Flaschendrehen – Erdbeerbohle in Nachbars Garten kotzen – erstes Erwachsenenfahrrad.
Wir mutieren von einer Horde 12-jähriger zu pubertierenden Jugendlichen.
In den Augen unserer Eltern standen wir kurz vor der Schwelle zur Schwerkriminalität, mit florierenden Kontakten zum Frankfurter Rotlichtviertel. So standen wir als picklige Erstrocker mit Fuchsschwanz am Mofa, zurück gegelten Haaren oder geföhnten Tollen, hoch geschlagenem Kragen und umgeschlagenen Hosen am Autoskooter. hochroten Kopf daneben.
Schnitt.
Neue Szene.
Außen – Volksfest:
„ Noch drei Jahre später und die gesamte Clique vom Baggersee, macht am letzten Abend ihren obligatorischen Volksfestrundgang.“
Kamera läuft, Ton läuft – Kamera langsam aufziehen -
Klappe: Volksfest ein, die Dritte: …. und bitte
Wir waren schon lange keine pubertierenden Schulpflichtigen mehr, sondern rotzfreche Gebrauchtwagenbesitzer. In den Augen unserer Eltern hatten wir längst den ersten Mord begangen und kontrollierten das Frankfurter Rotlichtmilieu. Und wieder standen wir auf dem Volksfest, waren bedeutend cooler, gefährlicher und böser geworden. Zumindest glaubten wir das. Wir trafen uns am frühen Abend am Autoskooter, gegenüber dem Eingang des großen Bierzeltes. Da, wo früher oder später jeder vorbei kam. Wir wollten ja auffallen, wir wollten provozieren. Wir standen, streng nach Gruppen sortiert, in verschiedenen Ecken des Autoskooters. Die „Gang“ stand an der einen Stirnseite. Die „Gang“ war damals der Inbegriff der Bandenszene. Sie traf sich am Bahnhof und alle, die da nicht unbedingt hin mussten, mieden den Bahnhofsvorplatz. Dabei machten die eigentlich nix. Die waren halt einfach da und hingen da herum. Die „Mini-Gang“, sozusagen die „Castingshow“ der „Gang“, stand direkt neben ihrer „Jury“. Die „Punks“ waren hier, die „Skins“ da und die „Mods“ dort. Ein Phänomen in unserer Stadt. Normalerweise können sich Punks, Skins und Mods aufgrund ihrer Philosophie nicht ausstehen. Punks sind eher links und Skins rechts orientiert. Die Mods sind irgendwas dazwischen. Politisch gesehen. Bei uns gab es dagegen viele „Oi-Skins“. „Oi-Skins“ sind so die „It-Girls“, die Paris Hiltons unter den Glatzen. Die machen nix. Die wollen nur spielen. Die waren so, wie diese kleinen, genmutierten Ratten, diese winzigen Handtaschen-köter der Promis, die im Schutze ihrer Herrchen jeden erst mal ankläffen, dann aber Angst vor der eigenen Courage haben und abhauen. Da es sowohl von den Skins, von den Punks, als auch von den Mods nur eine Hand voll gab, beschlossen sie, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen und lieber zusammen zu saufen. Das machte irgendwie auch mehr Spaß.
An der anderen Stirnseite, direkt neben der Kasse, gab es noch die „Wanderers“, die neben den „Depeche Mode-Typen“ standen. Die „Depeche Mode-Typen“ waren so eine Splittergruppe der „Gang“. Eigentlich waren die gar nichts, irgendwie weder Fisch, noch Fleisch. Die hörten nur Depeche Mode und trugen alle so schwarz-weiße College-Jacken mit dem Depeche Mode Logo drauf. Fertig. Die „Wanderers“ waren unsere Teddyboys. Die Jungs trugen alle Leder- oder Jeansjacken, mit dem Logo der „Wanderers“ auf den Ärmeln, wie aus dem gleichnamigen Film.
