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ОглавлениеMarkus Maurer
Berufsbildung und Arbeitsmarkt zwischen Tertiarisierung und Fachkräftemangel
Herausforderungen für das duale Modell
Die Berufsbildung ist stärker auf den Arbeitsmarkt ausgerichtet als andere Bereiche des Bildungswesens. Während etwa auf der Sekundarstufe I der Übergang in die berufliche Grundbildung oder in eine andere weiterführende Ausbildung und am Gymnasium der Wechsel an eine Hochschule im Zentrum stehen, sind die Angebote der Berufsbildung so gestaltet, dass ihre Abgängerinnen und Abgänger nach einem Abschluss direkt in den Arbeitsmarkt eintreten können.
Im Allgemeinen herrscht nun in der schweizerischen Öffentlichkeit die Überzeugung, dass das Berufsbildungssystem des Landes gut auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts ausgerichtet sei. Häufig wird dabei die im internationalen Vergleich tiefe Jugendarbeitslosigkeit als wichtiger Indikator betrachtet (Donzé & Nowotny, 2012; EVD, 2011, S. 24; Strahm, 2008b). Diese als geglückt wahrgenommene Ausrichtung der schweizerischen Berufsbildung wiederum wird in der Regel mit dem dualen Modell bzw. mit der Betriebslehre erklärt, die eine deutliche Mehrheit der Eintritte in die Berufsbildung – seit 1980 im Durchschnitt zwischen 81 und 85 Prozent pro Jahr (Müller & Schweri, 2012, S. 4) – ausmacht. Gerade weil die Betriebe vergleichsweise stark in die Ausbildung involviert sind, sei die Ausbildung der Lernenden an den spezifischen Bedürfnissen dieser Betriebe und somit auch des Arbeitsmarktes ausgerichtet. Darüber hinaus wird oft hervorgehoben, dass der starke Einbezug der Betriebe in die Berufsbildung auch deshalb deren Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt unterstützt, weil sich das Angebot an Ausbildungsplätzen spezifischer an der Nachfrage nach Berufspersonen mit einer bestimmten Qualifikation orientiert, als dies bei stärker schulisch orientierten Formen der Berufsbildung der Fall ist (vgl. z. B. Hoeckel, Field & Grubb, 2009, S. 16).
Dennoch wird immer wieder die Ansicht geäussert, das schweizerische Bildungs- und Berufsbildungssystem werde den Erfordernissen des sich wandelnden schweizerischen Arbeitsmarkts zu wenig gerecht. So sei die schweizerische Berufsbildung zum Beispiel ungenügend auf den wachsenden Dienstleistungssektor ausgerichtet. Aktuell erhält insbesondere die Diskussion um den Fachkräftemangel im MINT-Bereich (MINT = Mathematik/Informatik/Naturwissenschaften/ Technik) besondere Aufmerksamkeit. Auf der Grundlage solcher Zweifel an der Schweizer Bildungs- und Berufsbildungspolitik wird sodann das grosse Gewicht, das der Berufsbildung in der schweizerischen Bildungslandschaft beigemessen wird, infrage gestellt, ebenso die Zukunftsfähigkeit des dualen Modells – oder dessen Reformierbarkeit. Die Ausrichtung beruflicher Bildung auf den Arbeitsmarkt erscheint aus dieser Perspektive als zentrale Herausforderung der Berufsbildungspolitik.
Den von diesen kritischen Stimmen vorgetragenen Bedenken soll hier nachgegangen werden, vor allem im Hinblick auf die oft bemängelte fehlende Ausrichtung der Berufsbildung auf den Dienstleistungssektor und den Fachkräftemangel. Gleichzeitig stellt der Beitrag dar, mit welchen Massnahmen auf diese Herausforderungen reagiert wird. Besondere Beachtung erhalten die Anstrengungen in zwei spezifischen Dienstleistungsbranchen: Informatik und Gesundheit, die beide im Fokus der Diskussion um Fachkräftemangel stehen. Der Text schliesst mit einem Ausblick auf mögliche Entwicklungen in der schweizerischen Berufsbildung, die ganz zentral ihre Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt betreffen könnten. Zunächst werfen wir jedoch einen Blick zurück auf die Entwicklung der Berufsbildungsgesetzgebung und auf die Bedeutung der Arbeitsmarktorientierung.
Arbeitsmarktorientierung in der Berufsbildungsgesetzgebung der Schweiz – Eine Rückschau
Eine effektive Ausrichtung auf den Arbeitsmarkt war immer ein Kernanliegen der schweizerischen Berufsbildungspolitik. Allerdings veränderten sich dabei die Motive, was jeweils von den massgebenden Akteuren abhing. Im Allgemeinen, so wird der Rückblick zeigen, lassen sich wachstums- und beschäftigungspolitische Motive unterscheiden. Im Zuge der Integration der Berufsbildung in das Bildungssystem des Landes sind jedoch immer mehr auch explizit bildungspolitische Motive hinzugekommen.
Die ersten Aktivitäten des Bundes im Bereich der Berufsbildung waren Teil wirtschaftspolitischer Massnahmen, die auf die Unterstützung des Gewerbes und der Industrie abzielten. Diese Massnahmen wurden vom Bundesrat in den 1880er-Jahren beschlossen, unter dem Eindruck einer wirtschaftlichen Rezession und zunehmenden wirtschaftlichen Wettbewerbs zwischen den Industriestaaten Westeuropas. Dazu gehörte auch der Bundesbeschluss betreffend die gewerbliche und industrielle Berufsbildung aus dem Jahr 1884. Auf der Grundlage dieses Erlasses erhielten die Behörden die Möglichkeit, in den Kantonen verschiedene berufliche Ausbildungsstätten – so etwa Handwerkerschulen, gewerbliche Fortbildungs- und Zeichnungsschulen und weitere – sowie die Durchführung von Lehrabschlussprüfungen finanziell zu unterstützen. Industrie und Gewerbe sollten also durch die Qualifizierung von Arbeitskräften gefördert werden (Berner, Gonon & Ritter, 2011).
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte man auch bei der Ausarbeitung des ersten Bundesgesetzes für die Berufsbildung. Nachdem nämlich 1908 der Bund durch eine Verfassungsänderung dazu befugt worden war, «über das Gewerbewesen einheitliche Vorschriften zu erstellen», wurden in Zusammenarbeit mit den interessierten Wirtschaftsverbänden drei Gesetzesprojekte lanciert, wovon eines auf eine einheitlichere Regelung der beruflichen Ausbildung abzielte (Wettstein, 1987, S. 46). Doch die Vertreter der Industrie, das heisst der Schweizerische Handels- und Industrieverein sowie der Zentralverband der Arbeitgeber, sprachen sich gegen Bestimmungen zu handwerklichen und technischen Berufen aus, die nicht nur für das Gewerbe, sondern auch für die Industrie gelten sollten. Die Position der Industrie konnte sich jedoch weder im vorparlamentarischen Prozess, in dem die Vertreter des Gewerbes von Arbeitnehmerverbänden unterstützt wurden, noch im Parlament durchsetzen, sodass mit dem Bundesgesetz über die berufliche Ausbildung von 1930 erstmals für die ganze Schweiz geltende Bestimmungen für die beruflichen Ausbildungen in Handel und Verkehr, Handwerk und Industrie festgelegt wurden. Diese Bestimmungen betrafen besonders die Dauer der Lehre, den zeitlichen Anteil des schulischen Unterrichts an der Ausbildung, die Durchführung von Prüfungen und die Überwachung der Ausbildung durch kantonale Inspektoren.
