Читать книгу WBG Deutsch-Polnische Geschichte – 1945 bis heute - Markus Krzoska - Страница 10
2. Der sozialistische Internationalismus. Polen und die DDR (1949–1990)
ОглавлениеAm 3. Oktober 1990 ging das über vierzig Jahre dauernde Kapitel der ostdeutsch-polnischen Geschichte zu Ende. Es war eine besondere Zeit. Zum ersten Mal war ein großer Teil Deutschlands strukturell so fest mit dem Osten verflochten, doch die Bindung war eine Zwangsbindung, eine „befohlene Freundschaft“, wie die griffige Formel lautet.30
Peter Bender, einst Vordenker der Ostpolitik und ein langjähriger kenntnisreicher Begleiter der Entwicklungen in Osteuropa, zog 1992 seine Bilanz. Was bleibt von der Beziehung der DDR zum Osten? Für eine echte Versöhnung mit Polen, wie sie vergleichbar zwischen der Bundesrepublik und Frankreich auf den Weg gebracht wurde, hätte die DDR nur begrenzte Möglichkeiten gehabt. Ein deutscher Staat, der aus seiner Geschichte nur das erben sollte, was „humanistisch“ und „fortschrittlich“ erschien, der seinen Bürgern einen Kollektivfreispruch von den nationalsozialistischen Verbrechen erteilte und in den Stand der Unschuld eintrat, konnte im Ausland nur mit weitgehendem Misstrauen rechnen. Dennoch entstanden in der langen Nachkriegszeit selbstverständlich auch viele Gemeinsamkeiten. Die Tschechoslowakei stand der DDR nach Mentalität und Entwicklungsstand am nächsten, Rumänien und Bulgarien boten Süden und Sonne. Der östliche Nachbarstaat blieb dagegen ein Land, „dessen Wälder, Seen und Ostseestrand die zeltenden Urlauber anzog, das aber in seiner Originalität fast nur von Intellektuellen und Künstlern wahrgenommen wurde“. Seine vermeintliche „Liberalität“ sorgte in anderen Bevölkerungskreisen eher für Unmut. Bender schreibt:
„Polen erschien allzeit problematisch, nicht allein für die mißtrauischen Regenten im östlichen Berlin. Da die Vergangenheit ausgeblendet war, blieben auf beiden Seiten die alten deutsch-polnischen Ressentiments; sie wuchsen sogar, weil beide Staaten viel leisteten, was die gewohnten Vorurteile übereinander zu bestätigen schien. Dem ,Prager Frühling‘ trauerten viele Ostdeutsche nach; die erstaunlichen Veränderungen aber, die Solidarność bewirkte, erregten bei den meisten eher Zweifel als Hoffnung oder gar Sympathie. Soweit sich Bewunderung überhaupt einstellte, wurde sie von einer Sorge überdeckt, die sich auch in anderen Oststaaten zeigte: Werden die polnischen ‚Chaoten‘ wieder alles zunichte machen, was man sich allmählich mühsam erarbeitet hatte, an bescheidenem Wohlstand und auch an kleinen Freiheiten?“31
Benders pauschales Urteil über die Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der DDR wird nicht selten auch durch die Forschungsliteratur bestätigt. Der amerikanische Wissenschaftler Sheldon Anderson erfasste die ersten zwanzig Jahre offizieller bilateraler Kontakte mit der prägnanten Formel des „Kalten Krieges im Sowjetblock“; die „roten Preußen“ sollten ausschließlich für turbulente Konflikte mit den Warschauer Genossen gesorgt haben. Anna Wolff-Powęskas 1998 skizziertes Negativbild ist noch stärker und bezieht sich auch auf die gesellschaftlichen, kulturellen und privaten Kontakte. Die gegenseitige Ignoranz habe nichts mehr als Feindseligkeit und Abneigung, stets neues Aufleben geglaubter Vorurteile und Unsicherheit im Umgang miteinander gebracht.32 Eine Fülle an späteren Studien und Forschungsprojekten hat diese pessimistischen Reminiszenzen revidiert. Wie waren also die ostdeutsch-polnischen Beziehungen und was blieb von ihnen?
Die Deutsche Demokratische Republik ist am 7. Oktober 1949 aus der Taufe gehoben worden, am 18. Oktober erkannte Polen den sozialistischen Bruderstaat an, ohne dass jedoch mit Ostberlin Botschafter ausgetauscht wurden. Dazu kam es erst im Februar 1950. Die Verzögerung war kein Zufall. Die polnische Führung verlangte von der SED die eindeutige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die nach ihrer Meinung auf der Potsdamer Konferenz endgültig festgelegt worden war. In Deutschland war jedoch niemand mit der neuen Grenze einverstanden, auch nicht die neuen kommunistischen Führer in der sowjetischen Besatzungszone. Der SED-Vorsitzende Wilhelm Pieck äußerte im Juli 1946 in seinem Geburtsort Guben die Hoffnung, dass auch der jenseits der Demarkationslinie liegende Stadtteil künftig unter die deutsche Verwaltung kommen werde. Laut offizieller Verlautbarungen der SED waren Grenzkorrekturen durchaus „denkbar“, was beiderseits für starke Vorbehalte und Ressentiments gegenüber dem Nachbarn sorgte. Der Presseattaché der Polnischen Militärmission in Berlin berichtete 1946 nach seinem Gespräch mit Walter Ulbricht an die Warschauer Zentrale:
„Speziell im Fall unserer Grenze wies ich auf den Chauvinismus hin, der für das deutsche Volk charakteristisch ist und sich in der Linie der Partei widerspiegelt. Dies macht eine Zusammenarbeit zwischen unserer und ihrer Partei unmöglich. Am gefährlichsten ist, dass die Position der SED keine Gesundung des deutschen Volkes anstrebt, sondern seine chauvinistische Krankheit geradezu verschlimmert.“33
Obgleich die Sowjetregierung die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz von Anfang an für bindend hielt, bediente sich die Führung in Moskau in den ersten Nachkriegsjahren des polnisch-deutschen Antagonismus mit dem Ziel, die eigene Herrschaft zu stabilisieren. Aus Furcht vor dem Auseinanderbrechen des Ostblocks und somit vor dem eigenen Machtverlust gab Stalin der SED-Führung eine klare Anweisung, die Oder-Neiße-Grenze als endgültig zu erklären und diese Entscheidung mit aller Gewalt zu verteidigen. Als Gegenleistung durfte sich die DDR mit ihrem verordneten Antifaschismus als Hauptkraft des Widerstands gegen Hitler, als „Sieger der Geschichte“ präsentieren. Die SED deklarierte den Bruch mit den verhängnisvollen Traditionen deutscher Machtausübung und stilisierte sich zum Akteur eines radikalen Neuanfangs.
Am 6. Juli 1950 wurde der Vertrag von Görlitz mit gebührendem Zeremoniell besiegelt. Die Wochenzeitung »Die Zeit« berichtete missmutig und in telegrafischer Kürze:
„Im polnisch verwalteten Teil der Stadt Görlitz unterzeichneten die Ministerpräsidenten der Sowjetzone und Polens, Grotewohl und Cyrankiewicz, offiziell das Oder-Neiße-Abkommen, in dem die deutsche Sowjetzonenregierung die Oder-Neiße-Linie widerrechtlich als endgültige Grenze anerkennt.“34
Im spezifischen Diktum des Vertrags hieß es wiederum:
„Die Delegation der Provisorischen Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Republik Polen haben, von dem Wunsch erfüllt, den Frieden zu festigen und das unter Führung der Sowjetunion stehende Friedenslager im Kampfe gegen die Umtriebe der imperialistischen Kräfte zu stärken […], vereinbart, daß es im Interesse der Weiterentwicklung und Vertiefung der gutnachbarlichen Beziehungen, des Friedens und der Freundschaft zwischen dem polnischen und deutschen Volke liegt, die festgelegte, zwischen den beiden Staaten bestehende unantastbare Friedens- und Freundschaftsgrenze […] zu markieren.“35
Der Vertrag hatte zwar eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Stabilisierung der (ost)deutsch-polnischen Beziehungen; mit der von der Sowjetunion garantierten, in den ersten Nachkriegsjahren jedoch nur schwer passierbaren „Friedensgrenze“ wurde aber die Politik beider Staaten an das Wohlwollen des Kremls gekettet. In der Logik des Vertrages lag in besonderem Maße die Tabuisierung der Vertriebenenproblematik. Die Vertriebenen konnten ihre Interessen und Konflikte nicht mehr thematisieren, in den jeweiligen gesellschaftlichen Diskursen gestaltete sich jene staatlich verordnete Ausblendung jedoch unterschiedlich. Die SED-Führung unterband konsequent 40 Jahre lang jede öffentliche Debatte über die Vertreibung und die Verbindlichkeit der Oder-Neiße-Grenze, in Polen dagegen stand die Vertriebenenfrage nach 1956 wieder auf der Tagesordnung. Im Juni 1957 erließ das polnische Parlament ein Gesetz, das die Auszahlung von Teilentschädigungen für das in den Ostgebieten zurückgelassene Eigentum möglich machte.36
Durch die westdeutsche „Nichtanerkennungsfront“ gegenüber der Oder-Neiße-Grenze war Polen zur Solidarität mit der DDR gezwungen. Eine offizielle Unterstützung für die Annäherung beider Völker blieb jedoch aus. An die Stelle direkter gesellschaftlicher Kontakte trat eine Mischung aus klassischer zwischenstaatlicher Diplomatie und Propagandagetöse. Bereits 1950 veranstaltete die SED eine Freundschaftskampagne zur Unterzeichnung des Görlitzer Vertrages, der Monat März war zum „Monat der deutsch-polnischen Freundschaft“ ausgerufen worden und die begleitende Propagandabroschüre, »Die Grundlagen der deutsch-polnischen Freundschaft«, wurde in über sechs Millionen Haushalten verteilt. Die ebenfalls 1950 gegründete und bereits zwei Jahre später wieder aufgelöste Massenorganisation Deutsch-Polnische Gesellschaft für Frieden und gute Nachbarschaft organisierte in der Zeit unter dem Vorsitz von Karl Wloch zahlreiche Versammlungen, Gesprächskreise und Film- sowie Musikvorführungen. In der DDR-Presse galt Polen als Musterschüler im sozialistischen Aufbau, die offiziellen Freundschaftsbekundungen des SED-Staates blieben jedoch in der Bevölkerung unwidersprochen. Die ausgeblendeten Probleme der jüngsten Vergangenheit brachten Missverständnisse und Feindseligkeiten gegenüber dem östlichen Nachbarn mit sich. Ähnlich stellte sich die Stimmungslage in Polen dar. Die verstärkte Beschallung mit der Freundschaftspropaganda, die rhetorische Unterscheidung zwischen ewiggestrigen westdeutschen Revisionisten und dem „gesäuberten Deutschland“, in dem eine antifaschistische Revolution stattgefunden habe, wurde in sämtlichen gesellschaftlichen Schichten beargwöhnt.