Sie föhnten sich die Haare zu Tollen, trugen Creepers, Jeans oder Bundfaltenhosen. Die Mädchen hatten Blusen und Cardigans an, trugen Pettycoats und hatten sich die Haare zu Pferdeschwänzen gebunden. Alles so auf Fiftys, eben. Einige hatten sogar ältere Autos. Also, die hatten wir auch, aber ein alter, rostiger Golf ? war nun eben jetzt kein Oldtimer. Ein alter Opel Kapitän oder Ford Taunus 17M, dass waren schöne alte Autos. Mit den „Wanderers“ sympathisierten wir ein wenig. Schon alleine wegen der Klamotten. Auch wir sahen ja so ein bisschen nach Fünfzigerjahre aus. Der Stadtteil aus dem sie kamen, dem Hefener-Alteneck, war das, was man in diversen RTL-Reportagen wahrscheinlich „sozialer Brennpunkt“ nennen würde. Warum man diesen Stadtteil auch „Fort Yuma“ nannte, wusste aber keiner so genau. Hatte aber wohl was mit dem amerikanischen Soldaten zu tun, die hier stationiert waren. Die „Fort Yumas“ waren alle irgendwie nicht die hellsten Kerzen auf der Torte, dass wussten wir. Gewisse Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten mit ihnen wurden gerne mal handwerklich rustikal und unmissverständlich geklärt. Das machte sie jetzt nicht unbedingt zu unseren besten Freunden, aber es war gut, sie zu kennen, wenn es mal Ärger gab. Richtig gefährlich war allerdings keine dieser ganzen Gruppen, auch wenn man vermied, mit ihnen Ärger zu bekommen. Meistens eilte ihnen allen nur ihr vermeintlich schlechter Ruf voraus. Der Trick war, von jeder Gruppe ein paar Leute zu kennen. Gab es dann mal Ärger, hieß es: „Den kenn ich. Lass mal. Der ist ok.“
Ach ja und die amerikanischen GIs waren natürlich damals auch noch da. Wir hatten zu dieser Zeit noch mehrere Kasernen in Aschaffenburg. Ready Barracks, Smith Barracks, Fiori Barracks und die Jaeger Kaserne. Mussten wohl alles in allem etwa 6000 GIs gewesen sein, was für unser Städtchen schon ganz schön viele waren. Die Burschen waren nicht sehr viel älter, wie wir und eigentlich waren das ja alles echt ganz nette Kerle, wenn man sie mal kennen lernte und die waren sogar in der Regel sehr dankbar, wenn sie mal mit Leuten reden konnten, die keine Uniform trugen. Der Dollar stand damals sehr gut und sie waren darum oft recht spendabel. Sie luden uns in ihre Housing Areas ein, es wurde gegrillt, es gab zu essen und zu trinken und coole Musik hörten die auch. Die Jungs hatten zum Teil nur ein Problem. Wenn sie ihren Sold bekamen, fuhren die mit den Taxis in die Stadt runter. Dort tranken unser gutes Heylands Bier und das Zeug sprengte ihnen immer dermaßen die Birne weg, weil es halt etwas stärker war, wie ihre Miller-Plörre und na ja, dann machten sie leider oft Ärger. Darum blieben ihnen irgendwann so einige Aschaffenburger Kneipentüren verschlossen. Auf das Volksfest aber durften sie natürlich und das machten sie dann auch.
Wirklich aufpassen musste man aber auf unsere Rocker. „Heavens Own“, nannten sie sich. Mit denen sollte man sich besser wirklich nicht anlegen. Das hätte tatsächlich böse enden können. Berührungspunkte gab es mit denen eigentlich nicht. Die blieben unter sich und wollten auch mit niemanden etwas zu tun haben. In der Regel kamen die nicht auf das Volksfest, da das ihrer nicht würdig war. Die trafen sich schräg gegenüber des Volksfestplatzes in ihrem Clubhaus. Es gab eine Kneipe in der Innenstadt, die, so sagte man, in fester Hand der Heavens Own war. Da ging auch eigentlich keiner sonst rein, es sei denn, er wäre ein professioneller Gefahrensucher gewesen. Man erzählte sich, die Rocker hätten da Drogen verkauft. Ja klar, was denn auch sonst? Ich meine, dass Rocker nachts nicht in der Innenstadt unterwegs sind und fragen „Wolle Rose kaufen?“, verstehe ich ja noch. Aber müssen es denn immer gleich Drogen sein? Ist das nicht ein bisschen viel Klischee? Ich weiß ja nicht. Und das ist auch immer gleich bundesweit so oder? Rocker verkaufen immer und überall Drogen. In Emden genauso, wie in Garmisch. Von einem Besucher, der sich aus Versehen in die besagte Rockerkneipe verlaufen hatte, wurde berichtet, man hätte ihn kopfüber in eine Kloschüssel getaucht, bis er fast daran ertrunken wäre. Auch so ne Sache oder? Rocker versuchen immer und sofort, irgendwelche Leuten völlig grundlos das Licht auszuknipsen. Frag´ bloß nie einen Rocker nach dem Weg. Er wird Dich sofort umlegen, hörst Du? Na ja, aber andererseits würde es der Geschichte hier jetzt so ein bisschen den Witz nehmen, wären sie immer freundlich gewesen und hätten sie mundgeblasene Vasen verkauft. All die Mythen und Gerüchte, die sich um die Heavens Own rankten und eine tödliche Körperverletzung, die sich bei einer angeblichen Schießerei in dem Clubhaus ereignet haben soll, führten dazu, dass man das Clubhaus mit Hilfe von reichlich Polizei und Bulldozern irgendwann dem Erdboden gleich machte. Die Rocker bemühten sich aber aufrichtig, das Gerücht, es hätte sich damals nicht um eine Körperverletzung, sondern um einen echten Mord gehandelt, am Leben zu halten. Uns war es egal, was es war. Wir wollten nichts mit denen zu tun haben. Aber einmal kamen die Rocker dann während der einen Volksfestwoche doch immer auf einen kurzen Plausch rüber, auch um bei der Gelegenheit das Bierzelt einer gründlichen Flurbereinigung zu unterziehen. In der Regel waren dann die Amis auch das begehrte Ziel der Rocker-Flurbereinigung. Das ging dann schon sehr herzhaft zur Sache und die mit Maßkrügen bewaffneten Amis und die Ketten schwingenden Rocker gingen aufeinander los. Warum werden in sämtlichen alten Roadmovies eigentlich immer Rocker mit gefährlich schwingenden Eisenketten gezeigt? Irgendeine Idee dazu? Gegen die sportlichen und gut ausgebildeten GIs hatten die drögen und meistens etwas dicklichen Rocker aber nicht den Hauch einer Chance. Weswegen sie wahrscheinlich auch Jahr für Jahr erneut Satisfaktion einforderten. Beendet wurde dieser Kräftevergleich dann immer von der deutschen Polizei und der Militärpolizei. Die Militärpolizei schlug zuerst mal auf alles ein, was sich bewegte und irgendwie nach GI aussah. Fragen stellen konnte man später ja immer noch.