Die Ausrichtung der Berufsbildung auf die Qualifizierung von Arbeitskräften der vier Branchen und die Institutionalisierung der – erst viel später als solche bezeichneten – dual organisierten Betriebslehre wurde zunächst also gegen zentrale Vertreter der Industrie beschlossen. Doch die Industrie freundete sich mit der Berufsbildung und ihrer dual strukturierten Organisationsform an. Tatsächlich trug der industrielle Sektor in den Jahren raschen wirtschaftlichen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich zur Expansion der Berufsbildung bei, da immer mehr Industriebetriebe den Anteil ungelernter Arbeitskräfte an ihrer Belegschaft reduzierten. Gleichzeitig verstärkte sich in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass es der Schweiz an qualifizierten Arbeitskräften, welche die Wettbewerbsfähigkeit des Landes langfristig sicherstellen könnten (Wettstein, 1987, S. 66), mangle. Aus diesen Gründen verstärkte der Bund sein finanzielles Engagement für die Berufsbildung. Doch vor dem Hintergrund der grossen wirtschaftlichen Veränderungen waren Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung der Ansicht, dass auch die rechtlichen Grundlagen des Systems angepasst werden sollten; so verabschiedete das Parlament 1963 ein neues Berufsbildungsgesetz, in dem die Kompetenzen des Bundes in der Berufsbildung noch umfassender ausgestaltet wurden. Ganz im Sinne der Vertreter der Industrie, die auf eine grössere Zahl von Ingenieuren und Technikern angewiesen war, war insbesondere die Verabschiedung umfassender Bestimmungen für die Technika, die in «höhere technische Lehranstalten» umbenannt wurden und deren Absolventen sich nun «Ingenieur-Techniker HTL» nennen konnten (Bundesgesetz über die Berufsbildung, 1963; Kiener & Gonon, 1998, S. 165).
Die Revision des Berufsbildungsgesetzes von 1978 kam den Interessen der Industrie noch einmal stärker entgegen. Ausschlaggebend waren jedoch zunächst bildungspolitische Überlegungen. So ging der Anstoss für die Überarbeitung des Gesetzes von Lehrpersonen an Berufsschulen aus, die kritisierten, die Zahl der Prüfungsversager bei den Lehrabschlussprüfungen steige. Sie forderten daher, dass über eine Differenzierung der Ausbildungen in unterschiedliche Anspruchsniveaus nachzudenken sei. Dieses Anliegen wurde auch von einzelnen Vertretern der Wirtschaft aufgegriffen, sodass die Bundesbehörden eine Reformkommission ins Leben riefen. Deren Arbeit mündete schliesslich im Bundesgesetz über die Berufsbildung (BBG) von 1978, das gesetzliche Grundlagen für die Anlehre und die Berufsmittelschule enthielt. Diese hierarchische Ausdifferenzierung der Berufsbildung, von den Gewerkschaften stark bekämpft, war besonders im Interesse von Industriebetrieben, wo die Beschäftigungsstrukturen – im Vergleich zum Gewerbe – immer schon viel hierarchischer waren (Gonon & Maurer, 2012, S. 138f.; Rüegg, 1987, S. 5, 27).
Die jüngste, im Jahr 2002 durch die Bundesversammlung verabschiedete Revision des BBG wiederum wäre ohne die tiefe Rezession der 1990er-Jahre und deren Folgen für den schweizerischen Arbeitsmarkt nicht oder kaum in dieser Form zustande gekommen. In der Tat hatten vor Beginn dieser ökonomischen Verwerfungen zahlreiche Bildungspolitiker über eine Kantonalisierung der Berufsbildung nachgedacht, doch insbesondere die Schwierigkeiten auf dem Lehrstellenmarkt, das heisst die sinkende Zahl von Ausbildungsplätzen für Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I, veranlasste das Parlament, die Anstrengungen des Bundes im Bereich der Berufsbildung zu verstärken (Strahm, 2008a, S. 321–327). Zunächst geschah dies im Rahmen der sogenannten Lehrstellenbeschlüsse I und II (LSB I, 1997; LSB II, 1999), auf deren Grundlage der Bundesrat die Möglichkeit erhielt, Sofortmassnahmen für die Verbesserung der Situation auf dem Lehrstellenmarkt zu ergreifen. Diese Beschlüsse bildeten den Ausgangspunkt für weitere Anstrengungen, die Kompetenzen des Bundes in der Berufsbildung auszubauen und deren heterogene Strukturen weiter zu vereinheitlichen. Dies wurde mit der Revision des Berufsbildungsgesetzes (BBG, 2002) erreicht. Eine zentrale Anpassung bestand darin, dass die Regelungskompetenz des BBG ausgeweitet wurde, und zwar auf Branchen, deren Ausbildung bis anhin im Rahmen separater Gesetze reglementiert worden war. Es handelte sich insbesondere um die Ausbildungen in der Landwirtschaft, in den Bereichen Gesundheit und Soziales sowie in der Kunst. Besonders bemerkenswert an dieser Ausweitung war die Tatsache, dass die Ausbildungen in diesen Branchen bisher stärker schulisch organisiert war, dass sie nun jedoch als Folge der BBG-Revision – und von deren starkem Fokus auf die Bildung in beruflicher Praxis (vgl. BBG, Artikel 16) – stärker dual zu organisieren waren. Die zunächst vor allem im Gewerbe verbreitete dual organisierte Ausbildung, die im Verlaufe der Jahrzehnte in der Industrie stark Fuss gefasst hatte, sollte nun auch in Branchen Verwendung finden, die bis anhin andere Formen der beruflichen Qualifizierung kannten.