Als Walter Ulbricht den Arbeiteraufstand im Juni 1953 mit sowjetischer Hilfe niedergeschlagen hatte, zeigte sich die Führung der PVAP besorgt und bot der SED Wirtschaftshilfe an. Man befürchtete ähnliche gesellschaftliche Proteste in Polen, wo die Erhöhung der Arbeitsnormen, die zum Auslöser der Proteste in der DDR wurde, noch drastischer ausfiel. Das Ministerium für Staatssicherheit ordnete eine gesteigerte Wachsamkeit und Überwachung in Betrieben an. Die einschlägigen Reaktionen aus den Parteikreisen waren von der üblichen Rhetorik flankiert: Man sprach von einer „imperialistischen Verschwörung“, „Torpedierung des Friedens“, das Auftreten der Arbeiter sollte ein Beweis dafür sein, dass „in einem Teil der Arbeiterklasse in der DDR immer noch Überreste des Hitler-Faschismus und eine bedrohliche anti-sowjetische Stimmung vorhanden waren“.37 Parteiintern wurde jedoch das Fehlverhalten der SED kritisiert: beschleunigter Kurs beim Aufbau des Sozialismus, übermäßige Erhöhung der Arbeitsnormen, Ahnungslosigkeit gegenüber den tatsächlichen Bedürfnissen der Arbeiter. Eine in der Öffentlichkeit formulierte Kritik blieb aber aus.
Ganz anders gestalteten sich die Reaktionen des DDR-Parteikaders auf die politischen Vorkommnisse in Polen. Immer dann, wenn die Polen einen neuen Anlauf zur inneren Liberalisierung nahmen, reagierten die Funktionäre der SED hysterisch und drängten sich in die Rolle des Musterschülers der Sowjetführung. Bereits der erste Versuch Warschaus, einen eigenständigen, nationalen Weg zum Sozialismus auszuloten, ließ in Berlin Zweifel an der Prinzipientreue polnischer Genossen aufkommen. Während Walter Ulbricht den Arbeiteraufstand in der DDR im Juni 1953 mit sowjetischer Hilfe niedergeschlagen hatte, brachte in Polen das Jahr 1956 eine weitgehende Liberalisierung des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens. Ruth Hexel, Lektorin des Aufbau-Verlags, notierte während ihres Besuchs in Warschauer Verlagen im Juli 1956:
„Aus den Diskussionen mit Schriftstellern und Redakteuren entnahm ich u. a., daß das Vertrauen zu unserer Presse nicht groß ist und man von unserer Gegenwartsliteratur und dem Mut unserer jungen Schriftsteller nicht sehr angetan ist. Dagegen interessiert man sich für die westdeutsche Presse. […] Einige Unterhaltungen waren für mich so peinlich, daß ich meinte, es mit westlichen Agenten zu tun zu haben, wie sich herausstellte war das ein Irrtum. […] Zweifellos hat die Demokratisierung der Literatur und Presse in Polen einen unvergleichlich höheren Stand erreicht als bei uns.“38
Hexels Bestandsaufnahme stammt genau aus der Mitte jenes bewegten Jahres. Nikita Chruschtschows Rede »Über den Personenkult und seine Folgen« auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 war in ganz Polen in wenigen Tagen bekannt geworden. Kurz danach verstarb während eines Moskaubesuchs Bolesław Bierut. Die wichtigsten Verantwortlichen des berüchtigten Sicherheitsamtes wurden aus der Partei ausgeschlossen und etwa 35 000 Menschen aus Gefängnissen entlassen. Die studentische Wochenzeitung »Po prostu« galt als das prominenteste Zeichen des aufziehenden „Tauwetters“. Ende Juni mündete die Unzufriedenheit der Arbeiter mit der im Eiltempo betriebenen Industrialisierung in die blutig niedergeschlagene Revolte in Posen. Die Drohungen des Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz, man werde jede Hand abhacken, die sich gegen den Sozialismus erhebe, erwiesen sich angesichts der nervösen internationalen Lage im Nahen Osten (Suezkrise) als schwer durchführbar.
Am 21. Oktober 1956 wurde Władysław Gomułka, der 1948 wegen „nationalistischer Abweichung“ auf Befehl Stalins und zur Zufriedenheit der SED seines Amtes in der Parteiführung enthoben worden war und drei Jahre im Gefängnis verbracht hatte, zum Ersten Sekretär der PVAP gewählt. Der anfängliche Reformkurs Gomułkas, der in seiner Antrittsrede den Doktrinarismus in der Planwirtschaft geißelte und mehr Demokratie ankündigte, wurde in Ostberlin als Konterrevolution betrachtet (eine tiefe persönliche Abneigung zwischen Gomułka und Walter Ulbricht war in diesem Kontext nicht unbedeutend). Als besonders gefährdend für die DDR galt die Annahme, Polen könne jetzt sein Verhältnis zur Bundesrepublik normalisieren. Der Botschafter der DDR in Warschau, Stefan Heymann, berichtete im November 1956:
„In der VRP gibt es verschiedene Kreise, die offen für eine neue Einschätzung der Lage in Westdeutschland Propaganda machen. Dabei handelt es sich im wesentlichen darum, daß man nach Ansicht dieser polnischen Freunde die Lage in Westdeutschland bisher nur schwarz gemalt hat. Man habe stets auf den großen Einfluß des Militarismus und Faschismus hingewiesen, man habe von den Revisionisten und Chauvinisten gesprochen, man habe gezeigt, daß die KPD schwach sei. […] Jetzt waren einige Korrespondenten polnischer Zeitungen in Westdeutschland, die berichteten, alles, was man bisher über Westdeutschland geschrieben habe, sei nicht wahr. Das Pendel schlägt jetzt nach der anderen Seite aus.“39
Die Ereignisse des Jahres 1956 in Polen setzten die SED-Führung in erhöhte Alarmbereitschaft. Im Dezember 1956 beschloss das Politbüro der SED, Heymann als DDR-Botschafter in Warschau abzuberufen, mit Hinweis auf seine Versuche, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten auch in der politisch schwierigen Lage nicht verschärfen zu wollen. Auf mögliche Unruhen in der Bevölkerung wurde mit intensivierten Sicherheitsvorkehrungen und einer Informationssperre reagiert. Im Mittelpunkt der offiziellen Propaganda standen politische Aspekte der deutschen Polenstereotypie, etwa die Distanz zu staatlichen Organisationsstrukturen, die Pluralisierungsansätze wurden als „Anarchie“ und „Durcheinander“ dargestellt. Zu den geläufigen Etikettierungen gehörte auch die politische „Zurückgebliebenheit“ Polens gegenüber der DDR, in der man die dort 1956 durchgeführten Veränderungen angeblich bereits nach dem Volksaufstand des 17. Juni 1953 realisiert hatte.
Nebst der Einschränkung und Kontrolle des Reiseverkehrs begann die SED eine scharfe Polemik gegen polnische Veröffentlichungen und gegen Intellektuelle, die sich auf Polen beriefen und bezogen. Aufgrund der außerordentlichen „Maßnahmen zur Veränderung der Lage an den Universitäten und Hochschulen“ wurden Disziplinarverfahren gegen Studenten inszeniert, die oft mit Exmatrikulationen endeten. Zu den exmatrikulierten Studenten gehörte unter anderen Helga M. Novak, weil sie sich weigerte, den Einmarsch der sowjetischen Armee in Ungarn gutzuheißen, und die Ereignisse in Polen als Wendepunkt in ihrer politischen Entwicklung bezeichnete. Mit der Verhaftung Wolfgang Harichs Ende November 1956 statuierte die DDR-Führung ein Exempel für die Repressionen an den Universitäten, in Verlagen und Zeitschriften. Der vormalige Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität (entlassen nach seiner Kritik der dogmatischen Kultur- und Medienpolitik der Partei nach dem 17. Juni 1953) war zum Cheflektor des von Walter Janka geführten Aufbau-Verlags geworden und beteiligte sich nach dem XX. Parteitag der KPdSU an Gesprächen des von György Lukács und Ernst Bloch beeinflussten „Kreises der Gleichgesinnten“, einer informellen Gruppe der marxistischen Intellektuellen, die parteiinterne Reformen forderte. In einem von Harich vorbereiteten Thesenpapier über politische Veränderungen in der DDR, das er in der Zeitschrift »Einheit« veröffentlichen wollte, fanden sich auch Bezüge zu Diskussionen in Polen. In einem im »Neuen Deutschland« publizierten, mit Anschuldigungen der Anklage gespickten Bericht hieß es, Harich habe sein Programm von Polen aus propagieren wollen, weil er mit der Unterstützung polnischer Intellektueller gerechnet habe. So versuchte die SED-Führung mit der Betonung der vermeintlichen Verbindungen der „Harich-Gruppe“ (so lautete die diskriminierende Bezeichnung der DDR-Justiz) nach Polen, das Gerichtsverfahren international auszuweiten und Kontakte mit polnischen „Gleichgesinnten“ zu kriminalisieren. In einem Schauprozess wurde Harich wegen der „Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe“ zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, Walter Janka sowie andere Mitdenker der „Harich-Gruppe“ erhielten ebenfalls mehrjährige Zuchthausstrafen.
Nach den Verhaftungen von Harich und Janka kam es zu zahlreichen Entlassungen und Umbesetzungen in Verlagen und in den Redaktionen von Zeitungen und Zeitschriften, zum Prüfstein wurde jeweils das Verhältnis der Verleger, Lektoren und Journalisten zu Polen und Ungarn. Im kulturpolitischen Bereich reagierte die DDR-Führung mit einer im Oktober 1957 stattfindenden orchestrierten Kulturkonferenz der SED mit der Aufgabe, die „Lehren aus Polen und Ungarn zu ziehen“ und die „Prinzipien unserer neuen, sozialistischen Kultur“ zu bestätigen. Hauptangriffsziel waren der „Revisionismus“ und die „schädlichen“ Einflüsse aus Polen. Der Kulturfunktionär und Autor Alexander Abusch donnerte am Rednerpult:
„Zweitens ist die ausführliche Behandlung der schöpferischen Methode des sozialistischen Realismus und der Fragen der künstlerischen Dekadenz wichtig, weil die vom kapitalistischen Feind und von revisionistischen Theoretikern anderer Länder in unsere Republik hineingetragene Hetze gegen die schöpferische Methode der sozialistischen Literatur und Kunst unsere ganze sozialistische Kultur und Kunstpolitik an einem zentralen Punkt treffen sollte.“40
Die von Abusch vehement verteidigte Kunstdoktrin des sozialistischen Realismus, von der SED mit dem stalinistischen Sozialismusmodell aus der Sowjetunion importiert, lebte von der strikten Abgrenzung von dem, was die ideologische Wahrnehmung als „spätbürgerlich“ identifizierte. Dem Vorsatz, die in der DDR verfemte Moderne aus Kunst und Literatur auszuschalten, lag eine politisch-strategische Entscheidung zugrunde: Die Autonomie, die die ästhetische Sphäre in der bürgerlichen Gesellschaft erlangt hatte, sollte zurückgenommen werden. Der Affekt der SED gegen künstlerische Emanzipationsprozesse manifestierte sich auch in Reaktionen auf ästhetische Erneuerungen im literarischen Feld anderer Ostblockländer, mit denen sich unter anderem der von Krzysztof Teodor Toeplitz in der Zeitschrift »Nowa Kultura« (Neue Kultur) veröffentlichte Artikel »Katastrofa proroków« (Katastrophe der Propheten) auseinandersetzte. Da laut Toeplitz das „monopolistische“ Programm des realistischen Sozialismus das Ziel verfolgte, „die Kunst der Diktatur untertan zu machen und in ihr eine Stütze für die Diktatur zu gewinnen“,41 nahm sich Alfred Kurella in seiner Funktion als Leiter der Kulturkommission des Politbüros persönlich des Textes an und distanzierte sich von den Ansichten polnischer Intellektueller.