Während sich das Rocker-GI-Rumble vor dem Festzelt abspielte, drehten wir meistens schon recht angeschossen unsere Runde über das Fest. Wir zogen unter ständiger und zügiger Druckbetankung von einem Bierstand zum anderen und standen, wie früher als kleine Kinder vor der Wilden Maus oder der Krake. Nur das wir nicht wie früher, staunend über den Mut der Mitfahrenden, auf dieses Ungetüm starrten, sondern schwankend auf die hübschen Mädchen glotzten. Wir trottelten einmal über das gesamte Fest, bis wir am Ende vor dem legendären 3-D Kino stehen blieben. Das 3-D Kino. Wow. Kennt das noch jemand? Dieses große, rot-gelb gestreifte, kuppelartige Zelt, hinten an der Dreier-Looping-Achterbahn? Man stand dort vor einer riesigen Leinwand, die sich über die komplette Hälfte des Zeltes erstreckte, wodurch man das Gefühl hatte, in echt dabei zu sein. Man zeigte zum Beispiel einen Flug durch den Grand Canyon oder eine wilde Verfolgungsjagd durch L.A. Alles im Zeitraffer, damit es richtig schnell aussah. Die Leute schwankten hin und her, einige hielten sich fest, andere mussten sich sogar hinsetzen. Und ich ging hinaus und kotzte den Reis vom Mittagessen raus. Voll cool, dieses 3-D Kino. Ich schüttelte mich, bezahlte, ging noch mal rein, um den Rest zu sehen.
Direkt daneben stand der absolute Kracher, der Volksfestattraktionen, die Dreier-Looping-Achterbahn. Europas größte, transportable Achterbahn. Erst wurde man nach oben gezogen, dann ging es fast senkrecht nach unten. Linke Kurve, rechte Kurve, dann erst durch zwei Loopings, ein paar Kurven und dann der dritte Überschlag. Alles sehr hoch, sehr schnell, sehr ruckelig. Mit wackeligen Knien stieg ich aus und kotzte noch ne Portion Reis raus. Voll cool, diese Achterbahn. Ich wischte mir den Mund ab, bezahlte und fuhr noch mal mit. Man lief noch ein paar Platzrunden, aß hier was, trank dort was und schoss ein paar Rosen für seine Freundin an einer Schießbude. Das Aschaffenburger Volksfest war ein wahres Panoptikum an Kuriositäten. Letztlich landete man aber doch immer im Bierzelt. Wir bestellten Maß um Maß und standen irgendwann auf den Tischen und grölten Matthias Reims „Verdammt ich lieb Dich“ mit, gespielt von einer drittklassigen Odenwälder Rockband. Und immer kam diese „Schnaps-Tussi“ mit ihrem Bauchladen vorbei und quäkte ihr „Jägermeister, Apfelkorn, Schlüpferstürmer“ in die Runde. Wir fragten sie immer: „Haben Sie denn auch Tequila?“, woraus einige Maß später dann irgendwann „HassuauchnTekiela?“ wurde. Ich ging, irgendwann später, wieder raus und kotzte aber wirklich den letzten Reis und eine recht beachtliche Menge der verschiedensten alkoholischen Getränke raus. Voll cool, dass Bierzelt. Ich verwischte Klopapier und Reisreste auf meiner Jacke zu einem dunklen Fleck, schüttelte mich, wackelte wieder ins Zelt, bezahlte mein nächstes Maß, krabbelte auf den Biertisch und lallte der „Schnaps-Tussi“ ein „HassudennechtkeinenTekiela?“ entgegen.
Irgendwann hatten wir uns dann so dermaßen den Helm verdreht, dass aus dem Programmhöhepunkt der Odenwälder Rockband „We are the champions“ nur noch ein unverständliches „Wiarsetschämpijons“ wurde. Das Bierzelt war immer noch zum Bersten gefüllt und wir entschlossen uns dazu, Stellung am Autoskooter zu beziehen. Wir brüllten der „Schnaps-Tussi“ noch ein herzliches „WirwollndochnurnTekieladublödeKuhdu“ zu und wankten, ein wenig alkoholisiert, aber glücklich, aus dem Zelt. Vor dem Zelt war die Militärpolizei immer noch dabei, das Rocker-GI-Knäuel auseinander zu prügeln.