Die Ausrichtung der Berufsbildung auf den Arbeitsmarkt in der Kritik
Die Ausrichtung des schweizerischen Berufsbildungsbildungssystems auf den Arbeitsmarkt bot immer wieder Anlass für Kontroversen. Gewisse Friktionen haben sich alleine als Folge der Tatsache ergeben, dass die Zahl der Ausbildungsplätze in einem von der betrieblich organisierten Berufsbildung geprägten System stark von der allgemeinen Konjunkturentwicklung und der Ausbildungsbereitschaft der Betriebe abhängt. So kam es wiederholt zu Phasen ausgeprägter Lehrstellenknappheit (so in den 1990er-Jahren), in denen viele Abgängerinnen und Abgänger der Sekundarstufe I keinen direkten Einstieg in die Berufsbildung fanden. In solchen Phasen sind auch politische Initiativen lanciert worden, die die öffentliche Hand dazu verpflichten wollten, für eine ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen zu sorgen, was primär durch einen Ausbau der schulisch organisierten Berufsbildung hätte ermöglicht werden sollen (Schweizerischer Bundesrat, 1984, 2000a). Aufgrund der aktuell sich verringernden Zahl von Jugendlichen, die aus der Sekundarstufe I austreten, hat dieses Thema zurzeit zumindest aus bildungspolitischer Perspektive etwas an Brisanz verloren – selbst wenn weiterhin einige Personen den Übertritt in die Sekundarstufe II nicht schaffen (vgl. dazu vertieft den Beitrag von Evi Schmid in diesem Band, S. 197ff.).
Zu Diskussionen Anlass gegeben hat jedoch auch der Übertritt der Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Grundbildung in den Arbeitsmarkt, selbst wenn die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz im internationalen Vergleich meist relativ tief lag. So haben etwa die – vor allem im Vergleich zu Handelsmittelschuldiplomandinnen und -diplomanden grösseren – Schwierigkeiten von ausgebildeten Kaufleuten auf dem Arbeitsmarkt in den 1990er-Jahren dazu geführt, dass die kaufmännische Grundbildung umfassend überarbeitet wurde (BBT, 2008, S. D16). Aktuell wird darauf hingewiesen, dass die Arbeitslosigkeitsquote von Personen, die ihren höchsten Abschluss auf Sekundarstufe II erworben haben (dazu gehören vor allem Lehrabgänger), seit einigen Jahren durchweg etwas höher ist als etwa die entsprechende Quote von Personen, die einen Abschluss auf Tertiärstufe vorweisen können (Schellenbauer et al., 2010, S. 68). Problematisch erscheint auch, dass ein Teil der Lernenden nach Abschluss der beruflichen Grundbildung auf wenig ideale Arbeitsverhältnisse trifft, etwa indem sie nicht direkt zu einer Festanstellung kommen. Im November 2011 hatten immerhin 28 Prozent der gelernten Kaufleute drei Monate nach Abschluss ihrer Ausbildung nur einen befristeten Vertrag (Buchs & Ruckstuhl, 2012, S. 8). Eine andere Herausforderung stellt die Tatsache dar, dass viele Lernende bald nach dem Abschluss – entweder aufgrund von Arbeitslosigkeit oder wegen mangelnder Perspektiven – den Beruf wechseln und dabei im Schnitt einen um 5,1 Prozent tieferen Lohn in Kauf nehmen müssen als Personen, die zwar den Lehrbetrieb ebenfalls verlassen, jedoch im erlernten Beruf tätig bleiben (Müller & Schweri, 2009, S. 17).
Wesentlich stärkere bildungspolitische Aufmerksamkeit haben jedoch immer wieder jene Stimmen erhalten, die kritisieren, das schweizerische Berufsbildungssystems sei trotz des starken Einbezugs der Betriebe zu wenig auf den Arbeitskräftebedarf der Volkswirtschaft ausgerichtet. Im Fokus steht zum einen, dass insbesondere die berufliche Grundbildung übermässig auf gewerblich-industrielle Tätigkeiten vorbereitet, während die grosse Mehrheit der Arbeitskräfte in der Schweiz im Dienstleistungssektor tätig ist. Die Tendenz zur Tertiarisierung wird durch den wirtschaftlichen Wandel noch verstärkt: So hat die Zahl der Stellen im Dienstleistungsbereich zwischen 1998 und 2009 um 15 Prozent zugenommen, während jene der Stellen in Industrie und Gewerbe stagniert hat (Schellenbauer et al., 2010, S. 51). Gleichzeitig geht die Ausbildungsbereitschaft von Betrieben im tertiären Sektor seit 1980 zurück, im Kontrast zu den Betrieben im landwirtschaftlichen und gewerblich-industriellen Bereich, deren «Lehrlingsquote» seit 1970 zugenommen hat (Sheldon, 2009, S. 6). Diese Problematik hat in der Öffentlichkeit auch schon den Eindruck erweckt, in der Schweiz würden die «falschen Lehrlinge» ausgebildet (Furger, 2010).
Während die mangelnde Ausrichtung der Berufsbildung auf den schweizerischen Dienstleistungssektor in den letzten Jahrzehnten immer wieder ein Thema der schweizerischen Berufsbildungspolitik war und auch von den Bundesbehörden als Herausforderung angesehen wird (vgl. z. B. Schweizerischer Bundesrat, 2000b, S. 5694), ist jüngst ein anderer Aspekt der Ausrichtung der Berufsbildung auf den Arbeitsmarkt in den Fokus des bildungspolitischen Interesses gerückt: der Beitrag der Berufsbildung zur Verminderung des Fachkräftemangels. So wird von zahlreichen Beobachtern unterstrichen, das schweizerische Bildungssystem bilde insgesamt zu wenig Fachkräfte für den zunehmend wissensintensiven Wirtschaftsstandort Schweiz aus. Insbesondere fehle es an tertiär ausgebildeten Fachkräften im MINT-Bereich. Dass diese Problematik drängend ist, anerkennt auch der Bundesrat: So hielt er 2010 in einem Bericht fest, dass im März 2009 in der Schweiz trotz Wirtschaftskrise bei insgesamt 173 000 im MINT-Bereich beschäftigten Fachkräften «rund 16 000 offenen MINT-Stellen rund 2000 stellensuchende MINT-Fachkräfte» gegenüberstanden (Schweizerischer Bundesrat, 2010a, S. 23).
Einige kritische Stimmen, so die Autoren eines Berichts des Thinktanks Avenir Suisse, orten einen zentralen Grund für den Mangel an hoch qualifizierten Fachkräften in der grossen Bedeutung der Berufsbildung auf der Sekundarstufe II. Dies zum einen, weil ihretwegen die Zahl der Maturanden – bzw. der Schülerinnen und Schüler, die einen direkten Zugang zur akademischen Tertiärbildung (Tertiär A) haben – im internationalen Vergleich relativ tief ist. Zum anderen treten weiterhin verhältnismässig wenige Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Grundbildung in den Tertiärbereich A ein, obwohl mit der Berufsmaturität der Übertritt an die Fachhochschulen geregelt wurde und auch Passerellen existieren, mithilfe derer Berufsmaturanden unter Auflagen auch an Universitäten zugelassen werden können (Schellenbauer et al., 2010, S. 54). Dies müsse zwar wirtschaftspolitisch nicht zwingend ein Problem darstellen, da viele der offenen Stellen mit Bewerberinnen und Bewerbern aus dem Ausland besetzt werden könnten. Allerdings ergebe sich daraus letztlich die eher sozialpolitische Herausforderung der «Überschichtung» durch qualifizierte Zuwanderer (Schellenbauer et al., 2010, S. 54).