Die Reaktionen vieler älterer DDR-Schriftsteller wie etwa Stefan Heyms auf Ereignisse des Jahres 1956 lagen nicht allzu weit entfernt von der dogmatischen Linie der offiziellen SED-Propaganda; es gab aber auch zahlreiche Sympathiebekundungen. Der am Philosophischen Institut der Leipziger Universität lehrende Ernst Bloch und seine Frau Karola beobachteten neugierig die Entwicklungen in Polen und unterhielten Kontakte zu polnischen Intellektuellen, etwa zu den Philosophen Leszek Kołakowski und Tadeusz Kroński, dem Literaturkritiker Roman Karst und dem Schriftsteller Jacek Bocheński. Die in Lodz geborene Karola Bloch informierte sich über die Ereignisse in Polen aus der Lektüre der Zeitschrift »Po prostu«, die seit 1955 zu einem Diskussionsforum der polnischen Studenten wurde, und verfolgte die Aktivitäten des Klubs des Krummen Kreises (Klub Krzywego Koła), eines der wichtigsten Zentren des unabhängigen Denkens.
Vor allem aber in der vom Kulturbund der DDR herausgegebenen Wochenzeitschrift »Sonntag« nahm man die Liberalisierungstendenzen östlich der Oder mit Begeisterung und als eine Ermutigung auf, der revolutionäre Charakter des Polnischen Oktobers wurde hervorgehoben und die Informationspolitik der Regierung kritisiert. Der stellvertretende Chefredakteur Gustav Just, im Harich-Prozess ebenfalls zu einer Zuchtstrafe verurteilt, erinnerte sich:
„Wir hatten das Beispiel Polen vor Augen, wo sich die Partei an die Spitze der Reformbewegung gestellt und sie damit unblutig in Gang gebracht hatte […].“42
So berichtete der »Sonntag« über die Berliner Ausstellung der polnischen Plakatkunst sowie über weitgehende Veränderungen im polnischen Hochschulwesen. Die Zeitschrift transportierte zudem für deutsche Leser literarische Fragmente aus dem Nachbarland, zum Beispiel aus einer stalinismuskritischen Erzählung »Verteidigung von Granada«, in der Kazimierz Brandys die allgemeine Verlogenheit und Heuchelei im täglichen Leben und in der Parteisprache anprangerte. Es war die erste in der DDR publizierte scharfe Abrechnung mit der täglichen Lüge; sie erregte ein ziemliches Aufsehen, durfte jedoch nie wieder erscheinen. Auch Aphorismen von Stanisław Jerzy Lec und kritische Gedichte Adam Ważyks – der »Traum eines Bürokraten« und »Brief an einen Freund« in der Übersetzung von Wilhelm Tkaczyk – konnten im »Sonntag« untergebracht werden. Die Publikation der letzteren ist dem Ansporn von Bertolt Brecht zu verdanken, der das Geschehen in Polen mit Aufmerksamkeit verfolgte und darüber mit seinen Mitarbeitern sprach. Über Ważyks »Poemat dla dorosłych« (1955, Poem für Erwachsene), das die Mythologie des sozialistischen Aufbaus zerschlug und in Polen eine schockähnliche Wirkung auslöste, erfuhr Brecht durch Vermittlung von Konrad Swinarski (von 1955 bis 1957 Meisterschüler am Berliner Ensemble). Die Nachdichtung des Poems war Brechts letzte größere literarische Arbeit vor seinem Tod. Die Veröffentlichungspolitik und die Haltung zu den Ereignissen in Polen wurde der Redaktion des »Sonntags« schnell zum Verhängnis: In den Akten des Sicherheitsdienstes hieß es, die Zeitschrift habe nach polnischem Beispiel eine Plattform für „unzufriedene“ Intellektuelle schaffen wollen und Artikel veröffentlicht, die „revisionistischen und oft parteifeindlichen Charakter hatten“, wonach das ZK der SED im »Sonntag« eine kommissarische Leitung einsetzte.43
War es dem »Sonntag« möglich, durch sein wöchentliches Erscheinen und das gewagte Verhalten der Redakteure schnell auf aktuelle Ereignisse in Polen zu reagieren, so konnten DDR-Verlage ihre in die Planung einbezogenen polnischen Bücher mit unbotmäßigen Botschaften nicht mehr auf den Markt bringen. Der Erzählungsband »Złoty lis« von Jerzy Andrzejewski (1956, Der goldene Fuchs) wurde als „zur Veröffentlichung in der DDR nicht geeignet“ eingestuft, weil der Autor kurz zuvor aus der PVAP ausgetreten war. Dies war auch der Grund für das Nichterscheinen des von Henryk Bereska übersetzten Romans »Asche und Diamant« von Andrzejewski. Auch als 1962 letztendlich die Druckgenehmigung für das Buch erteilt wurde, teilte die „Brigade Maxim Gorki“ des slawischen Lektorats des Verlags dem Ministerium für Kultur vorsichtshalber mit, der Text könne „in seiner ganzen Bedeutung und Problematik“ wegen der „spezifischen polnischen nationalen Besonderheiten“ nur durch ein Vorwort dem deutschen Leser verständlich gemacht werden: „Der Warschauer Aufstand, die Rolle der in England sitzenden Polen, der durch die Geschichte bedingte und von bestimmten Seiten geförderte Antirussismus und verschiedenes andere sind nur zu verstehen, wenn man die polnische Geschichte etwas näher kennt.“44
Für viele andere Bücher galt nach dem Polnischen Oktober eine Sperre, die knapp zehn Jahre dauerte. Die Rezeptionsblockade war erst mit der im Verlag Volk & Welt herausgebrachten Anthologie »Moderne polnische Prosa« durchbrochen, die einen Kanon anspruchsvoller Literatur des 20. Jahrhunderts von Maria Dąbrowska und Zofia Nałkowska über Bruno Schulz und Tadeusz Borowski bis Kornel Filipowicz und Sławomir Mrożek enthielt. Im Vorwort der für den literarischen Austausch zwischen Polen und der DDR verdienstvollen Herausgeberin Jutta Janke wird ein gewagter Drahtseilakt sichtbar: Sie lieferte eine literaturgeschichtliche Skizze der Entwicklung der polnischen Literatur, in der der XX. Parteitag der KPdSU als Auslöser entscheidender Veränderungen auch in der Gesellschaft und Kultur Polens nicht fehlte, aber das Oktober-Plenum und der neue Parteisekretär Gomułka aus verlegerisch-taktischen Gründen verschwiegen wurden. Janke verwies gleichzeitig auf die „Blütezeit der Nachkriegserzählungen“ in den Jahren 1955–1958, in denen „mit den Fehlern und Versäumnissen aus der Zeit des Personenkultes“ sowie mit einer „schematischen Darstellung in der Literatur, die die Wirklichkeit konfliktlos sah und schönfärbte“, abgerechnet wurde. Nicht alle Texte waren jedoch dem Literatursystem der DDR zuzumuten. Hervorgehoben wurden daher jene Erzählungen, in denen die Autoren ihre Kritik „an Erscheinungen des Alltags, an falschen Verhaltensweisen“ auf ein „gerechtfertigtes Maß“ zurückführten (unter anderen Stanisław Dygat, Sławomir Mrożek), „thematisch überspitzte“ Aburteilungen (zum Beispiel Marek Hłasko) fanden dagegen keine Erwähnung in der Anthologie. Da der Sammelband aus Anlass des zwanzigsten Jahrestages der Gründung der Volksrepublik Polen erschien, wurden manche Prosastücke, wie die Herausgeberin in ihrem internen Gutachten betonte, aus ausdrücklich politischen Gründen aufgenommen. Den Abschluss des Bandes bildete daher die Erzählung »Die Jungen« von Wojciech Żukrowski, in dem der Autor die Verwandlung des zerstörten deutschen Breslaus in das polnische Wrocław schilderte. Die Aufnahme des Textes galt als „Bekenntnis zur Oder-Neiße-Linie; für Polen und gegen jene westdeutschen Kreise, die historische Tatsachen anzuerkennen sich weigern“.45
Die von Jutta Janke herausgebrachte Anthologie war von der Leserschaft erwartet worden und wurde hoch bewertet. In den Jahren zuvor hatten polnische Verlage auch das Angebot der DDR-Literatur recht gut gesichtet und präsentiert. Persönliche Kontakte zwischen den Literaten beförderten den gegenseitigen Kulturtransfer. Unmittelbar nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik besuchten Johannes R. Becher und Arnold Zweig Polen, im Gegenzug nahmen die Schriftsteller Jarosław Iwaszkiewicz, Leon Kruczkowski, Ryszard Matuszewski, Tadeusz Borowski und Mieczysław Jastrun sowie der Regisseur Erwin Axer am Deutschen Schriftstellerkongress anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands im Juli 1950 teil. Als der Dramatiker Friedrich Wolf zum ersten Botschafter der DDR in Warschau ernannt wurde, porträtierte ihn die polnische Presse und präsentierte Auszüge aus seinem Werk.
Abb. 4. Im Juli 1950 fand in Berlin anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands der Deutsche Schriftstellerkongress statt. Im Gespräch (v. l. n. r.): Wolfgang Joho, Tadeusz Borowski und Mieczysław Jastrun.
