Читать книгу Hegels Gespenst - Markus Litz - Страница 5
ОглавлениеWie es anfing
Jeder sieht mitunter Gespenster, und sei es auch nur der ins Ungeheuerliche verzerrte eigene Schatten. Gespenster erscheinen überwiegend in Träumen, seltener während des Tages. Für kleine Kinder und die von Ängsten beherrschten Zeitgenossen sind sie Ausgeburten der Nacht, ein augenaufreißender Schrecken, der einen plötzlich wie ein Tier anspringt und dann wieder vorübergeht. Für den denkenden Menschen jedoch sind sie nichts weiter als Blendwerk, Trugbilder, reine Phantome.
Vollkommen anders verhielt es sich mit jenem Gespenst, das den Philosophen Hegel im Verlauf von sieben aufeinanderfolgenden Nächten heimsuchte, und seinen angeborenen Gleichmut merklich erschütterte. Es war schwarz wie der Mohr von Venedig, deutlich höher gewachsen als ein durchschnittlicher Student, sehr jung und muskulös, es hatte krauses widerborstiges Haar, und dazu einen Gesichtsausdruck, der selbst einen Löwenbändiger hätte einschüchtern können.
In gewisser Weise erinnerte sein Gesicht an jemanden, ohne daß dessen Name jedoch geläufig wäre. Möglicherweise verfügte es über eine Vielzahl von Namen. Zudem besaß das Gespenst die seltene Eigenschaft, in Sekundenschnelle auf Zwergengröße schrumpfen zu können, oder sich aus lebloser Materie in einen springlebendigen Körper zu verwandeln.
Das Gespenst sprach anfangs in einer Sprache, die dem Professor Hegel zunächst als das befremdlichste Kauderwelsch vorkam, welches ihm jemals zu Ohren gekommen war. Es klang in seinen Ohren wie eine Art Schmatzen, als verzehrte die Erscheinung im Sprechen ihre eigenen Worte. Der seltsame Redefluß wurde immer wieder unterbrochen von Zischlauten und Zungenschnalzen. Das Merkwürdige aber war, daß der Philosoph, sobald sich sein Gehör an dieses ungewöhnliche Sprachgeräusch gewöhnt hatte, es auf einmal wie wohlgefügte deutsche Sätze wahrnahm. In den folgenden Nächten sprach es dann aber so wie die meisten. Klar und verständlich. Eine überaus seltsame Transposition seiner nächtlichen Einbildungskraft.
In jener Zeit, als es mit den erwähnten Träumen anfing, war Hegel bereits Mitglied der Gesetzlosen Gesellschaft zu Berlin. Diese tagte alle zwei Wochen im Englischen Haus an der Mohrenstraße. Zu den Gesprächsrunden, die stets verbunden waren mit einem üppigen Festmahl, traf sich ein exklusiver Kreis von Herren, die meisten unter ihnen Gelehrte, Wissenschaftler, Literaten und Politiker. Sie debattierten an diesen Abenden ausgiebig und angeregt über Gott und die Welt. Es gab Sherry und reichlich Portwein, dazu meist Rinderbraten in einer dunklen würzigen Sauce, außerdem Kartoffelpüree und in Burgunder gekochtes Blaukraut, abschließend einen rosinengespickten Pudding von solch dunkler Konsistenz, daß man nur rätselraten konnte, woraus er sich zusammensetzte.
Aber es schmeckte. Und die Herren vergaßen die Zeit, das schlechte Wetter, die zugigen schmutzstarrenden Straßen, den märkischen Sand, das häusliche Unglück, die Querelen an der Universität, den melancholischen König und jene finsteren, freudlosen Jahre der Restauration. Es gab nur noch Essen und Trinken, und die Gedanken, welche, gelöst durch den Wein, wie kleine Blitze befreit durch den Raum zuckten.
Im Englischen Haus bedienten vier Mohren, späte Nachkommen jener unter der Regierungszeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg aus Westafrika verschleppten Jungen, die im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts in die preußische Hauptstadt gekommen waren, als es die Handelskolonie „Groß-Friedrichsburg“ noch gab.
Groß-Friedrichsburg sei – so die übereinstimmende Meinung der meisten Herren der „Gesetzlosen Gesellschaft“ – ein wahrer Segen für das Land Kurbrandenburg gewesen. „Nicht nur für die Brandenburger, sondern auch für die glücklich zu schätzenden Bewohner jener Gebiete, aus denen sich der afrikanische Zipfel des brandenburgisch-preußischen Reiches zusammensetzte“, fügte Hegel dann mit einem wissenden Lächeln hinzu.
Aus dieser fernen Kolonie an der Küste Westafrikas kamen erst Pfeffer und Paradieskörner, dann Elfenbein und Kakao, schließlich, und nicht zu vergessen, auch etliche Hundertschaften von Sklaven, die man aus dem Landesinneren entführt, in Ketten gelegt, an die Küste verbracht und von dort aus bis zu den Häfen von Brandenburg verschifft hatte. Von diesen Jungen und jungen Männern landeten die meisten in den Schlössern und Häusern des Adels.
Dort wurden sie zu Kammerdienern, Kutschern und Gärtnern ausgebildet, und kamen zudem in den Genuß einer christlichen Erziehung. Als ihre männliche Lust allzu groß wurde, erbarmte man sich ihrer, und ließ auch ein paar Dutzend Frauen aus ihren heimischen Gegenden nachkommen, so daß sie ihre Geschlechtsnot stillen und Familien gründen konnten.