Strategie des Bundes zur Sicherung der Ausrichtung der Berufsbildung auf den Arbeitsmarkt
Wie begegnen nun die Behörden den beiden letztgenannten Herausforderungen, also der mangelnden Ausrichtung der Berufsbildung auf den wachsenden Dienstleistungsbereich und dem Fachkräftemangel? Die Bundesbehörden anerkennen grundsätzlich, dass die Berufsbildung, insbesondere die Grundbildung, sehr stark auf Industrie und Gewerbe ausgerichtet ist (vgl. z. B. Eidgenössische Berufsbildungskommission, 2006, S. 17) und dass der Fachkräftemangel eine Herausforderung darstellt, der mit entsprechenden Massnahmen zu begegnen sei (EVD, 2011). Nichtsdestotrotz sind die Behörden der Überzeugung, dass nicht der gymnasiale Ausbildungsweg gestärkt, sondern auf der Sekundarstufe II der Anteil jener Jugendlichen, die eine berufliche Grundbildung absolvieren, möglichst konstant gehalten werden sollte (Donzé & Nowotny, 2012; Schweizerischer Bundesrat, 2010b, S. 42f.), dass auch von Arbeitslosigkeit statistisch verhältnismässig stark betroffene soziale Gruppen (z. B. Jugendliche mit Migrationshintergrund) noch konsequenter in die berufliche Grundbildung integriert und so auf den Eintritt ins Erwerbsleben vorbereitet werden sollten (Schweizerischer Bundesrat, 2010b, S. 29). Für den Bund entscheidend ist die grosse Integrationswirkung des gegenwärtigen Systems, die sich besonders in der im internationalen Vergleich tiefen Jugendarbeitslosigkeit manifestiert (Schweizerischer Bundesrat, 2010b, S. 16). In der Legitimation der bestehenden Berufsbildungspolitik spielen somit beschäftigungspolitische Argumente eine zentrale Rolle.
Was die oft kritisierte mangelnde Ausrichtung der Berufsbildung auf die Dienstleistungsbranche betrifft, braucht es aus der Perspektive des Bundes keine grundsätzliche Reform, insbesondere was die Form der beruflichen Grundbildung angeht. Die in der gegenwärtigen Version des BBG festgehaltene Kooperation der Lernorte und die zentrale Rolle der «Bildung in beruflicher Praxis», die letztlich als Kern der starken Arbeitsmarktorientierung der Berufsbildung betrachtet wird, sollen weiterhin den Rahmen beruflichen Lernens auf der Sekundarstufe II bilden. Dabei nimmt man in Kauf, dass der wachsende Dienstleitungssektor im Verhältnis zu wenig Ausbildungsplätze anbietet, nicht zuletzt deswegen, weil viele Abgängerinnen und Abgänger einer beruflichen Grundbildung in industriellen und gewerblichen Berufen nach ihrem Abschluss eine Anstellung im Dienstleistungssektor finden. Dank der Flexibilität der Absolventinnen und Absolventen der beruflichen Grundbildung könne deshalb, so die frühere BBT-Direktorin Ursula Renold in einem Interview, von einem eigentlichen Strukturproblem nicht gesprochen werden (Fleischmann, 2011, S. 43). Vor diesem Hintergrund ist es nur folgerichtig, dass die Bundesbehörden Berufsbildungsmarketing als eine wichtige Stütze der Berufsbildungspolitik betrachten. Damit sollen nicht nur Jugendliche für die berufliche Grundbildung gewonnen, sondern auch Betriebe von einer Beteiligung an der beruflichen Grundbildung überzeugt werden (Knutti, 2010). Die Verbreitung von Erkenntnissen aus der Bildungsökonomie spielt dabei eine zentrale Rolle; sie zeigen, dass sich die Beteiligung an der beruflichen Grundbildung für eine grosse Mehrheit der Betriebe bereits während der Ausbildungszeit lohnt (Dionisius et al., 2009; Strupler & Wolter, 2012; Wolter, 2008).
Politisch wesentlich mehr Beachtung haben die ausbildungspolitischen Herausforderungen im MINT-Bereich erhalten, was sich etwa darin zeigt, dass zahlreiche Parlamentarier der Bundesversammlung entsprechende Postulate einreichten, die vom Bundesrat in einem umfassenden Bericht beantwortet wurden (Schweizerischer Bundesrat, 2010a). Der Bundesrat ortet die Gründe für den Fachkräftemängel im MINT-Bereich vor allem in der Volksschule und im Gymnasium, also in jenen Bereichen des Bildungssystems, deren Steuerung in der Verantwortung der Kantone liegt. Was die Berufsbildung betrifft, weist der Bundesrat darauf hin, dass immerhin 38 Prozent der Abschlüsse in der beruflichen Grundbildung dem MINT-Bereich zuzurechnen seien, dass die Berufsmaturität eine wichtige Zubringerin für Fachhochschulen darstelle und dass insbesondere die höhere Berufsbildung eine wichtige Rolle spiele, zeichne diese Form von Ausbildung doch «für zwei von fünf Diplomen im MINT-Bereich auf der Tertiärstufe verantwortlich» (Schweizerischer Bundesrat, 2010a, S. 9). Grundsätzlichen Reformbedarf in der Berufsbildung orten die Behörden dabei nicht, da das aktuelle Berufsbildungsgesetz Raum für branchenspezifische Lösungen biete: Die Berufsbildung, so das SECO und das BBT in einem gemeinsamen Bericht zu einer Lehrstellenkonferenz, die sich mit dem Thema befasste, könne auf der Grundlage des aktuellen Gesetzes strukturelle Ungleichgewichte ausgleichen, indem neue Bildungsgänge und Organisationsformen entwickelt würden, «die auf die Bedürfnisse der Arbeitswelt von morgen ausgerichtet» seien (SECO & BBT, 2008, S. 3).
Die Entwicklung neuer Bildungsgänge und Organisationsformen ist jedoch keineswegs einfach. Das zeigen Versuche, den Fachkräftemangel mit Massnahmen im Bereich der beruflichen Grundbildung anzugehen, von denen wir zwei im Folgenden darstellen wollen. Da es sich um Reformen zur Ausbildung im Gesundheitsbereich und in der Informatik handelt, sind beide Beispiele auch relevant für die Herausforderungen in der beruflichen Grundbildung in Dienstleistungsberufen.