Bis zum Jahre 1956 wurden die meisten Übertragungen aus der DDR-Literatur von öffentlichen publizistischen Auseinandersetzungen begleitet. So diskutierten die Literaturkritiker Egon Naganowski und Jerzy Kowalewski 1949 in der Zeitschrift „»Kuźnica«, vier Jahre vor dem Erscheinen der Übersetzung des Romans »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers, über diverse Aneignungswege deutschsprachiger Literatur in Polen. Ungeachtet der positiven Stimmen beider Rezensenten, wonach die Autorin ihren „Glauben an das verirrte und betörte deutsche Volk und seine bessere Zukunft“ gerettet hatte,46 registrierten die Warschauer Zensoren ideologische Mängel des eingereichten Manuskripts. Einerseits beleuchte das Buch „mutig und klar die Herrschaft des Hitlerregimes und die Stimmungen in der deutschen Bevölkerung“, andererseits zeichne Seghers aber kein Bild von den Aktivitäten der deutschen Kommunistischen Partei, besonders ihrer Rolle bei der Aufklärung der Gesellschaft und bei der Mobilisierung der Deutschen zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus.47 Trotz dieser Bedenken durfte der Roman ohne Eingriffe in den Text erscheinen.
Die ideologisch geprägte Polemik traf in Polen besonders scharf Bertolt Brecht, dessen Werke in Warschau bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren aufgeführt worden waren. Die Vorbehalte der Kritik bezogen sich weniger auf das Inhaltliche der Dramen, sondern vor allem auf Brechts Theatertheorie und -praxis, die das damalige Verständnis des sozialistischen Realismus sprengten. Die beargwöhnten „Ismen“ – Formalismus, Symbolismus, Expressionismus, dekadenter Naturalismus, Pessimismus sowie Fatalismus – erhitzten die Gemüter der Rezensenten. Ab 1954 kam es dennoch zu einer intensiven Brecht-Aneignung auf den polnischen Bühnen.
In der Zeitspanne 1949–1956 wurden trotz der erwähnten punktuellen Vorbehalte der Zensur und Kritiker beinahe alle bedeutenden Werke jener Autoren herausgebracht, die einst vor den Nazis ins Exil geflohen waren und nun in der DDR lebten: neben Anna Seghers und Bertolt Brecht vor allem Arnold Zweig, Willi Bredel, Franz Carl Weiskopf, Bodo Uhse und Friedrich Wolf. Nachdem in der Tauwetterperiode das verlegerische Interesse am sozialistischen Realismus deutlich nachgelassen und die DDR-Literatur an Bedeutung eingebüßt hatte, erreichte ihre Rezeption in den 1960er-Jahren einen zweiten Höhepunkt mit Übersetzungen der Werke von Christa Wolf, Franz Fühmann, Hermann Kant, Günter Kunert und Johannes Bobrowski. Der Letztgenannte wurde von der polnischen Leserschaft besonders beachtet, weil er die deutsch-slawische Nachbarschaft künstlerisch bearbeitete, bei anderen (vor allem Wolf und Kant) war es das Thema der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Faschismus, das die Aufmerksamkeit der Kritiker und Leser auf sich zog.48
Der literaturhistorische Exkurs einen Einblick in die intellektuelle Verflechtungsgeschichte, die ungeachtet der politischen Zäsuren ihre eigenen Tiefpunkte und Konjunkturen erlebte. Auf der Ebene der Politik blieben die Beziehungen zwischen Polen und der DDR jedoch weiterhin angespannt, auch nachdem der polnische Reformgeist erlahmte. Nicht unbedeutend war das bereits erwähnte persönliche Misstrauen zwischen Gomułka und Ulbricht, als entscheidend galten aber ökonomische Annäherungsversuche zwischen Bonn und Ostberlin sowie die ausbleibende Bereitschaft der DDR-Führung zu einer weitgehenden wirtschaftlichen Integration mit anderen Ostblockländern (vor allem mit Polen und der Tschechoslowakei). Die SED betonte immer wieder Pläne einer verstärkten ökonomischen Zusammenarbeit mit der UdSSR und spielte den Belang bilateraler Kooperation mit Polen herunter, zu wesentlichen Faktoren eines ausbleibenden langfristigen Handelsaustausches zählten auch die volkswirtschaftlichen Verknüpfungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik.
Als in Bonn im Rahmen der Großen Koalition Willy Brandt Außenminister wurde, zeigte sich aber die DDR-Führung beunruhigt. Der DDR-Außenminister Otto Winzer charakterisierte die Anfänge einer neuen Ostpolitik der Bundesregierung als „Aggression auf Filzlatschen“: Die bisherige außenpolitische Vetoposition der DDR bei allen Kontakten Westdeutschlands zum Ostblock, die Ulbricht beanspruchte, konnte damit ins Wanken gebracht werden. Trotz aller politischen Befürchtungen weigerte sich die SED, sich für die Erweiterung der Wirtschaftsbeziehungen zu Polen einzusetzen: Aus Polen erwartete man lediglich die benötigten Rohstoffe, für sich wurde die Herstellung von Produkten mit wissenschaftlich-technischem Know-how beansprucht.
Zu dem wirtschaftlichen Missverhältnis, das immer wieder von beiden Seiten thematisiert wurde, kam noch Ende der 1960er-Jahre ein politisches Auseinanderdriften. Auf die Rede Gomułkas vom Mai 1969, in der erstmals die Einheitsfront des Warschauer Pakts gegenüber Bonn durchbrochen wurde, reagierte Ulbricht mit Forderungen zur Revision des Görlitzer Vertrages, laut denen die Oder-Neiße-Linie als Grenze zwischen Polen und der DDR gelten solle und als solche von der Bundesrepublik nicht anerkannt werden könne. Da nach dem Regierungsantritt der SPD/FDP-Koalition im Herbst 1969 und der Einleitung der entscheidenden Phase der neuen Ostpolitik die Gesprächsrunden über den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen auch die Zustimmung anderer Ostblockländer fanden, fand sich mit der neuen politischen Lage schlussendlich auch die DDR ab.
Die wirtschaftliche Stagnation in den letzten Jahren der Parteiherrschaft Gomułkas konnte auch nicht durch außenpolitische Erfolge aufgewogen werden. Zwar wurde durch die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages am 7. Dezember 1970 ein in der polnischen Bevölkerung vorhandenes Gefühl der Bedrohung durch den westdeutschen „Revanchismus“ abgebaut, doch bereits eine Woche danach kam es in mehreren Industriestädten zu Protestaktionen gegen angekündigte Preiserhöhungen, die zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Milizeinheiten führten. Nach Gomułkas Amtsenthebung am 20. Dezember wurde Edward Gierek der neue Erste Parteisekretär. Es gelang ihm relativ rasch, die wirtschaftliche und politische Lage im Land wieder zu stabilisieren. Mit sowjetischer Wirtschaftshilfe und Anleihen im Westen konnten die Wirtschaft angekurbelt und Konsumbedürfnisse der Bevölkerung zufriedengestellt werden. Eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und sozialer Zugeständnisse der Partei entspannte vorerst die explosive Lage. Die neue Entspannungspolitik zeichnete sich in den 1970er-Jahren auch in den Beziehungen zwischen Warschau und Ostberlin ab, nachdem Erich Honecker im März 1971 mit Rückendeckung aus Moskau Walter Ulbricht gestürzt hatte und dessen Nachfolge antrat. Anfangs konnte man eine relative Liberalisierung – überwiegend im Kulturbereich – sehen. Die Hoffnungen der liberal gesinnten Künstler schienen sich zunächst teilweise zu erfüllen, wie die Entstehung des DDR-Rock, ein Film wie »Die Legende von Paul und Paula« (1972) und Romane wie »Die neuen Leiden des jungen W.« (1972) von Ulrich Plenzdorf und »Brief mit blauem Siegel« (1973) von Reiner Kunze zeigen. Die kulturpolitische Öffnung währte jedoch in beiden Ländern nur kurze Zeit.
Abb. 5. Bewirtung für die Bevölkerung nach der Öffnung der deutsch-polnischen Grenze für den visafreien Reiseverkehr im Jahre 1972
Da anfänglich den beiden Parteichefs an spektakulären Aktionen lag, wurde 1972 die gemeinsame Grenze für den visafreien Reiseverkehr geöffnet. Die Zahl der direkten Begegnungen nahm rapide zu. Während in der Zeitspanne 1960–1971 jährlich ca. 65 000 DDR-Bürger nach Polen und ca. 30 000 Polen in die DDR reisten, besuchten allein im Jahr der Grenzöffnung 6,7 Millionen DDR-Bürger Polen und 9,4 Millionen Polen die DDR. Die DDR-Bürger entdeckten für sich nicht nur ein attraktives Reiseland, sie ließen sich auch auf die Konfrontation mit der jüngsten Vergangenheit ein. War der Zweite Weltkrieg in den Geschichtsbüchern der DDR vor allem ein siegreicher Kampf der Sowjetunion gegen den deutschen Faschismus, so konnte ein Auschwitzbesuch wesentlich zur Korrektur des gelernten Bildes beitragen. Zum ersten Mal seit 1945 konnten viele Vertriebene ehemalige Wohnorte sehen, Friedhöfe besuchen, den Kindern und Enkeln Orte der Kindheit zeigen – eine Begegnung, die für Besucher wie für Besuchte nicht einfach war. Besonders auffällig war für die DDR-Bürger auch der Kontrast im kulturellen Klima: Reisen per Anhalter, Zugang zu moderner und weniger reglementierter Kunst sowie westlichen Filmen erschienen als eine provozierende und befreiende Alternative. Mit der Zeit entstanden persönliche Bekanntschaften und Freundschaften, es kam auch immer häufiger zu deutsch-polnischen Eheschließungen.