Die deutsche Polizei stand mit gebührendem Abstand daneben und schaute sich die Arbeitsprobe ihrer amerikanischen Kollegen an. Enttäuscht von der Passivität der jungen Einsatzkräfte, sahen wir uns dazu veranlasst, laut „Ihr Mädchen. Ihr Mädchen. Ihr Mädchen“ zu skandieren und ihnen unsere nackten Ärsche zu präsentieren. Könnte gut sein, dass das der Augenblick war, in dem sich die Herren der Polizei spontan dazu entschlossen, uns ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen, um uns einer doch sehr gründlichen Alkoholkontrolle zu unterziehen. Auf der Polizeistation. Man wollte einen Polizei-Bulli kommen lassen, um uns dorthin zu bringen. War aber keiner da. Alle im Einsatz. Auf dem Volksfest, bei einer Rocker-GI-Schlägerei. Also schickte man insgesamt fünf Polizei-Pkws, um uns zur Polizei zu karren. Wir waren ja insgesamt 14 Leute. Wir wollten gerne mit Blaulicht fahren. Wollten sie aber nicht. Die Röhrchenpusterei artete dann mehr und mehr in einen internen Wettkampf aus, bei dem allerdings auf das Heftigste betrogen wurde. Überall tauchten noch versteckte Alkoholreserven auf, um noch kurz vor dem Alkotest den Blutalkoholwert in die Höhe zu treiben.
Gewonnen hatte Andi, mit beeindruckenden 2,91 Promille. Er nahm seine Siegestrophäe, den Computerausdruck des Alkomaten, ohne Hilfe und aufrecht stehend in Empfang. Das brachte ihm sogar den Respekt des Polizisten ein, der die Auswertung vornahm.
Nachdem der notwendigen Bürokram, so mit Personalien aufnehmen und Ausweise abgleichen und was weiß ich noch alles, erledigt war, waren die Polizisten sogar so nett und brachten uns wieder zurück auf das Volksfest: „Wir müssen eh wieder dahin. Jetzt gehen doch die ganzen Streitereien zwischen den Paaren los. Wenn ER besoffen ist und SIE endlich nach Hause will“, hieß es.
Kurz vor 22.00 Uhr kündigte ein einzelner, lauter Kanonenschlag das obligatorische Abschlussfeuerwerk an. Ein paar Minuten später, ein Zweiter. Dann war für zehn Minuten so richtig Kambodscha. Zehn Minuten lang feuerte eine angemietete Feuerwerksfirma ihr „Piff-Paff-Puff“ aus allen Rohren in den Aschaffenburger Nachthimmel. Überall waren „Ooooohs“ und „Aaaaaahs“ zu hören, während im Hintergrund die Berufsfeuerwehr verzweifelt versuchte, einen Renault Twingo zu löschen, der durch einen Querschläger in Brand gesetzten wurde. Das glaubten sie zumindest. In Wahrheit nutzten die noch vor kurzem am Autoskooter stehenden Punks, die Situation schamlos aus. Endlich wollten sie ihren ersten Molotow-Cocktail zünden, den sie bis dahin gebaut hatten. Es sollte auch ihr einziger bleiben, denn dieser Brandsatz explodierte mit einer solchen Wucht, dass sich die Punks so dolle erschraken und sich mit sofortiger Wirkung auflösten.
Nachdem die letzten Feuerwerkskörper verglüht waren und als feiner Ascheregen zurück zum Boden schwebten, war das Volksfest offiziell zu Ende. Die verschiedenen Fahrbetriebe drehten ihre letzten Runden, im Bierzelten wurden die letzten überteuerten und schlecht eingeschenkten Maßkrüge verkauft, die Sanitäter kümmerten sich um die letzten schwer alkoholisierten 15-jährigen und am Autoskooter wurden die letzten Schlägereien ausgefochten.
Und das war es dann auch wieder für dieses Jahr.
Die Wochen und Monate zogen ins Land. Wir machten unsere Schulabschlüsse, begannen zu studieren oder unsere Ausbildungen.
Unsere folgenden paar Auftritte verliefen zur vollen Zufriedenheit aller und ohne weitere Zwischenfälle und wir erschienen das erste Mal auf dem Radar der zweiten Rock & Roll Band in unserer Stadt. Das war allerdings nur ein sehr schwaches Aufblinken, denn eine wirkliche Konkurrenz waren wir niemals für sie. Das wollten wir auch gar nicht.
Irgendwie bestand seit jeher eine stille und unausgesprochene Übereinkunft, dass die „Studebakers“ Aschaffenburg kontrollierten und unsere Kollegen den Rest der Welt. Das erschien uns ein fairer Deal.