Reformen in der beruflichen Grundbildung zum Ausgleich struktureller Ungleichgewichte
Massnahmen im Bereich Informatik
Während die öffentliche Debatte um den Fachkräftemangel im MINT-Bereich erst seit Ende des letzten Jahrzehntes an Schwung gewonnen hat, ist die Debatte um den Mangel an ausgebildeten Informatikern ein gutes Jahrzehnt älter – und sie betraf und betrifft ganz zentral auch die Berufsbildung. Der Arbeitsmarkt für Informatiker begann in den 1990er-Jahren stark zu wachsen, doch mangels Tradition der Betriebslehre war das Angebot an Ausbildungsplätzen auf der Stufe der beruflichen Grundbildung ungenügend. Da der Mangel just in jenen Jahren offenkundig wurde, in denen der aufgrund der wirtschaftlichen Rezession der 1990er-Jahre entstandene Mangel an Ausbildungsplätzen an politischer Brisanz gewann, erschien es den Bundesbehörden wichtig, die im Zusammenhang mit der Umsetzung des Lehrstellenbeschlusses I vorhandenen Gelder zu einem Teil auch für die Förderung der Berufsausbildung von Informatikern einzusetzen (Gertsch & Gerlings, 2001, S. 23).
Die Entscheidungsträger erkannten als zentralen Grund für den Mangel an Ausbildungsplätzen sehr bald ein wesentliches Problem: Den Betrieben fehlte es an Zeit, den Lernenden berufspraktische Grundfertigkeiten zu vermitteln, mit denen diese sich etwa an einfacheren Programmiertätigkeiten beteiligen könnten. Vor diesem Hintergrund lancierte das BBT das Projekt «Modellversuche Basislehrjahr Informatik», das an sieben Orten der Schweiz implementiert wurde. Ziel war es, durch ein praktisch orientiertes, jedoch vergleichsweise stärker schulisch organisiertes Grundjahr Lernenden innerhalb eines Jahres berufliche Grundfertigkeiten zu vermitteln, mit denen sie während der übrigen Jahre der beruflichen Grundbildung leichter in die Arbeitsprozesse der Betriebe eingebunden werden konnten. Eine Evaluation des Modellversuchs legte nahe, dass das neue Ausbildungsmodell Anklang fand: Die Betriebe – so zeigte die Studie – waren zwar der Meinung, dass die Lernenden nach einem Jahr zwar noch über wenig praktische Erfahrung verfügten, doch bestätigten 90 Prozent der befragten Betriebe, «dass sie Basislehrjahre als angemessene Form der Berufseinführung in anspruchsvollen Berufen wahrnehmen» (Jäger, 2001, S. 3).
Da die weitere Finanzierung von Basislehrjahren durch den Bund oder die Übernahme dieser Aufgabe durch die Kantone deutliche Mehrkosten für die öffentliche Hand mit sich gebracht hätte, lag es nach Abschluss der Modellversuche an den interessierten Branchenverbänden und Betriebsverbünden, Basislehrjahre anzubieten. Kritische Beobachter bemängeln aber, dass privatwirtschaftliche Initiativen selten seien, dass das entsprechende Angebot zu wenig gross sei und dass sich der Bund deshalb stärker für die Weiterverbreitung des Modells Basislehrjahr einsetzen sollte (vgl. z. B. Galladé, 2008). Doch die Behörden verweisen – sicherlich auch mit Blick auf die beschränkten finanziellen Ressourcen – darauf, dass die Basislehrjahre trotz des dafür geschaffenen offenen Rahmens des BBG offensichtlich zu wenig den Bedürfnissen der Arbeitswelt entsprechen. Der Bund werde deshalb diese Form der beruflichen Grundbildung finanziell nicht stärker unterstützen; dies wäre, wenn schon, Aufgabe der Organisationen der Arbeitswelt (Schweizerischer Bundesrat, 2008).
Vor dem Hintergrund mangelnder privater Initiativen entwickelte sich jedoch, bereits während die Modellversuche zum Basislehrjahr liefen, in einigen Kantonen der Deutschschweiz eine Ausbildungsform, die noch umfassender auf eine schulische Grundausbildung absetzt – und die öffentliche Hand auch teurer zu stehen kommt als das Basislehrjahr. Es handelt sich dabei um das Modell der Informatikmittelschule. Diese führt nach drei Jahren berufsorientierter Schulbildung – oft an einem Gymnasium angesiedelt – und einem Praxisjahr zu einem EFZ als Informatiker/in im Bereich Applikationsentwicklung und einer kaufmännischen Berufsmaturität. Ähnlich wie das Basislehrjahr für Informatiker wurde diese neue Ausbildungsform zunächst auf Bundesebene vorangetrieben, und zwar im Zusammenhang mit der Umsetzung des Lehrstellenbeschlusses II (Gertsch & Gerlings, 2001, S. 23f.). Nach Abschluss des Projektes «Einführung der Informatikmittelschule» wurde dieses verhältnismässig teure Engagement des Bundes nicht mehr weitergeführt. Es lag jedoch in der Kompetenz der Kantone, das Modell weiterzuentwickeln und auch selbst zu finanzieren (Regierungsrat des Kantons Zürich, 2010). Heute gibt es in der Deutschschweiz sieben solche Schulen, in der lateinischen Schweiz fehlen sie noch (ICT-Berufsbildung Schweiz, 2012a, 2012b). Aufgrund der hohen Nachfrage nach Ausbildungen im Informatikbereich entwickelten sich jedoch zunehmend auch private vornehmlich schulisch organisierte Ausbildungen, die nach vier Jahren ebenfalls zum EFZ, nicht jedoch zur Berufsmaturität führen (vgl. etwa Mittelschul- und Berufsbildungsamt, 2011, S. 2).
Trotz dieser Diversifizierung des öffentlichen Angebots an Ausbildungen im Informatikbereich wird die Zahl der auf der Ebene der beruflichen Grundbildung ausgebildeten Lernenden als zu gering betrachtet. Die Lancierung und Umsetzung entsprechender Massnahmen gestaltet sich jedoch weiterhin schwierig, vor allem weil die Verbände der Informatikbranche zu wenig jene Betriebe vertreten, die einen wesentlichen Teil der Informatikerinnen und Informatiker beschäftigen, etwa Banken und Versicherungen. Dennoch formierte sich 2010 unter der Schirmherrschaft des Dachverbandes ICTswitzerland ein neuer Interessenverband – ICT-Berufsbildung –, der sich primär der Förderung der beruflichen Ausbildung entsprechender Berufsleute widmet und alsbald ein Massnahmenpaket erarbeitete, mittels dessen 3000 neue Ausbildungsplätze geschaffen und so der Anteil der Lernenden der Grundbildung «pro 100 ICT-Beschäftigten auf den Landesdurchschnitt aller Branchen von 5,4 gehoben werden» sollte, wobei Gelder sowohl durch eine Bank (Credit Suisse) als auch durch das BBT zur Verfügung gestellt wurden (ICT-Berufsbildung Schweiz, 2010).