Nach 1972 intensivierte sich auch der Studentenaustausch. Für zahlreiche DDR-Studenten wurde der Studienaufenthalt an polnischen Universitäten zu einer prägenden Erfahrung. Das Wissenschaftssystem und die Alltagswelt schienen ihnen viel offener zu sein. Die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen verschaffte den Studenten trotz der Wachsamkeit der in Polen agierenden ostdeutschen Staatssicherheit einen Einblick in eine mehr liberale Literatur-, Musik- und Theaterszene, zugleich lernten sie die Möglichkeiten eines individuellen und politischen Ausdrucks kennen. Anders gestaltete sich die Lage der polnischen Studenten an ostdeutschen Hochschulen und Universitäten: Die hohe soziale Kontrolle verhinderte eine breitenwirksame deutsch-polnische Kontaktzone.49
Ähnlich ging es auch den in den DDR-Betrieben tätigen polnischen Arbeitskräften. Bereits 1963 unterzeichnete die DDR ein erstes Abkommen mit der Volksrepublik Polen, drei Jahre später regelten die beiden Staaten im sogenannten Pendlerabkommen den Arbeitseinsatz im Grenzgebiet. 1973 gab es in der DDR bereits ca. 12 000 „ausländische Werktätige“, so der offizielle Sprachgebrauch, aus Polen (für 1989 wurde die Gesamtzahl ausländischer Vertragsarbeiter auf 94 000 geschätzt). Die Männer arbeiteten im Braunkohlebergbau, die Frauen in Gaststätten und in Fabriken (zum Beispiel waren 40 Prozent der Belegschaft des Görlitzer Zweigwerks des VEB-Kombinats Pentacon polnische Frauen).50 Die meisten von ihnen verrichteten monotone, ungelernte Arbeit, ihren Wohnort durften sie nicht eigenständig wählen. Die Verträge basierten auf dem Rotationsprinzip, nach dem die Arbeitsmigranten nach maximal fünf Jahren durch Neuankömmlinge ersetzt wurden. Obwohl das offizielle Narrativ der SED der Abgrenzung gegenüber der „Fremdarbeiterpolitik“ der Bundesrepublik diente, reagierte die DDR auf die arbeitsmarktpolitischen Notwendigkeiten, insbesondere auf den Mangel im Bereich von unqualifizierten Tätigkeiten. Ungeachtet der propagandistischen Thesen einer Völkerfreundschaft wurden die Zugewanderten, darunter auch Polen, in die Rolle von Bedürftigen gedrängt, was den Anschluss an die DDR-Gesellschaft erheblich erschwerte. Ende der 1980er-Jahre verbesserte sich die Lage der polnischen Arbeitsmigranten. 1988 verständigte sich Ostberlin mit Warschau für die nächsten zehn Jahre auf die Anstellung von ca. 3000 Pendlern im grenznahen Raum und 5000 Arbeitern in anderen Regionen; Trennungsgeld, ein bezahltes Babyjahr und mehr Geld während des Einführungslehrgangs gehörten zu neuen finanziellen Anreizen. Da war es aber mit der DDR schon fast vorbei.
Viele Polen kamen aber in die DDR nicht zur Arbeit, sondern vor allem zum Einkaufen. Die ostdeutschen Läden lockten mit Zitrusfrüchten, einem viel besseren Wein- und Bierangebot, technischem Gerät wie Transistorradios, Plattenspielern, Haushaltsgeräten und begehrten Fotokameras wie der „Praktika“. Der Kaufdrang wurde in der DDR-Mangelgesellschaft schnell als Bedrohung empfunden. Dies zog eine Reihe restriktiver Maßnahmen nach sich: Einschränkungen im Verkauf von Waren, erschwerter Zugang zu Übernachtungsangeboten sowie verschärfte Grenzkontrollen. Dieser Aspekt der grenzüberschreitenden Kontakte hat offenbar auch dazu geführt, dass sich nationale Stereotype auf beiden Seiten verfestigten und durch die SED-Führungsgremien instrumentalisiert wurden. Abfällige Bemerkungen über Polen waren im Umlauf, die sie als raffgierige Händler karikierten. Deutsche Grenzbeamte und Zöllner, die ihren Dienst oft in einem schneidigen Kommandoton versahen, weckten bei älteren Einreisenden Assoziationen mit der Kriegszeit, bei jüngeren Besuchern bestätigten sie sämtliche antideutschen Vorurteile. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, als sich die Opposition in Polen immer stärker formierte, geriet die bilaterale Zusammenarbeit ins Wanken.
Obwohl die in den 1970er-Jahren von kleinen Gruppen innerhalb bestimmter Nischen entwickelten Beziehungen kaum auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit insgesamt ausgestrahlt haben, kam es im kulturellen Feld der DDR zu einem bemerkenswerten Transfer polnischer Kultur und Literatur. Vor allem die polnische Popmusik feierte hier ihre Erfolge: Neben der Band Rote Gitarren (Czerwone gitary), die ihre erste Langspielplatte »Warszawa« in Ostberlin 1970 veröffentlichte und von da an als Stammgast in zahlreichen TV-Sendungen des DDR-Fernsehens zu sehen war, traten auf ostdeutschen Bühnen sämtliche in Polen populären Musikkünstler auf. Auch im Bereich der Höhenkammliteratur kam es zu mehreren groß angelegten Projekten, um die moderne, nicht selten gesellschaftskritische polnische Literatur dem Leser zugänglich zu machen. Die Verlags- und kulturpolitische Logik jener literarischen Annäherungsversuche kann an zwei Beispielen illustriert werden.
Das Ministerium für Kultur stellte im August 1971, kurz vor der Grenzöffnung, dem Verlag Volk & Welt finanzielle Mittel für einen „Schwerpunkttitel“ zur Verfügung, mit denen ein polnischer Band der Reihe »Erkundungen« zusammengestellt werden sollte. Bei den »Erkundungen« handelte es sich um eine offene multilaterale Reihe, die ausschließlich zuvor in der DDR nicht veröffentlichte Kurzprosa enthielt. Die Reihe gehörte zu den Markenzeichen des Verlages und bot die Möglichkeit, um Land für Land wenigstens andeutungsweise, in bezahlbarer Kleinform den Anspruch des Verlages einzulösen, die gesamte moderne Weltliteratur zu repräsentieren. Dass der Polen-Band der Reihe aber direkt durch das Ministerium für Kultur veranlasst wurde, ist vor allem auf die diplomatische Funktion der Anthologien zurückzuführen: Auch »Erkundungen« über die Niederlande (1976), Albanien (1976), später auch über China (1984) und Israel (1987) wurden jeweils kulturpolitisch orchestriert und signalisierten eine gründliche Verbesserung der Beziehungen der DDR zu diesen Ländern. Statt der geplanten 20 Autoren der jüngeren Schriftstellergeneration wurden nur 19 vorgestellt, weil Andrzej Brycht, vertreten mit seiner Erzählung »Kantor wymiany snów« (»Wechselstube der Träume«), kurz vor der Auslieferung des Bandes in Belgien um Asyl gebeten hatte. Eine thematisch ähnlich gelagerte Erzählung eines anderen Autors war nicht zu finden. Obwohl die Herausgeberin des Bandes die vorgestellten Autoren in ihrem obligatorischen Nachwort streng examinierte, wo denn das gesellschaftlich Positive bliebe (auch über den Protest Warschauer Studenten im März 1968, den die Polizei niederknüppelte, und über die anschließend inszenierte antisemitische Kampagne durfte sich im Nachwort nichts finden), so war die Textauswahl für die Leserschaft ein deutlicher Beleg dafür, dass in Polen eine „literarische Wachablösung“ stattfand, mit der sich die jungen Literaten aus der apologetischen Realismusvorstellung verabschiedeten.51
Stellte der Verlag Volk & Welt eine kulturpolitisch relevante und poetologisch innovative Stichprobe der neueren polnischen Prosa vor, so war wenige Jahre später der Aufbau-Verlag, „bedingt durch die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse in unseren beiden Ländern und die damit verbundenen neuen nachbarlichen Beziehungen zur Volksrepublik Polen“, um das lyrische Schaffen bemüht. Der Nachholbedarf war sichtbar: Es war bis dahin lediglich ein verdienstvoller Band Różewicz-Gedichte erschienen und eine 1953 herausgebrachte Anthologie polnischer Lyrik konzentrierte sich aus nachvollziehbaren Gründen auf die revolutionäre Thematik der Vor- und Nachkriegszeit. Der erste Auswahlvorschlag von Henryk Bereska für die »Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten« datierte auf das Jahr 1967, wurde aber auf Eis gelegt. Einige Jahre danach war die Sammlung aufgrund kulturpolitischer Vorüberlegungen sehr wünschenswert; um den Fortgang des Anthologieprojektes zu beschleunigen, zog der Verlag Heinrich Olschowsky als Mitherausgeber hinzu. Der 1975 erschienene und kunstvoll mit zahlreichen Grafiken polnischer Künstler ausgestattete Band präsentierte mit 37 Autoren die wichtigsten Strömungen und Tendenzen sowohl in literaturhistorischer wie in thematischer Hinsicht in dem Zeitraum von 1918 bis in die Gegenwart. Nebst vielen Dichtern, die sich relativ unproblematisch durch die ministeriellen Zensurmaschen in das Literatursystem der DDR einführen ließen, waren in der Anthologie auch Poeten wie Zbigniew Herbert, Ernest Bryll und Urszula Kozioł vertreten, bei denen, wie die Verlagslektorin vorsichtshalber anmerkte, klare Bezüge zu aktuellen Tagesereignissen fehlten, „wie das beispielsweise in der sowjetischen Lyrik und auch bei uns in der DDR der Fall ist“. Dafür konstatierte sie eine „Hinwendung zu moralisch-ethischen Problemstellungen unserer Zeit“. Bemerkenswert bleibt auch die Aufnahme dreier Exildichter in die Anthologie: Kazimierz Wierzyńskis, Jan Lechońs und Maria Jasnorzewska-Pawlikowskas. Insgesamt lieferte der Band eine repräsentative Auswahl aus der polnischen Lyrik nach 1918 und galt als „Beitrag des Verlags zum dreißigsten Jahrestag des Bestehens der Volksrepublik Polen“.52
In den 1970er-Jahren wurde auch in Polen die DDR-Literatur besonders stark rezipiert. Nebst bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren verlegten Autoren wie Bertolt Brecht, Christa Wolf, Franz Fühmann, Hermann Kant, Günter Kunert und Johannes Bobrowski kamen neue Namen hinzu, etwa Bruno Apitz, Volker Braun, Reiner Kunze, Sarah Kirsch, Kirsten Wulf, Jurek Becker, Kurt David, Wolf Biermann, Peter Hacks, Hanns Cibulka und Ulrich Plenzdorf. In 16 Anthologien wurde in der Zeitspanne 1973–1980 das Bild der DDR-Lyrik und -Prosa nochmals ausgewertet, manche von diesen Sammelbänden widmeten sich auch ausgewählten Motiven (wie zum Beispiel dem „polnischen Thema“ in der DDR-Literatur).53
In ihrer Thematik bezog sich jene Übersetzungsliteratur weiterhin vorwiegend auf die Abrechnung mit der Kriegsvergangenheit, diesmal aber auch aus der Perspektive von Autoren, die den Zweiten Weltkrieg nicht miterlebt hatten. So erschien zum Beispiel 1978 die Übertragung von Klaus Schlesingers Romandebüt »Michael« (1971), einer Spurensuche nach der Figur des Vaters in die Nazizeit. Darüber hinaus erschienen Bücher, die an der Moral der sozialistischen Gesellschaft rüttelten. Im 1973 ins Polnische übersetzten Roman »Buridans Esel« thematisierte Günter de Bruyn Konflikte, die Menschen im realsozialistischen Alltag auszutragen hatten, in dem das Ideologische und das Private kaum voneinander zu trennen waren. Die meisterhafte, leicht erzählte und unterhaltsame Dreieckgeschichte, in der sich ein wehleidiger Bibliothekar nicht zwischen zwei Frauen entscheiden kann, handelte zugleich von ernsthaften Problemen: Ehebruch und Karriereambitionen, Anpassung und Aufrichtigkeit, Selbsttreue und Scheinmoral. Ihr kritisches Potenzial bestand darin, dass de Bruyn die Verhältnisse in der DDR genau so beschrieb, wie sie waren, und die Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit dort verortete, wo sie wahrgenommen wurden: am Arbeitsplatz, in privaten Beziehungen, im persönlichen Umfeld.