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"We gonna razzle and dazzle, boppin´ and rockin´
We gonna meet us in a hurry behind the balls
We gonna rock, rock, rock, all the blues away.“
(The Studebakers: Rock & Roll Kings, unveröffentlicht,
Erste Studebaker-Aufnahme mit Andreas am Saxophon)
“Boppin´ Bunny and the Bebop Boys“, hießen unsere musikalischen Freunde. Dieser durchaus wortwitzige Bandname katapultierte die Druckkosten ihrer Plakate aber in geradezu astronomische Höhe, da dieser lange Name auf kein herkömmliches Papierformat passte. Darum nannte man sich zukünftig nur noch „Boppin´ B.“.
Wir spielten so einige Zeit nebeneinander her und lernten uns recht gut kennen. Jens nahm Bassunterricht bei Didi, dem Bassisten und ich nahm Gitarrenunterricht bei Golo, dem Gitarristen. Wir bekamen sogar den einen oder anderen Auftritt von den Boppins ab, wenn sie nicht konnten oder einen besseren Auftritt für den gleichen Termin annehmen konnten. So kamen wir ab und zu aus Aschaffenburg heraus und konnten uns in nicht allzu langer Zeit, einen ganz guten Namen machen. Wir schafften es sogar, uns einen gewissen Lokalmatador-Status zu erarbeiten. Natürlich nur solange, bis sich unsere Kollegen wieder mal nach Hause verirrten. Da wurden dann mal eben wieder geklärt, wo der Frosch die Locken hat. Kurz, knapp und ohne viel Worte. War aber auch völlig in Ordnung für uns. Ehre wem Ehre gebührt.
Einer dieser Auftritte oder Gigs, wie wir Musiker es nennen, den wir von den Boppins abbekamen, war im Marburger Irish Folk Pup „Molly Malones“. Er sollte als der Kürzeste in die Geschichte der Studebakers eingehen.
Wenn wir uns auf den Weg zu einem Gig machten, hatte das etwas von einem Klassenausflug. Wir beluden unsere Privatautos mit unserem Equipment und zogen, einer Karawane gleich, mit fünf Autos aus, um der Welt unser Liedgut kund zu tun. Ein bisschen viel Aufwand immer, aber durchaus im Rahmen. Durften wir aushäusig musizieren, lieh uns Thilo, ein Kumpel aus der Clique und Fan erster Stunde, den VW-Bus aus der Firma seines Vaters.
Für Gigs, bei denen wir die Räumlichkeiten nicht kannten, liehen wir uns eine kleine Gesangsanlage, für billig Geld. Sicherheitshalber. Wir packten also unseren ganzen Krempel in den Bus, kauften an der Tanke noch einen recht beachtlichen Biervorrat für die Fahrt und so machten wir uns auf den Weg, in das 100 Kilometer entfernte Marburg. Das war ein Gefühl, als ob wir auf Deutschland-Tournee gehen würden.
Interessant, wie kurz 100 Kilometer sein können und wie sehr man sich dann anstrengen muss, um die vielleicht etwas überdimensionierte Bierreserven zu vernichten. Soll heißen, dass wir in Marburg schon ganz schön angeschossen ankamen und uns redlich mühten, um unsere Equipment halbwegs vernünftig auf der sehr kleinen Bühne aufzubauen.
Wäre die Bühne breit genug gewesen, hätten wir, entgegen dem gängigen Bühnenbild anderer Bands, alle in einer Reihe gestanden. Franks Schlagzeug ganz links, rechts daneben dann Andreas mit dem Saxophon, dann ich mit der Gitarre, mehr oder weniger in der Mitte und ganz rechts der Jens mit dem Kontrabass. Da das auf dieser kleinen Bühne nicht möglich war, musste das Schlagzeug nach hinten und wir verteilten uns, so gut es eben ging. Die Boxen der Gesangsanlage, links und rechts an den Bühnenrand, Endstufen und Mischpult hinten an den Bühnenrand, neben das Schlagzeug. Beim Verkabeln der gesamten Anlage, passten wir immer auf, dass so wenig Kabel, wie möglich, auf der Bühne lagen. Kabel sind Stolperfallen, gehen schnell kaputt und kosten viel Geld. Wir hatten damals alle schon Sender an unseren Instrumenten, um einfach noch weniger Kabel auf der Bühne liegen zu haben. Außerdem konnte man sich damit besser bewegen. Kein Kabel, mit dem man sich verheddern konnte. Man befestigte den Sender irgendwo am Instrument, der Empfänger stand auf dem jeweiligen Verstärker.
Gleich noch mal etwas Technikkunde hinterher, weil ich weiß, dass Sie das brennend interessiert:
Wer sich schon immer gefragt hat, warum auf Gitarren- und Bassverstärker die Regler scheinbar verkehrt herum angebracht sind, lag das daran, dass diese Verstärker früher an der Front der Bühne standen. Solche großen Soundsysteme, wie man sie heute überall sieht, gab es damals noch gar nicht. Damit die Musiker möglichst schnell an die Regler kamen, waren sie so angebracht, dass man sie von der Bühne aus richtig herum sehen konnte. Bands wie die Beatles oder die Stones mussten damalige Konzerthallen mit diesen vergleichsweise winzigen Verstärkern beschallen, was technisch ein Ding der Unmöglichkeit war. Versuchen Sie mal, mit Ihrem iPhone Musik zu hören, während sich vier Ihrer Kumpels davor stellen und pausenlos „Aaaaaaaaaaah“ schreien. So in etwa können Sie sich ein Konzert in den 50ern vorstellen. Die vier Pilzköpfe haben sich damals oft „beschwert“, sich selber auf der Bühne kaum zu hören, wegen der tausenden von hysterisch schreienden Fans vor der Bühne. Von einem Klangerlebnis auf Live-Konzerten, war man damals noch meilenweit weit entfernt.