Das Ziel, in der Informatik 3000 neue Lehrstellen zu schaffen, ist freilich ambitioniert. Entsprechend ist es wenig erstaunlich, dass es der Dachverband auch begrüsst, wenn Kantone den Aufbau von Informatikmittelschulen vorantreiben (Grautmann, 2011). Dass die Förderung dieser stärker schulorientierten Form der beruflichen Grundbildung das Ziel der Schaffung neuer Lehrstellen unterminieren könnte, ist den Verantwortlichen sicherlich bewusst, doch angesichts des Mangels ausgebildeter Informatikerinnen und Informatiker nimmt der Verband dies in Kauf.
Massnahmen im Gesundheitsbereich
Grosser Fachkräftemangel herrscht auch in den Gesundheitsberufen, was eine der grossen aktuellen gesundheitspolitischen Herausforderungen darstellt. Offizielle Schätzungen gehen davon aus, dass bis ins Jahr 2020 jährlich rund 5000 Gesundheitsfachleute fehlen, mit denen der Bedarf an Nachwuchs – vor allem im Bereich der Pflegefachkräfte – abgedeckt werden könnte (BBT, 2010, S. 7). Der Mangel an in der Schweiz ausgebildetem Pflegepersonal ist freilich nichts Neues und wird bis heute vor allem durch die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte entschärft. Doch vor dem Hintergrund der in den nächsten Jahrzehnten weiter wachsenden Nachfrage nach Dienstleistungen im Pflegebereich erachten die Bundesbehörden die Abhängigkeit von ausländischem Personal als nicht länger wünschbar (BBT, 2010, S. 8), was nach erhöhten Anstrengungen im Bereich der Personalerhaltung, aber auch der Ausbildung neuer Arbeitskräfte verlangt.
Zur Bestimmung von Massnahmen im Ausbildungsbereich der Pflegeberufe verfügen die Bundesbehörden heute grundsätzlich über mehr Möglichkeiten als noch vor der Revision des BBG. Denn mit dieser wurde die Regelungskompetenz über die Berufe und Ausbildungen im Gesundheitswesen von den Kantonen, in deren Auftrag bis dahin das Schweizerische Rote Kreuz Ausbildungsbestimmungen erlassen und eine zentrale Rolle bei der Durchführung der Ausbildungen gespielt hatte, an das BBT übertragen. Gleichzeitig brachte die Integration der Gesundheitsberufe in die Systematik des Berufsbildungssystems im Hinblick auf den Fachkräftemangel in dieser Branche neue Herausforderungen mit sich: Die bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden Ausbildungen für die Gesundheitsberufe waren so zu reformieren, dass sie den branchenübergreifenden Bestimmungen des BBG für die berufliche Grundbildung bzw. für die höhere Berufsbildung entsprachen. Dies bedeutete zum einen, dass der Fokus der Ausbildungspolitik im Gesundheitsbereich nach 2002 stärker auf die Sekundarstufe II zu richten war, wo bis kurz vor der Revision nur die verhältnismässig niederschwellige Ausbildung für Pflegeassistenten (Schweizerisches Rotes Kreuz, 1993) angesiedelt gewesen war. 2002 – bereits im Hinblick auf die Revision des BBG – wurde die Ausbildung für Pflegeassistenten um eine Ausbildung für Fachangestellte Gesundheit ergänzt (Schweizerisches Rotes Kreuz, 2002b) und schliesslich durch die Attestausbildung für Assistenten Gesundheit und Soziales ersetzt (BBT, 2012b). Die vor der Revision des BBG bedeutendste Ausbildung im Pflegebereich, die zum Diplom als Pflegefachfrau bzw. Pflegefachmann führte, sollte also ihre Funktion als Eintrittspforte zu den Gesundheitsberufen verlieren (Schweizerisches Rotes Kreuz, 2002a). Zum anderen bedeutete die Integration der Gesundheitsberufe in die Berufsbildungssystematik, dass die Praxisanteile der Ausbildungen ausgebaut werden mussten, damit sie der Forderung des BBG nach einer starken Gewichtung der Bildung in beruflicher Praxis entsprachen. Weil die Ausbildungen in Gesundheitsberufen, insbesondere jene für Pflegefachleute, bis anhin primär schulisch organisiert waren, war die Umsetzung der Forderung – wie auch die Ausführungen unten noch zeigen werden – mit Schwierigkeiten verbunden.
Die Ausbildungsreformen im Bereich der Gesundheitsberufe führten zu einer Zunahme der Abschlüsse in diesem Bereich. Dies lag vor allem an der Ausbildung für Fachleute Gesundheit (FaGe), die im Jahr 2010 schweizweit am viertmeisten Antritte von Lehrverhältnissen verzeichnete (Blanchard, 2012; BBT, 2010, S. 14; 2012a, S. 15). Gleichzeitig nahm in den ersten Jahren nach der Revision des BBG die Zahl der Abschlüsse von Pflegeassistenten (nach altem Reglement) ab, was noch nicht durch die erst 2010 eingeführte EBA-Ausbildung für Assistenten Gesundheit und Soziales aufgefangen wurde (BBT, 2010, S. 14). Während der ersten Jahre nach der BBG-Revision sank auch die Zahl der Abschlüsse im Pflegebereich auf Tertiärniveau B. Dieser Rückgang konnte zahlenmässig jedoch durch den Aufbau von Angeboten von Fachhochschulen ausgeglichen werden, die vor allem in der Westschweiz als Schlüssel zu mehr Qualifikationen im Gesundheitsbereich betrachtet werden (BBT, 2010, S. 14; Seiler, 2012).
Auch wenn die Reform der Gesundheitsberufe dank der Einführung der FaGe-Ausbildung insgesamt zu mehr Abschlüssen im Gesundheitsbereich geführt hat, wird immer noch deutlich zu wenig Personal für den Gesundheitsbereich der Schweiz ausgebildet. So errechneten die Behörden auf der Basis der Anzahl zwischen 2000 und 2009 im Mittel ausgestellter Diplome, dass in den Jahren bis 2020 ein zusätzlicher jährlicher Nachwuchsbedarf von 2103 Abschlüssen auf der Sekundarstufe II und 2415 Abschlüssen auf der Tertiärstufe bestehe, was einem zusätzlichen Bedarf von 48 bzw. 51 Prozent entspricht (BBT, 2010, S. 38). Aus diesem Grund wurde 2010 der «Masterplan Gesundheitsberufe» lanciert, dessen Umsetzung vom BBT koordiniert wird. Dabei stehen zwei Aspekte im Vordergrund, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll: Zum einen soll eine bedarfsgerechte Zahl an Ausbildungs- und Praktikumsplätzen geschaffen werden. Zweitens soll die im Gesundheitsbereich noch nicht stark verwurzelte Bildungssystematik besser umgesetzt werden, und drittens sollen Massnahmen zur besseren Qualifizierung ausländischer Fachkräfte getroffen werden (BBT, 2010, S. 47–53).