Der Austausch von Studenten, Arbeitskräften, Waren, Kultur und literarischen Texten prägte somit das Bild der bilateralen Beziehungen zwischen Polen und der DDR in den 1970er-Jahren. Jene eingeschränkte Aufgeschlossenheit war zugleich nicht unbedeutend für den in der DDR erst langsam aufkeimenden politischen Widerstand. Die Öffnung der Grenze ermöglichte den DDR-Bürgern, Kontakte zu Oppositionellen und Kritikern in Polen zu finden. Einen Raum für den politischen Dissens in der DDR schuf die 1975 in Helsinki unterschriebene KSZE-Schlussakte. Jedoch bereits Mitte der 1960er-Jahre spielte die ostdeutsche Zweigstelle der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASZ) eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Annäherung oppositioneller Kreise aus Polen und der DDR. Die 1958 am Rande der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gegründete Organisation bleibt bis heute durch ihr internationales Freiwilligenprogramm bekannt. Nach dem Mauerbau durfte die ostdeutsche ASZ keine Freiwilligen mehr nach Westeuropa entsenden, beschränkte erstmals ihre Tätigkeit auf das Gebiet der DDR und den innerkirchlichen Raum, baute aber ab 1965 erste Kontakte in Polen und in der Tschechoslowakei auf.
Der Leiter der dortigen ASZ Günter Särchen veranstaltete ab 1968 im katholischen Seelsorgeamt Magdeburg dreimal jährlich „Polenseminare“ zur Geschichte und Kultur Polens, zur Situation der katholischen Kirche in Polen und zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Als Referenten traten unter anderen Tadeusz Mazowiecki, Mieczysław Pszon, Stanisław Stomma und Anna Morawska auf. Die Teilnehmer der Seminare kamen aus allen Bezirken der DDR, die Veranstaltungen waren ökumenisch ausgerichtet. Da sie außerhalb jeder ideologischen Vorgabe standen, befanden sich die Polenseminare von Anfang an im Visier der Stasi. Im Jahr 1985 benannte sich die Initiative nach der 1972 verstorbenen Krakauer Journalistin Anna Morawska. Nach der Wende organisierte sich die Anna-Morawska-Gesellschaft als eingetragener Verein; ihr Name steht bis heute für die deutsch-polnische Verständigung, die Öffnung der Kirche zur Gesellschaft und eine grenzüberschreitende Ökumene.
Viele junge Teilnehmer der Anna-Morawska-Seminare gehörten im Herbst 1989 oppositionellen und Bürgerrechtsgruppen an. Ludwig Mehlhorn – Mathematiker und Bürgerrechtler, während der friedlichen Revolution Mitbegründer der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt –, der auf diesem Weg Bekanntschaft mit regimekritischen Intellektuellen in Polen gefunden hatte, erinnerte sich in den 1990er-Jahren:
„Wir haben seit Mitte der 70er Jahre mitverfolgt, wie sich das Projekt der selbstorganisierten Gesellschaft gegen den quasi totalitären Staat allmählich entwickelte. Das KOR, das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, war sicherlich ein entscheidender Kristallisationspunkt. […] Ich erinnere mich noch, wie wir 1977 in Krakau Kurońs Ideen für ein Aktionsprogramm in einer schwer lesbaren Untergrundsausgabe entzifferten. Die polnische Situation war auf unsere nicht einfach übertragbar. Wir hatten weder individuelle Landwirtschaft, noch Streiks und Demonstrationen der Arbeiter, weder eine starke, integrierende Kirche noch nennenswerte Versuche, das kulturelle und geistige Leben durch Aufbau von Selbstverlagen der Staatskontrolle zu entziehen. […] Aus der heutigen Sicht und mit unseren heutigen Erfahrungen mutet Kurońs Programm […] wie eine Aufzählung von Trivialitäten an. Aber für uns war das damals durchaus eine Erleuchtung. Wir sahen, wie wirksam kleine Gruppen sein können. Wir merkten, daß schon das Verlassen einer verordneten Sprache eine befreiende Wirkung hat.“54
Die lange Widerstandstradition in Polen wirkte zweifelsohne inspirierend auf die Opposition in der DDR der 1970er- und 1980er-Jahre: von der Annäherung zwischen katholischen Laien und Linken in den „Klubs der katholischen Intelligenz“ seit den 1960er-Jahren, der Verbindung zwischen Intellektuellen und Arbeitern mit der Gründung des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) im Jahr 1976 bis zum Erfolg der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność 1980. Besonders für die im März 1986 gegründete Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM, mit Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Bärbel Bohley, Ulrike und Gerd Poppe sowie anderen als Gründungsmitgliedern) standen die Erfahrungen des polnischen KOR und der Charta 77 in der Tschechoslowakei Pate. In der von der IFM herausgegebenen Untergrundzeitschrift »Grenzfall« (zwischen 1986 und 1989 erschienen 17 Ausgaben mit einer Auflage von 800 bis 1000 Exemplaren) dienten Beiträge über Polen immer wieder als mobilisierendes Vorbild. Zu einer besonders intensiven Zusammenarbeit kam es zwischen der IFM und der polnischen Oppositionsgruppe Wolność i Pokój (WiP, Freiheit und Frieden); ein gemeinsames Thema war der Kampf um die Auflösung der politischen Blöcke. Trotz vieler individueller Kontakte und Solidarisierungen zwischen Intellektuellen der DDR und Polens blieben die Wechselwirkungen in ihrem Ausmaß bescheiden. Die Gründe hierfür lassen sich relativ einfach nachvollziehen. Im Gegensatz zu Polen hat sich in der DDR die Gegnerschaft zur herrschenden Politik bewusst nicht als Opposition definiert. Die informellen Gruppen der Friedens- und Umweltbewegung, aber auch führende Vertreter der evangelischen Kirchen haben sich wiederholt dagegen gewandt, kritisches gesellschaftliches Engagement mit diesem Begriff zu belegen. Dass die polnischen Intellektuellen sich mehrheitlich durch den Opfer- und Befreiungsdiskurs leiten ließen und sich von der Idee des Sozialismus mit menschlichem Antlitz längst verabschiedet hatten, war auch nicht gerade förderlich für ein strukturelles Zusammenwirken. Hinzu kamen die dezidierte Westorientierung polnischer Oppositioneller sowie die dortige weitverbreitete Unterstützung der Wiedervereinigung Deutschlands.
Die Verschärfung der wirtschaftlichen und politischen Krise in Polen 1980 bis 1981 verfolgten die politischen Eliten der DDR mit zunehmender Unruhe und mit Argwohn. Eine große Streik- und Protestwelle, ausgelöst durch eine im Juli 1980 angekündigte Fleischpreiserhöhung, führte zur vom Obersten Gericht Polens akzeptierten Gründung der ersten freien Gewerkschaft im Ostblock, die in kurzer Zeit neun bis zehn Millionen Mitglieder aufnahm. Die Ängste der DDR-Führung gründeten in der Annahme, die Liberalisierung im Nachbarland könne die DDR militärstrategisch von der Sowjetunion isolieren. Da Edward Gierek bereits im September 1980 entmachtet wurde, fürchtete auch Erich Honecker um seinen Posten. Im ostdeutschen Diskurs wurde die politische Lage in Polen mit dem alarmierenden Begriff „Konterrevolution“ belegt. Auf einer Sitzung des SED-Politbüros schlug Honecker daher vor, sich an Leonid Breschnew zu wenden mit dem Vorschlag, eine Beratung der Parteivorsitzenden aus den sozialistischen Bruderländern anzusetzen – eine Entscheidung, die als Vorbereitungsmaßname zur Intervention der Armeen des Warschauer Paktes interpretiert wurde. Anlässlich der Verabschiedung des polnischen Botschafters in Berlin, Stefan Olszowski, drohte Honecker offen:
„Die Revolution […] kann sich friedlich oder unfriedlich entwickeln. Wir sind nicht für Blutvergießen. Das ist das letzte Mittel. Aber auch dieses letzte Mittel muss angewandt werden, wenn die Arbeiter-und-Bauern-Macht verteidigt werden muss. Das sind unsere Erfahrungen aus dem Jahre 1953, das zeigen die Ereignisse 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei.“55
Demnach veranlasste die SED-Führung unter der euphemistischen Chiffre „gemeinsamer Ausbildungsmaßnahmen“ die Vorbereitung der Nationalen Volksarmee auf eine Intervention. Während der Beratung der Partei- und Regierungschefs des Warschauer Pakts am 5. Dezember 1980 in Moskau sprach sich Honecker eindringlich für eine militärische Lösung aus, die Teilnehmer reagierten aber zurückhaltend. Man fürchtete Boykottmaßnahmen seitens der US-Regierung, mitentscheidend waren auch das dauernde Engagement der Sowjetunion in Afghanistan, der Widerstand Ungarns und Rumäniens sowie das polnische Versprechen, mit entschiedenen Schritten gegen die „Konterrevolution“ vorzugehen. Auch der Machtwechsel in Polen – im Februar 1981 wurde der Verteidigungsminister Wojciech Jaruzelski zum Premier gewählt – war ein Zeichen für eine gewünschte Militarisierung und „interne“ Lösung der Machtfrage in Polen. Die Verhängung des Kriegszustands in Polen am 13. Dezember 1981 wurde durch die erhöhte Einsatzbereitschaft der DDR-Grenztruppen flankiert.