So. Interessiert keine Sau oder? Supi. Da hau ich doch gleich noch einen raus.
Ich möchte Ihnen gerne etwas Fachvokabular mit auf den Weg geben. Macht irgendwie einen schmaleren Fuß und klingt cooler. Sagen Sie doch in Zukunft auf einem Konzert: „Die Band klingt echt fett. Das funzt richtig gut.“ „Fett“ ist in Musikerkreisen eine durchaus amtliche Größe, um die Qualität des Sounds zu beschreiben. Die Steigerung von: „fett“ ist: „voll fett“. Ebenso ist „amtlich“ ein feststehender Begriff, um die Wichtig- und Richtigkeit einer Aussage zu unterstreichen. Gleichzeitig beschreibt es die Wertigkeit eines Instrumentes, eines Verstärkers oder sonst eines technisches Gerätes. „Funzen“ ist quasi der Wortstamm dazu. Wenn etwas „funzt“, umschreibt das sowohl die Amtlichkeit, als auch die Fettigkeit. Wenn also ein Lied „funzt“ ist der Sound „fett“ und handwerklich haben die Musiker eine echt „amtliche“ CD auf die Beine gestellt. Wenn Sie also zukünftig diese drei Wörter bei einem Gespräch mit Musikern hier und da einstreuen, wird man Ihnen durchaus ein gewisses Fachwissen zutrauen. Aber setzen Sie diese Wörter bitte sparsam ein. Nur bei Anfängern ist immer und alles fett, amtlich und funzt.
Aufgrund unseres Bierkonsums bestach unser Soundcheck weder durch Amtlichkeit, noch durch Fettigkeit und fiel darum irgendwie recht unprofessionell aus. Und ab hier nahm das Unheil dann auch seinen Lauf.
Da wir schon mächtig einen im Schuh hatten, fielen wir dem Wirt wohl schon unangenehm auf. Das Verhältnis zwischen uns verspannte sich vollends, als ich in der Toilette neben ihm stand. Ich versuchte, diese Fliege zu treffen, die immer auf Männertoiletten mittig in das Pissoir aufgedruckt ist und uns Männern das Zielen erleichtern soll. Die Fliege erwies sich aber plötzlich als sehr echt und trotzdem versuchte ich sie weiterhin zu treffen, was ich erwartungsgemäß nicht schaffen sollte. Den Wirt erwischte ich allerdings schon. Mein heraus gelachtes „Upsi“, schien ihm dann als Entschuldigung irgendwie nicht zu genügen.
Da das Aufbauen der Anlage und der Instrumente schwere körperliche Arbeit ist, glichen wir unseren Flüssigkeitsverlust sofort mit isotonischen Getränken aus. Dass die Sportmedizin herausgefunden hat, dass Bier eins der besten isotonischen Getränke ist, war der ganzen Sache nicht sonderlich zuträglich, ja, nicht einmal unsere Schuld. Wer wagt es schon, der Wissenschaft zu widersprechen? Als wir dann so gegen 21 Uhr auf die Bühne gingen, sofern man diese vier notdürftig zusammen geklöppelten Europaletten überhaupt Bühne nennen konnte, liefen wir quasi schon komplett auf Notstrom. Ich schnallte mir meine Gitarre um, Frank ging zum Schlagzeug, Jens nahm seinen Bass und „Das Solo“ hängte sich sein Saxophon um. Ein Saxophon ist ein sehr filigranes Instrument. Es hat viele Klappen und ein ausgeklügeltes System aus Gestängen und Tasten und ist daher recht empfindlich. Um es etwas zu schützen, stand das Saxophon immer irgendwo in der Nähe des Mischpultes, am hinteren Rand der Bühne. Da „Das Solo“ also eh immer am Mischpult und den Endstufen stand, um sein Sax umzuschnallen, hatte er auch die Aufgabe, den CD-Player auszumachen, die Endstufen und die Lautstärke am Mischpult hoch zu drehen, damit wir anfangen konnten. Er rief uns: „OK“ zu, was für den Rest der Band das Zeichen zum Anfangen war. Was dann passierte, war ja eigentlich nur eine Sache von drei, vielleicht vier Sekunden, aber für mich spielte sich das in so einer Art Superzeitlupe ab. Was aber in Filmen, sauteure Special Effects sind, war hier schlicht und ergreifend der Alkohol.