Die Bereitstellung einer bedarfsgerechten Zahl an Ausbildungs- und Praktikumsplätzen ist deshalb wichtig, weil nur so mehr Abschlüsse auf der Sekundarstufe II möglich sind. Tatsächlich übertrifft die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen für die FaGe-Ausbildung das entsprechende Angebot um fünf bis zehn Prozent. Dieser Mangel an Ausbildungsplätzen wird mittlerweile mit dem Hinweis auf effektive Nettokosten für die ausbildenden Spitäler erklärt (BBT, 2010, S. 6, 16). Aus diesem Grund hat etwa der Kanton Bern beschlossen, die Spitäler zwar zur Beteiligung an der beruflichen Grundbildung zu verpflichten (Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern, 2010b, S. 163), jedoch gleichzeitig deren dadurch entstehende Mehrkosten über Zuschüsse aus dem Etat der Gesundheits- und Fürsorgedirektion zu decken. So werden seit 2009 sogenannte FaGe-Pauschalen ausbezahlt, die je nach Ausbildungstyp zwischen 5000 (Ausbildungsplatz ohne Berufsmaturität) und 20 000 Franken (Ausbildungsplatz mit Berufsmaturität) betragen (Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern, 2010a, S. 2). Der Kanton Zürich geht anders vor. Auch er verpflichtet die Spitäler zwar zur Ausbildung; die dadurch entstehenden Mehrkosten werden aber nicht von der Gesundheitsdirektion gedeckt, vielmehr wird von den Spitälern erwartet, dass sie die zusätzlichen Kosten im Rahmen der durch die Fallpauschalen gegebenen Möglichkeiten selbst übernehmen. Spitäler, die sich nicht an der Ausbildung beteiligen, haben eine Entschädigung in einen entsprechenden Fonds zu bezahlen (Kantonsrat des Kantons Zürich, 2011; Regierungsrat des Kantons Zürich, 2012).
Herausforderungen ergeben sich auch bei der Umsetzung der Bildungssystematik, wobei der Bund und die Behörden zum Teil unterschiedliche Vorstellungen haben, wie diese zu bewerkstelligen sei. Besonders kontrovers wird in diesem Zusammenhang die Rolle der Fachmittelschulen diskutiert, die nach drei Jahren über den Fachmittelschulabschluss – als Alternative zur FaGe-Ausbildung – direkt zu höheren Fachschulen (HF) und nach einem zusätzlichen, stark praxisorientierten Jahr über die Fachmaturität zu Fachhochschulen führen sollen (vgl. EDK, 2003). Auch dafür gibt der Kanton Zürich ein instruktives Beispiel ab: Hier plante der Bildungsrat zur Erhöhung der Zahl von FaGe-Abschlüssen die Schaffung eines Profils «Gesundheit und Naturwissenschaften» an Fachmittelschulen, deren Lernende nach drei Jahren einen Fachmittelschulabschluss und nach einem weiteren Schuljahr einen FaGe- und einen Berufsmaturitätsabschluss hätten erwerben können. So wollte man erreichen, dass die Lernenden nach Abschluss der Fachmittelschule direkt in den Arbeitsmarkt eintreten könnten und gleichzeitig die Möglichkeit erhielten, auf Stufe der höheren Berufsbildung eine Ausbildung (etwa als Pflegefachfrau/-mann) zu absolvieren (Bildungsrat des Kantons Zürich, 2006). Der Ausbildungsgang konnte allerdings nie angeboten werden. Dies lag primär an Vorbehalten des BBT, das diesen Weg zum Abschluss als FaGe als nicht mit den Vorgaben des BBG konform betrachtete, vor allem was den Anteil der Bildung in beruflicher Praxis betraf. Entsprechend wurde das geplante Studienprofil zwar geschaffen, doch führt es nun nach vier Jahren lediglich zur Fachmaturität und nicht zum EFZ FaGe (Bildungsrat des Kantons Zürich, 2011).
Eine doppelte Herausforderung ergibt sich auch für die Fachmittelschulen in der Westschweiz, deren Ausbildungen im Gesundheitsbereich im Vergleich zur Deutschschweiz überproportional grosse Nachfrage erzeugt haben. Zum einen erwerben die meisten Studierenden bloss den Fachmittelschulausweis, der sie in Zukunft nur noch dazu berechtigen soll, ihre Ausbildung an einer höheren Fachschule (HF) fortzusetzen – und nicht an Fachhochschulen, wie dies zurzeit noch Praxis ist. Allerdings gibt es bis heute in der Westschweiz nur eine einzige höhere Fachschule im Pflegebereich – bezeichnenderweise im französischsprachigen Teil des Kantons Bern –, da die Westschweizer Kantone auf den Ausbau der Fachhochschulen setzen (BBT, 2010, S. 23). Zum anderen ist besonders für die Westschweizer Kantone auch der Zugang zur Fachhochschule über die Fachmittelschule noch mit grossen Unsicherheiten behaftet, da er grundsätzlich nur jenen Absolventinnen und Absolventen von Fachmittelschulen offensteht, die auch die Fachmaturität erworben haben. Da dies jedoch nur nach einem Praxisjahr in entsprechenden Einrichtungen der Gesundheitswesens möglich ist und Praktikumsstellen besonders in der Westschweiz rar sind, erwerben in der Westschweiz unterdurchschnittlich viele Schülerinnen und Schüler von Fachmittelschulen die Fachmaturität. Die Bundesbehörden, insbesondere das BBT, sind daher der Ansicht, dass die Westschweizer Kantone auf den Aufbau von höheren Fachschulen setzen sollten (BBT, 2010, S. 20, 23). Doch selbst in der Deutschschweiz ist der Status von Abschlüssen an vielerorts erst im Aufbau befindlichen höheren Fachschulen nicht ganz klar, was wegen der grossen Zahl von Arbeitskräften aus dem Ausland bei möglichen Studierenden Unsicherheit schafft und sicherlich auch seinen Teil dazu beiträgt, dass die Nachfrage nach HF-Ausbildungen hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist (BBT, 2010, S. 23).
Ausblick
Die Beurteilung der Frage, wie gut das Berufsbildungssystem auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts in der Schweiz ausgerichtet sei, hängt letztlich von der Perspektive ab: Die Befürworter der starken Stellung der Berufsbildung im schweizerischen Bildungssystem weisen mit einigem Recht darauf hin, dass die dual organisierte Berufsbildung in der Schweiz wesentlich dazu beiträgt, dass der Eintritt junger Menschen in den schweizerischen Arbeitsmarkt mit deutlich weniger Reibungen verbunden ist als in vielen anderen Ländern. Sicherlich trägt die gegenwärtige Form der beruflichen Grundbildung mit der starken Gewichtung der beruflichen Praxis auch dazu bei, dass die Kompetenzen der Absolventinnen und Absolventen im Wesentlichen den Erwartungen der Betriebe in den betreffenden Branchen entsprechen – und dass sich deshalb ihre Beteiligung an der Berufsbildung für sie auch lohnt. Umgekehrt ist die Kritik berechtigt, dass die Berufsbildung, insbesondere die Grundbildung, ungenügend auf den Dienstleistungsbereich ausgerichtet ist, und ebenso ist wohl korrekt, dass die starke Stellung der beruflichen Grundbildung auf der Sekundarstufe II zu einem gewissen Grad dazu beiträgt, dass die Zahl potenzieller Interessentinnen und Interessenten für akademische Ausbildungen insbesondere im MINT-Bereich der Nachfrage nach Fachkräften in diesem Bereich nicht entspricht.