Die SED-Führung reagierte darüber hinaus mit einer Isolierungspolitik gegenüber Polen. Bereits am 30. Oktober 1980 wurde auf Wunsch der DDR-Behörden der visafreie Verkehr zwischen Polen und der DDR eingestellt. Intern begründete HelmutMüller, Mitglied des ZK der SED, dies folgendermaßen:
„Als Genosse Erich Honecker damals im Friedrichstadt-Palast den historischen Vorschlag zur Öffnung der Grenze zu unserem sozialistischen Nachbarland unterbreitete, gab es ja bekanntlich klare Partnerschaft mit der sozialistischen Staatsmacht der Volkspolen. An einen visafreien Verkehr mit konterrevolutionären Elementen als Partner war allerdings nie gedacht. Und das wird im Interesse des proletarischen Internationalismus und zum Schutze der DDR auch in Zukunft nicht der Fall sein.“56
Die feindselige Reaktion der SED-Führung auf Solidarność spiegelte sich auch in den DDR-Medien. Von großer Relevanz für die Gestaltung des negativen Polenbildes war vor allem die Presse, in der „antisozialistische Elemente“ angeprangert wurden und die vermeintliche Unmöglichkeit einer friedlichen Lösung betont wurde. Die öffentliche Diskreditierung betraf nicht nur Ziele und Aufgaben der Solidarność, sondern die gesamte polnische Gesellschaft, die mit einem überkommenen Arsenal antipolnischer Stereotype (Neigung zu Chaos und Unordnung, Topos der „polnischen Wirtschaft“) belegt wurde. Erst nach der Einführung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 avancierte Polen wieder zu einem „Bruderland“ und seine Bevölkerung zu einem „Brudervolk“. Die offizielle Garde der Kulturschaffenden verhielt sich nicht weniger propagandistisch. Auf der Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes der DDR im Dezember 1980 äußerte Hermann Kant seine Hoffnung, dass „in Polen, im sozialistischen Polen, nichts von dem verlorengeht, was durch ungeheuerliche Mühen zustande kam“, und betonte zugleich, er mische sich nicht ein, sondern bleibe eingemischt, „wo es um Polen und um den Sozialismus in Polen geht“.57 Kants öffentliche Kritik an der politischen Lage in Polen bedeutete nicht, dass es unter Schriftstellern keine Sympathiebekundungen gegeben hätte, es handelte sich jedoch meistens um junge und weniger bekannte Autoren (unter anderen Richard Pietraß, Heinz Czechowski) sowie jene, die sich nicht mehr in der offiziellen Öffentlichkeit des Literaturbetriebs bewegten (zum Beispiel Franz Fühmann, Christa und Gerhard Wolf).
Auf dem literarischen Feld, um dieses Beispiel der Verflechtungsgeschichte wieder anzuführen, waren die Folgen der Desinformations- und Hetzkampagne nachhaltig. Als es nach Jahren der Informationsblockade 1985 gelungen war, einen Band der neueren polnischen Prosa herauszubringen, lautete der Titel schlicht »Nachbarn. Texte aus Polen«. Das von der Propaganda verwendete und verhunzte Wort „Freundschaft“ wurde bewusst vermieden. Der Band war bereits seit 1977 in Vorbereitung, die spätere politische Krise in Polen hatte jedoch zur Folge, dass, wie es im Verlagsgutachten hieß,
„einige bereits übersetzte und viele geplante Texte inaktuell geworden waren (z. B. die Reportage ‚Grenze ohne Komplexe‘ über die Öffnung der Grenze und eine Meinungsbefragung danach auf beiden Seiten der Oder). [D]as Polen der folgenden Monate“ – fuhr die Gutachterin fort – „bot […] das Bild einer völlig in sich zerstrittenen Gesellschaft, in der neben antisozialistischen, vor allem antisowjetischen und chauvinistischen Auswüchsen, einem Überschwappen des Katholizismus und des anarchistischen Wunderglaubens […] Anarchismus und Intoleranz dominierten […].“
Dass derartige Formulierungen sich im obligatorischen Gutachten zur Beantragung der ministeriellen Druckgenehmigung fanden, kann nicht verwundern. Das Ministerium für Kultur ließ die Mitherausgeberin des Bandes, Jutta Janke, ebenfalls wissen, dass sie in ihrer Auswahl „das Chaos der letzten Jahre“ bewusst nicht reflektierte und auf „Machwerke, die in Untergrundverlagen erschienen“, verzichtete.58 Unbekümmert um die Einhaltung der ästhetischen Gattungsordnung bediente das Buch eher ein soziografisches Interesse, indem es Filmnovellen, Erzählungen, Reportagen, Essays und Tagebuchaufzeichnungen aufnahm. Trotz aller Einschränkungen der Zensur gelang es überraschenderweise, unter den Autoren des Bandes Jan Józef Szczepański und Jerzy Andrzejewski unterzubringen. Beide hatten mit oppositionellen Gruppierungen zusammengearbeitet: Andrzejewski war 1976 Mitbegründer der unabhängigen Zeitschrift »Zapis« sowie des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter, Szczepański war im Dezember 1980 zum neuen Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes gewählt worden und verteidigte dessen Autonomie während der Zeit des Kriegszustandes. In der Anthologie fand sich ebenfalls eine Erzählung von Kornel Filipowicz, der seine Publikationen in Untergrundverlagen herausgab. Auch wenn die Herausgeber zu einigen Konzessionen gezwungen waren (Publikation einer Glosse von Jerzy Urban, dem Regierungssprecher in der Militärregierung unter Jaruzelski), konnte der Band quer zur Desinformationspraxis der Medien „kritische Einblicke vermitteln, vorbei an allem vordergründig Spektakulären auf den Alltag sehen, den Land und Leute ungeachtet aller Emotionen zu bestehen haben, […] Vertrautes und Exotisches bieten, um sowohl Verständnis als auch Neugier zu wecken“.59 Insgesamt ist der Transfer polnischer Literatur und Kultur in die DDR sehr positiv zu bewerten: Jene Romane, Gedichtbände und Anthologien trugen im wesentlichen Maße zu Innovationen im Literatursystem der DDR bei und sorgten für Interesse und Verständnis für das Nachbarland. Darüber hinaus strahlten die in der DDR publizierten Übersetzungen polnischer Literatur auch nach Westdeutschland aus: Kaum denkbar wäre zum Beispiel die »Phantastische Bibliothek« des Suhrkamp-Verlags ohne Lizenzausgaben der Werke von Stanisław Lem, die ab den 1950er-Jahren in der DDR verlegt worden waren.
In der ersten Hälfte der 1980er-Jahre war die DDR-Literatur in Polen nicht in einer angemessenen Weise vertreten. Nach einer kultur- und verlagspolitisch stabilen Zeit der 1970er-Jahre kam es erstmals zu einem Stillstand. Im Jahre 1981 erschienen lediglich drei Titel, darunter aber »Kindheitsmuster« von Christa Wolf – ein Buch, mit dem die kritische Rezeption dieser Autorin in Polen ihren Höhepunkt erreichte. Mit den die deutsch-polnische Thematik tangierenden Erzählebenen des Romans – Kindheit, Reise nach Gorzów Wielkopolski (Landsberg an der Warthe), dem Geburtsort der Autorin, Reflexionen sowie der Schreibprozess selbst – fühlten sich die Kritiker besonders angesprochen. Włodzimierz Bialik schrieb in diesem Kontext:
„Was Christa Wolf in ihrem Werk durchführen zu wollen scheint, ist eine Art Abrechnung mit der Abrechnung. Die Qualität der Abrechnung mit der deutschen Vergangenheit und ihre Gemäßheit erscheint Christa Wolf zweifelhaft, sie beunruhigt sie, und nicht nur sie.“60
Mit der Übersetzung von Hermann Kants »Aufenthalt« (1976, poln. 1983) hatte man lange gezögert. Inwieweit die öffentliche Diskussion, die sich in Polen unverzüglich nach der deutschen Veröffentlichung entfachte, darauf Einfluss hatte, bleibt dahingestellt. Kant verarbeitete in seinem Roman das deutsch-polnische Verhältnis in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Protagonist – ein junger deutscher Soldat, dessen Umerziehung in polnischer Gefangenschaft erfolgt – erschien manchen Kritikern als zu naiv, um die Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus überzeugend darstellen zu können. In der Zeitspanne 1981–1990 erschienen aber auch viele Texte aus der DDR-Literatur, die den Wandel der vergangenen Jahrzehnte der sozialistischen Realität kritisch reflektieren. Werke von Werner Heiduczek, Ulrich Plenzdorf oder Christoph Hein durchbrachen die alten Rezeptionsschemen und kamen dem damaligen gesellschaftskritischen Erwartungshorizont des polnischen Lesers entgegen.
Trotz jener Annäherungsversuche im literarischen Feld, in dem der Versuch einer nüchternen Auskunft über die polnische Alltagswelt gegen die politische Hysterie gesetzt wurde, blieb die offizielle Haltung gegenüber Polen von Distanzierung, Abneigung, zuweilen sogar von offener Feindschaft geprägt. Letztere manifestierte sich besonders deutlich in dem Ereignis vom 1. Januar 1985, als die DDR-Führung ihre Hoheitsgewässer an der Odermündung erweiterte, ohne die polnische Seite darüber informiert zu haben. Damit wurde den Vereinbarungen des Potsdamer Protokolls über den freien Zugang Polens zum offenen Meer widersprochen und es entstand die Gefahr, dass der Stettiner Hafen in Zukunft nur noch mit Zustimmung der DDR angelaufen werden könnte. Erst nach zwei Jahren wurden Verhandlungen auf Regierungsebene aufgenommen, im April 1989 unterzeichneten die Regierungen beider Länder nach Jahren des Streits einen Vertrag über die Abgrenzung des Seegebiets in der Oderbucht.
1989 befand sich die DDR im 40. Jahr ihrer Gründung. Der Staatsratsvorsitzende Honecker erklärte, dass die Mauer auch in 100 Jahren bestehen werde und die Parteiführung in ihrer Macht sicher sei und keine Notwendigkeit sehe, ihre Politik zu reformieren. Dennoch wurde das Jahr 1989 zu einer Zeit der Auf- und Umbrüche. Der nachgewiesene Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 führte zu massenhaften Protesten. Zehntausende DDR-Bürger nutzen ihren Sommerurlaub und reisten nach Prag und Budapest in der Hoffnung, einen Weg in den Westen zu finden. Der Weg in die Freiheit führte aber auch über die Botschaft der Bundesrepublik in Warschau: Insgesamt ca. 60 000 DDR-Flüchtlinge erfuhren Unterstützung durch die erste nichtkommunistische Regierung von Tadeusz Mazowiecki. Vorrangiges Bestreben der DDR war es, die neue polnische Regierung zu einer Einhaltung bestehender Verträge anzuhalten, um ein weiteres potenzielles Schlupfloch für DDR-Flüchtlinge zu schließen und eine weitere internationale Isolierung zu vermeiden.
Im September kam es in Leipzig sowie anderen DDR-Großstädten zu Massenkundgebungen. Unter dem Druck der Bevölkerung entschied sich die SED zu einem Führungswechsel: Im Oktober 1989 trat Erich Honecker zurück, Nachfolger wurde sein langjähriger Stellvertreter Egon Krenz, die eingesetzte Regierung überstand jedoch nur wenige Tage und wurde nach dem Zusammenbruch des Grenzregimes durch eine Übergangsregierung Hans Modrows ersetzt.