Als ich gerade anfing, dass Publikum zu begrüßen: „Hallo zusammen. Wir sind die Band „The Studebakers“ aus Aschaf……“, hörte ich im Hintergrund, so aus der Richtung, wo Andreas wohl stehen musste, zuerst ein „Scheeeiiiiißßßßeeeee“, dann ein „Kling“ oder „Pling“, so wie wenn ein Saxophonspieler mit umgehängten Saxophon, beim Umdrehen an ein randvolles Weizenbierglas schlägt und dies mit einem Schwapp direkt auf das Mischpult kippt. Ganz genau so klang das. Mein Gehör täuschte mich auch nicht. Denn dann hörte ich ein: “Bzzsssss“, gefolgt von einem: „Fluuusch“, was so ziemlich genau das Geräusch ist, wenn Flüssigkeit in ein elektrisches Gerät läuft. Danach hörte man noch mehrere dieser: „Bzzzssss´s“, gefolgt von diesem markanten: „Peng“, wenn eine Panzersicherung raus fliegt und es plötzlich sehr ruhig und sehr dunkel in einer Kneipe wird. Als erster in der gesamten Kneipe fand Jens seine Stimme wieder. „Das war mein Bier, du Arschloch. Los. Geh und hol mir ´n neues. “
Während der Herr der Marburger Stadtwerke mit einer Stirnlampe auf dem Kopf, auf Knien in einem finsteren Kämmerchen herum kroch und irgendwelche verschmorten Schaltkreise zusammen friemelte, hörte man ihn irgendwas von „...ganzer Häuserblock dunkel...“ schimpfen, was wir aber nicht so recht glauben wollten.
Das Mischpult war ja jetzt nun kaputt, also rollten wir Kabel zusammen und bauten die Anlage und Boxen ab, als wieder Licht in der Kneipe war. Was hätten wir denn auch sonst machen sollen? Wir versuchten unser albernes Gekicher auf ein Minimum zu beschränken, denn wir wussten da schon, dass das eine Geschichte war, über die wir noch in Jahren lachen würden. Schien uns für den Augenblick die beste Taktik zu sein. Den Wirt konnte man hinter der Theke solche Dinge wie „...Anfängerband...“, „...noch nie erlebt...“ und „...zu alt für diesen Scheiß...“ in seinen Vollbart nuscheln hörten und einige restliche Gäste wollten mittels Telepathie unsere Gehirne zum explodieren bringen lassen. So zumindest konnte man ihre Blicke deuten. Rundherum ein gelungener Abend. Ob der Wirt und seine Gäste das auch so empfanden, waren wir uns nicht so ganz sicher. Mit unseren restlichen Bierreserven machten wir uns wieder auf dem Heimweg.
Unnötig zu erwähnen, dass sich jegliche vertragliche Absprachen bezüglich der Gage, freiem Essen und Getränke mit dem Wirt erledigt hatten.
Danach folgte eine Weile ohne Auftritte, was aber nichts mit diesem Vorfall in Marburg zu tun hatte. Wir probten und erweiterten unser Programm. Jens und ich nahmen weiter Unterricht bei Didi und Golo und bauten dadurch auch die Freundschaft zu ihnen aus. Golo gehörte übrigens ebenfalls zu den Griffbrettglotzer-Hassern. Golo perfektionierte im Laufe der Jahre diese „Bloß-nicht-hinschauen-was-ich-spiele-Technik“ und erweiterte sie noch um verschiedene„Versuch-mal-zu-erkennen-welchen-Akkord-ich-als-nächstes-Spiel-Handbewegungen“. Das hatte schon fast etwas verspielt Arrogantes und sah immer lässiger und locker aus. Ich beneidete ihn darum und wollte es immer auch so gut können. An Wochenenden fuhren wir öfters zu Auftritten der Boppins, lernten dabei viel durch Beobachten und Zusehen und hatten eine Menge Spaß dabei. Die Wochen und Monate flogen so dahin und die Zeit ran uns wie der feine Sand einer Sanduhr durch die Finger. Die Schule neigte sich dem Ende zu, Abschlussprüfungen rückten näher und uns allen stellte sich die Frage, ich welche Richtung wir an dieser ersten Gabelung unseres Lebensweges nun weitergehen sollten? Entweder weiter zur Schule gehen und Abi nachmachen oder doch lieber eine Ausbildung beginnen? Oder aber ein ungemein erfolgreicher Rockmusiker werden, der weltweite Anerkennung und Verehrung genießt?
Zu diesem Zeitpunkt ploppte mir mal diese Idee auf, vielleicht zur Bundeswehr zu gehen. So als Berufs- oder Zeitsoldat. Die Idee war, mich eventuell vier Jahre zu verpflichten, dabei eine Ausbildung zu machen und gleich gutes Geld zu verdienen.
Natürlich hätte man auch als Zeitsoldat die normale Grundausbildung machen und durch den Dreck kriechen müssen, Orientierungsläufe mit schwerem Gepäck, marschieren bis zum Umfallen und Manöver durchstehen müssen. Aber mit einem Unteroffiziersanwärter-Sold von damals 1700 Mark robbt es sich bedeutend entspannter durch Matsch, Moos und Unterholz. Und 1700 Tacken wären im Vergleich mit den normalen Lehrlingsgehältern ein wahrlich fürstlicher Lohn gewesen. Und nach den vier Jahren hätte ich mich mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung vom Acker gemacht. Das war der Plan.