Wie aber wird sich die Ausrichtung des Berufsbildungssystems in den nächsten Jahren vor dem Hintergrund solcher Herausforderungen weiterentwickeln?
Es ist davon auszugehen, dass die auch durch das BBG abgesicherte duale Ausbildungsform im Bereich der beruflichen Grundbildung – und damit besonders die starke Gewichtung der Bildung in beruflicher Praxis – massgebend bleibt. Eine Reform der entsprechenden Gesetzesbestimmungen würde durch die Arbeitgeber insbesondere aus Gewerbe und Industrie, die wichtigsten Stützen der herkömmlichen Berufsbildungspolitik in der Schweiz, nicht akzeptiert. Darüber hinaus müssten für eine stärker schulisch organisierte Berufsbildung auch die Ausgaben des Bundes – zumindest im Rahmen der aktuellen Gesetzgebung – ganz wesentlich erhöht werden, was im Rahmen des regulären Budgetprozesses nur schwer zu bewerkstelligen wäre.
Es spricht daher einiges dafür, dass der Druck steigen könnte, die durchaus offenen Bestimmungen des BBG zur zeitlichen Gewichtung der drei Lernorte in der beruflichen Grundbildung (vgl. Art. 16, Abs. 3) noch stärker berufsspezifisch auszugestalten; dies würde bedeuten, dass bei einigen Berufen der Anteil schulischen Lernens weiter zunähme, während er bei anderen Berufen stagnierte. Hierbei ist zentral, wie die Bundesbehörden bei der Erlassung von Bildungsverordnungen mit ihrem Handlungsspielraum umgehen. Bleiben die Behörden eher restriktiv, indem sie den Anteil der beruflichen Praxis in allen Berufen auf einem möglichst hohen Niveau zu halten versuchen, wird insbesondere eine stärkere Ausrichtung der Berufsbildung auf den Dienstleistungssektor kaum gelingen.
Wie die Ausführungen zu den stark von Fachkräftemangel betroffenen Bereichen Informatik und Gesundheit gezeigt haben, scheinen die Behörden um eine klare Linie zu ringen: In beiden Branchen sind alle wichtigen Akteure der Ansicht, dass es an Fachkräften fehlt und dass die Berufsbildung ihren Teil zur Lösung des Problems beitragen sollte, und doch trifft die Schaffung von zusätzlichen Ausbildungsplätzen auf hohe Hürden, da die nötige Ausbildungsbereitschaft der Betriebe fehlt. In der Informatikbranche zeigten sich die Behörden relativ flexibel: Zwar stellt sich das BBT gegen eine Förderung des Basislehrjahrs, doch nicht gegen die Errichtung von Informatikmittelschulen, deren Mehrkosten im Wesentlichen von den Kantonen selbst getragen werden. Dieses Modell trägt sicherlich dazu bei, den Überhang der Nachfrage nach Ausbildungen in der Informatikbranche etwas aufzufangen. Ob das Angebot allerdings genügen wird, Firmen längerfristig davon zu überzeugen, dass sie Informatiker weniger aus dem Ausland oder von Universitäten rekrutieren, wird sich in den nächsten Jahren noch herausstellen.
Weniger Flexibilität zeigten die Behörden bisher im Gesundheitsbereich, wie die Ausführungen zu den Fachmittelschulen zeigten. Zentrales Anliegen scheint es zu sein, die FaGe-Ausbildung mit einem wesentlichen Anteil beruflicher Praxis als wichtigste Ausbildung im Gesundheitsbereich und als Pforte zu weiteren Ausbildungen in der Branche zu etablieren. Dies ist wohl vor allem deshalb ein vorerst gangbarer Weg, weil sich im Gesundheitsbereich durch politischen Druck die Ausbildungsbeteiligung der Spitäler eher steigern lässt als in anderen Branchen. Ähnlicher Druck lässt sich im stärker privatwirtschaftlich organisierten Dienstleitungssektor jedoch nicht aufbauen, und schon gar nicht denkbar ist in diesen Bereichen die Subventionierung von Ausbildungsplätzen durch die öffentliche Hand, wie dies bei Spitälern zum Teil bereits der Fall ist.
Eine zentrale Bedeutung für die Ausrichtung auf den Dienstleistungssektor spielt natürlich die zukünftige Entwicklung der kaufmännischen Grundbildung (vgl. dazu den Beitrag von Maurer und Pieneck zur Reform der Berufsbilder in diesem Band, S. 81ff.), zu deren kontinuierlichen Expansion zurzeit vor allem schulisch organisierte Vollzeitangebote an von den Kantonen getragenen Handelsmittelschulen und an privaten Handelsschulen (z. B. HSO oder Minerva) beitragen. Auch dieses Beispiel macht deutlich – wie das der Informatikmittelschule –, dass eine Erhöhung der Zahl von auf den Dienstleistungssektor ausgerichteten Abschlüssen in der beruflichen Grundbildung letztlich wohl nur durch eine stärkere Verschulung der entsprechenden Ausbildungen erkauft werden kann.
All dies zeigt, dass die ideale Ausrichtung der Berufsbildung auf den Arbeitsmarkt eine trickreiche Angelegenheit ist. Zunächst deshalb, weil umstritten ist, ob die Berufsbildung eher an wachstums- oder an beschäftigungspolitischen Zielen zu orientieren sei. Dann jedoch auch, weil die Ausrichtung der Berufsbildung auf Analysen unterschiedlicher Entwicklungen angewiesen ist, so etwa langfristiger Veränderungen des Arbeitsmarkts, der Nachfrage nach unterschiedlichen Bildungsformen oder der Demografie. Entscheide müssen dabei mit Rücksicht auf eine grosse Zahl von Akteuren getroffen werden, auch unter Berücksichtigung internationaler Verflechtungen des Arbeitsmarkts und der ausbildungspolitischen Entwicklung im Ausland, vor allem in Europa. Letztlich soll jedoch auch anerkannt werden, dass die Wirkmacht bildungspolitischer Steuerungsinstrumente durch die föderale Organisation der Bildungslandschaft Schweiz, durch den wachsenden Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Bildungsanbietern und vor allem durch die ständigen Änderungsbewegungen des Arbeitsmarktes letztlich stark begrenzt wird.
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