Am 18. März 1990 fanden die ersten freien Volkskammerwahlen statt. Das Wahlbündnis der Konservativen, die Allianz für Deutschland (Christlich-Demokratische Union, Deutsche Soziale Union und die Partei Demokratischer Aufbruch) errang mit 48 Prozent beinahe die absolute Mehrheit, die SPD kam auf 21,9 Prozent, die nach der Selbstauflösung der SED gegründete PDS auf 16,4 Prozent, und Bündnis 90 – ein Zusammenschluss stark dezentraler Gruppen, die im Herbst 1989 entstanden waren – wurde mit 2,9 Prozent auf die hinteren Plätze verwiesen. Die Parteien der Allianz für Deutschland, die SPD und der Bund Freier Demokraten bildeten eine Koalitionsregierung unter Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU), in deren Programm deutsch-polnische Fragen einen nicht unbedeutenden Stellenwert einnahmen.
Bereits in der ersten Erklärung hatte der Vorstand der Ost-SPD im Dezember 1989 erklärt, die deutsche Einheit müsse in Absprache mit den Nachbarländern gestaltet werden. Dies bedeutete auch eine dauerhafte und bedingungslose Anerkennung der polnischen Westgrenze, womit sich eine erhebliche Differenz zur Politik Helmut Kohls ergab, der in dem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“ diese Dimension völlig weggelassen hatte. Die Position der Ost-SPD wurde nach der freien Wahl noch einmal in der Erklärung der Volkskammer am 12. April 1990 festgehalten. Hier übernahm man – anders als die SED vorher – die Verantwortung, die sich aus der deutschen Geschichte ergab. Die Volkskammer bekannte sich erstmals dazu, Teil eines Volkes zu sein, das Verantwortung für den Holocaust und den Völkermord an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma trage, erklärte die Mitschuld der DDR an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 durch die Truppen des Warschauer Paktes und bekräftigte zugleich die „Unverletzbarkeit der Oder-Neiße-Grenze zur Republik Polen als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens unserer Völker in einem gemeinsamen europäischen Haus“.61 In der Koalitionserklärung wurde außerdem festgehalten, dass man sich für den Beitritt östlicher Nachbarn in die transatlantischen Strukturen einsetzen werde. So machte sich Markus Meckel in seiner Funktion als Außenminister der DDR nach seinem Amtsantritt als Erstes auf den Weg nach Warschau, nicht nach Bonn.
Dieser historisch einmalige Prozess wird in der historiografischen Auswertung der Beziehungen zwischen Polen und der DDR nicht selten außer Acht gelassen, weil er von späteren kurzfristigen, parteitaktischen Überlegungen der Zwei-plus-vier-Verhandlungen und der trilateralen Gespräche der beiden deutschen Staaten mit Polen überschattet wurde. Die Vereinigung Deutschlands fand sowohl für den damaligen Kanzler Kohl als auch für den SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine unter der Perspektive der nahenden Bundestagswahl statt. Kohl wollte die Grenzfrage möglichst lange offenhalten, um Stimmen nationalkonservativer Wähler nicht zu riskieren. Die Regierung de Maizière strebte daher einen Grenzvertrag an, der verbindlich die deutsch-polnische Grenze bestätigen sollte, wie sie 1950 im Görlitzer Vertrag zwischen der DDR und Polen und 1970 im Warschauer Vertrag zwischen Polen und der Bundesrepublik festgelegt worden war. De Maizière schloss sich demnach dem Vorschlag von Tadeusz Mazowiecki an: Entsprechend sollte der Grenzvertrag von beiden deutschen Staaten und Polen noch vor der deutschen Vereinigung ausgehandelt und unterzeichnet sowie sofort danach ratifiziert werden. Dem widersetzte sich die Bundesregierung, sodass die Gespräche im Sand verliefen.
Die Bilanz der Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen fällt differenziert aus. Einerseits stellte sich die „zwangsverordnete Freundschaft“ als ein „ideologisches Konstrukt zur Camouflage der realen Herrschaftsverhältnisse“ heraus.62 Ein auffallender Mangel an Kommunikation, gegenseitige Ignoranz, Abneigung und Feindseligkeit prägten die gesamte Zeitspanne von 1949 bis 1990. Andererseits sollte aber vor allem den außen- und kulturpolitischen Faktoren jener schwierigen Verhältnisse eine gebührende Bedeutung beigemessen werden. Dass die DDR unter sowjetischem Zwang die Oder-Neiße-Grenze anerkannte und diese Anerkennung kurz vor der Wiedervereinigung deutlich zum Ausdruck brachte, war nicht unbedeutend. In der Erinnerung muss auch die Entspannungspolitik der 1970er-Jahre bleiben, in denen die Bevölkerung beider Länder erstmals die Möglichkeit hatte, sich ein realistisches Bild vom jeweiligen Nachbarland zu machen. Zu nennen ist weiterhin die Relevanz der demokratischen Opposition in Polen für den systematischen Aufbau einer Gegenöffentlichkeit in der DDR.
30Vgl. KERSKI, Basil / KOTULA, Andrzej / WÓYCICKI, Kazimierz (Hrsg.): Zwangsverordnete Freundschaft? Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949–1990, Osnabrück 2003.
31BENDER, Peter: Unsere Erbschaft. Was war die DDR – was bleibt von ihr?, Hamburg 1992, S. 96.
32WOLFF-POWĘSKA, Anna: Oswojona rewolucja. Europa środkowo-wschodnia w procesie demokratyzacji, Poznań 1998.
33Zit. nach KOCHANOWSKI, Jerzy / ZIEMER, Klaus (Hrsg): Polska – Niemcy Wschodnie 1945–1990. Wybór dokumentów, Bd. 1, Warszawa 2006, S. 223.
34Die Woche. In: Die Zeit 28 (1950), S. 4.
35Zit. nach MÜNCH, Ingo von (Hrsg.): Ostverträge, Bd. 2, Deutsch-polnische Verträge, Berlin, New York 1971, S. 114 f.
36THER, Philipp: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956, Göttingen 1998, S. 223.
37Zit. nach RUCHNIEWICZ, Krzysztof: Das polnische Echo auf den Juni-Aufstand in der DDR im Jahre 1953, https://www.dresden.de/media/pdf/geschichte/Das_polnische_Echo_auf_den_Juni-Aufstand.pdf, S. 7.
38Zit. nach KOCHANOWSKI, Jerzy / ZIEMER, Klaus (Hrsg.): Polska – Niemcy Wschodnie 1945–1990. Wybór dokumentów, Bd. 3, Lata 1956–1957, Warszawa 2008, S. 146.
39Zit. nach ebenda.
40Zit. nach BRANDT, Marion: Für eure und unsere Freiheit? Der Polnische Oktober und die Solidarność-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR, Berlin 2002, S. 213 f.
41TOEPLITZ, Krzysztof Teodor: Katastrofa proroków. Uwagi o krytyce literackiej i innych sprawach. In: Nowa Kultura 16 (1956), S. 3.
42JUST, Gustav: Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre. Mit einem Geleitwort von Christoph Hein, Berlin 1990, S. 125.
43HEUKENKAMP, Ursula: DDR-Kultur zwischen Lenkung und freier Entfaltung. In: Buch, Buchhandel und Rundfunk 1950–1960, hrsg. von Monika Estermann / Edgar Lersch, Wiesbaden 1999, S. 81–96, hier S. 89.
44Aufbau-Verlag Berlin an das Ministerium für Kultur der DDR, 5.4.1962, DR1/3940, BArch.
45JANKE, Jutta: Gutachten zu „Moderne polnische Prosa“, 23.12.1963, DR1/5040, BArch.
46NAGANOWSKI, Egon: Pióro Anny Seghers. In: Kuźnica 32 (1949), S. 5.
47RAJCH, Marek: Kriegsliteratur aus der DDR und die Zensur in der Volksrepublik Polen in den ersten Nachkriegsjahren. In: Studia Germanica Posnaniensia XXXVII (2016), S. 253–262, hier S. 254.
48POŁCZYŃSKA, Edyta: Der Weg zum Nachbarn. Literatur der DDR in Polen. In: KNEIP, Heinz / ORŁOWSKI, Hubert (Hrsg.): Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1985, Darmstadt 1988, S. 355–372, hier S. 358–360.
49LOGEMANN, Daniel: Das polnische Fenster. Deutsch-polnische Kontakte im staatssozialistischen Alltag Leipzigs 1972–1989, München 2012, S. 156.
50GRUNER-DOMIĆ, Sandra: Zur Geschichte der Arbeitskräftemigration in die DDR. Die bilateralen Verträge zur Beschäftigung ausländischer Arbeiter (1961–1989). In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 32 (1996), S. 204–230, hier S. 206 f.
51Erkundungen. Zwanzig polnische Erzähler, DR1/2349, BArch.
52LICHTENFELD, Kristiane: Verlagsgutachten zu „Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten“, 7.3.1974, DR1/2104, BArch.
53LASOWY-PUDŁO, Magdalena: Recepcja literatury NRD w Polsce w latach 1949–1990, Wrocław 2010, S. 103.
54Zit. nach BRANDT, Marion: Für eure und unsere Freiheit?, S. 278.
55Zit. nach WOJTASZYN, Dariusz: Erich Honecker und die Solidarność, „Berliner Debatte Initial“ 23 (2012), S. 1–9, hier S. 2.
56Zit. nach ROGULSKI, Rafał: Die Öffnung der „Freundschaftsgrenze“ – Motive, Verlauf und Folgen der Einführung des pass- und visafreien Verkehrs zwischen Polen und der DDR, https://d-nb.info/992831253/34.
57Zit. nach BRANDT, Marion: Für eure und unsere Freiheit?, S. 312.
58JANKE, Jutta: Gutachten zu „Nachbarn. Texte aus Polen“, 11.3.1984, DR1/2386, BArch.
59JANKE, Jutta / SCHUMANN, Hubert: Vorwort, in: Nachbarn. Texte aus Polen, hrsg. von dens., Berlin 1985, S. 5–6, hier S. 6.
60Zit. nach POŁCZYŃSKA, Edyta: Der Weg zum Nachbarn. Literatur der DDR in Polen. In: Die Rezeption der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum und die der deutschsprachigen in Polen 1945–1985, hrsg. von Heinz Kneip / Hubert Orłowski, Darmstadt 1988, S. 355–372, hier S. 366.
61Zit nach: MECKEL, Markus: Die Außenpolitik der DDR in der Zeit der freigewählten Volkskammer. In: Mandat für deutsche Einheit. Die 10. Volkskammer zwischen DDR-Verfassung und Grundgesetz, hrsg. von Hans Misselwitz / Richard Schröder, Opladen 2000, S. 75–90, hier S. 80.
62MEHLHORN, Ludwig: Zwangsverordnete Freundschaft? Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949–1990, in: Die deutsch-polnischen Beziehungen 1949–2000. Eine Werte- und Interessengemeinschaft?, hrsg. von Wolf-Dieter Eberwein / Basil Kerski, Opladen 2001, S. 61–73, hier S. 71.