So entwickelte sich mit der Zeit eine kleine afrikanische Kolonie mitten im Brandenburgischen, die anfangs eine vollkommene Kuriosität, später dann zu einem nicht mehr ganz so ungewöhnlichen Anblick wurde. Man sah und übersah jene ihrer Heimat beraubten Menschen, und ließ sie im Hintergrund leben und wirken, ohne daß es schließlich irgendjemandem mehr auffiel. Seit Beginn des Jahrhunderts sah man auch einige von ihnen vermehrt in mehr oder weniger achtbaren Vergnügungsstätten, ebenso auf Rummelplätzen und Jahrmärkten der Umgegend der Hauptstadt.
Die Glanzzeit der Kolonie Groß-Friedrichsburg währte nicht einmal ein halbes Jahrhundert. 1717 wurde sie für den Preis von siebentausendzweihundert Golddukaten und zusätzlich zwölf Mohren an die Niederländisch-Westindische Compagnie verkauft. Holländer, so betonte Hegel mit einigem Nachdruck, seien insgesamt betrachtet weitaus geschäftstüchtiger als die Deutschen, da das Geschäftemachen eine gewisse Nüchternheit, phantasielose Bauernschläue und eine naive Lust an der Geldvermehrung voraussetze.
Von diesen Eigenschaften, so sagte Hegel mit fester Stimme und schwäbelndem Klang, hätten die kultivierteren Deutschen eher wenig abbekommen, und das sei auch gut so. Die anderen Herren schwiegen.
Als der Kanariensekt zum Nachtisch kredenzt wurde, fiel einem der kellnernden Mohren plötzlich das Tablett aus der Hand. Es war, dem Augenschein nach zu urteilen, ein älterer Mann, dessen krauses Haar sehr silbern glänzte. Jemand hatte nämlich den Namen Johann Kuny ins Gespräch geworfen, und bei der Erwähnung dieses Namens war dem silberhaarigen Kellner, vor Schreck oder aus irgendeinem anderen Grund, der Sekt aus der Rechten gefallen.
Johann Kuny, auch Jan Conny, Johannes Conrad, Jean Cunny, John Conni oder Nana Konneh genannt. Ein geschickter Makler, Zwischenhändler und Händler zahlreicher Dinge, der gleichfalls mit Sklavenhandel seinen Reichtum mehrte. Außerdem berüchtigter Anführer einer Privatarmee in brandenburgischen Diensten. Vielleicht der erste Mann aus Ghana, welcher, obwohl er so schwarz wie die Nacht war, eine schneeweiße Paradeuniform des brandenburgischen Generalstabs trug, und an Sonntagen auch eine gepuderte Allongeperücke. Um seinen prächtigen Bauch spannte sich eine purpurfarbene Seidenschärpe und er trank wechselweise Whisky und Cognac aus einem silbernen Becher, verziert mit dem Wappen des Kurfürsten: der rote Adler auf glänzendem Grund.
Johann Kuny: ein Name, der seine Gegner erzittern ließ. Nach dem Abzug der Brandenburger im Jahre 1717 verteidigte er ein geschlagenes Jahr die Festung des Kommandanten gegen die nachrückenden Holländer. Da er über Musketen und Kanonen verfügte und dazu noch ein paar Hundertschaften von treu ergebenen Schlägern wie wilder Honig an seinen Fersen klebten, vermochte er nicht nur den Holländern Widerstand zu leisten, sondern sich auch einen legendären Ruf als schwarzer Preuße zu erwerben.
Selbst hundert Jahre nach jenen Ereignissen sei sein Name noch immer bekannt, betonte der alte Buttmann, welcher gerade noch darüber gejammert hatte, daß die von ihm gegründete Gesellschaft der herodotliebenden Freunde erst kürzlich wegen Mangel an Nachwuchs eingegangen war. Irgendjemand lachte kurz und hämisch, was Buttmann ziemlich erboste. Der Faltenwurf seiner Stirn: ein Aufruhr um nichts.
Hegel sah sich zum Aufbruch genötigt. Es war schon herbstlich an diesem achtzehnten September 1830. Auch schien es dem Philosophen sicherer, nicht allzu spät zu Hause anzukommen. Am Tage zuvor hatte es nämlich eine Revolte von Schneidergesellen gegeben, die wegen der ihrer Ansicht nach unzumutbaren Arbeitsbedingungen auf die Straße gegangen waren. Der Aufruhr war jedoch vom herbeigerufenen Militär rasch niedergeschlagen worden. Dragoner und Ulanen ritten an jenem Abend mit gezogenem Säbel durch die Straßen, und lösten so einen Menschenauflauf am Schloßplatz auf. Es soll wohl auch Verletzte und zahlreiche Verhaftungen gegeben haben.
Unerfreuliche Zeiten, meinten die besorgten Mitglieder der Gesetzlosen Gesellschaft. Es gilt, rasch eine Kutsche zu finden, die einen sicher nach Hause bringt, sagte sich Hegel. Vor dem Eingang des Englischen Hauses warteten zwei Kaleschen, eine davon mit heruntergeklapptem Verdeck. Kein Kutscher weit und breit, nur ein Straßenjunge in verdreckten Kleidern, der auf dem Kutschbock herumlümmelte. Der Junge gab etwas von sich, das wie eine Beschimpfung klang. Dazu schnitt er eine Grimasse, zog die Nase geräuschvoll hoch und spuckte seinen Rotz in hohem Bogen auf die Straße.
Irgendetwas irritierte den Philosophen. Vielleicht der freche Gesichtsausdruck dieses Rotzlöffels, oder es mochte vielleicht der schneidende Wind sein, welcher plötzlich von Osten her wehte. Doch als ein schwarzgekleideter Kutscher scheinbar aus dem Nichts hervorkam, hatte er bereits vergessen, was ihn derart befremdet hatte.