Man bestellte uns alle, die wir zur Bundeswehr wollten, nach München, um sowohl unsere physische als auch unsere psychische Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen.
Ich war etwas über den Zeitpunkt genervt, denn ich kam gerade zwei Tage vorher von meinem ersten richtigen Urlaub ohne meine Eltern zurück. Ich hatte mit meinen Kumpels im Zug halb Europa bereist und konnte dieses Gefühl nun gar nicht richtig genießen.
Ich fühlte mich unglaublich kultiviert und distinguiert, hatte den weitgereisten Seesack geschultert und schlenderte dort zur Baracke des wachhabenden Soldaten. Die letzten paar Tage unserer vierwöchigen Europarundreise verbrachten wir in Italien, dem modischen Mekka für Männer und waren klamottentechnisch absolut up to date. Man trug ein einfarbiges Polohemd und eine Jeansjacke, beides mit aufgestellten Kragen und eine gleichfarbige karottenförmige Jeans, bei der die Hosenbeine aufgerollt, nicht aufgeschlagen wurden. Dazu trug man, natürlich ohne Socken, hell- oder dunkelbraune Lederslipper mit Bömmelchen oder Trödelchen. Den Terminus Bömmelchen oder Trödelchen hatten wir nie so richtig ausdiskutiert, denn beides klang irgendwie ziemlich schwul und coole und braungebrannte Machotyp hatte erfahrungsgemäß weder Trödelchen, noch Bömmelchen an den Schuhen? Eine gefälschte Ray Ban Sonnenbrille auf den Augen, eine letzte Gitanes Mais, ein Überbleibsel vom Abstecher an die französische Atlantikküste im Mundwinkel, schlenderte ich zum Tor, drückte meine Einladung zur Eignungsfeststellung im Vorbeigehen an das Fenster des Wachhäuschens und war in Gedanken schon bei: „Bett oben oder Bett unten?“, als der Bursche da hinter mir her gerannt kam und mit erstaunlich lauter Stimme brüllte: „BLEIBEN SIE SOFORT STEHEN, DAMIT ICH IHRE PERSONALIEN AUFNEHMEN KANN UND NEHMEN SIE DIE KIPPE AUS DEM MUND, MANN. DASS IST MILITÄRISCHE SPERRGEBIET. UND WENN ICH SIE HIER NOCH MAL MIT NER SONNENBRILLE RUMLAUFEN SEHE, FALTE ICH SIE ZUSAMMEN, WIE EIN PAPIERFLIEGER UND KLOPP SIE IN DIE TONNE WIE EIN VOLLGEROTZTES TASCHENTUCH. HABEN WIR UNS VERSTANDEN?“
Ich überlegte kurz, was für Antwortmöglichkeiten ich auf so eine Frage jetzt wohl hätte und loggte schließlich Antwort B ein: "Ja, Sir, Drill Sergant, Sir. Alles in Ordnung, Sir." Das fand er aber dann auch wieder nicht lustig, der Gefreite Arschbacke. Er funkelte mich böse an, rieb sich mit den Zeigefingern die Schläfen und versuchte mich nieder zu starren. Und ab da begann für mich eine dreitägige Brüllorgie, denn ich besaß offentlich die seltene Gabe, mich bei jeder mir bietenden Gelegenheit so gründlich daneben zu benehmen, dass man sich auf Seiten der Bundeswehr dazu entschloss, nur im Brüllton mit mir zu reden. Aber so einen Umgangston war ich ja nun gar nicht gewohnt. Immerhin war ich weitgereister Kosmopolit und weltoffener Denker. Ich war ein Weltenbummler und gut aussehender Charmeur, hatte stets gute Laune und Sonnenschein im Gepäck. Ich war für vier Wochen durch Europa gereist, aber für den militärischen Dienst schien ich mich offensichtlich nicht so gut zu eignen. Obwohl ich durchaus Erfahrung im Umgang mit uniformierten Beamten hatte, denn ich war am legendären Bahnhof in Forbach, an der französischen Grenze. In Forbach, dem Nabel der Welt befindet sich DAS Ausbildungszentrum für französische Grenzbeamte. Hier waren äußerst gründliche Grenzkontrollen und der Satz: "Jetzt beugen Sie sich bitte mal ganz weit nach vorne" noch Lebensphilosophie. Die Musterungsärzte der Bundeswehr hätten hier noch eine Menge lernen können.
Unsere oder um genau zu sein, meine Reise, sollte an diesem hübschen Bahnhof in Forbach enden, oder zumindest unterbrochen werden. Dort sollte sich meine Reise wegen gewisser Umstände vom Zug aufs Auto verlagern. Zwei weitere Interrail-Reisende, meinen Kumpel Freddy und mich, hielt man in dem kleinen und beschaulichen Grenzstädtchen in Lothringen, nahe Saarbrücken, ganze acht Stunden lang fest.