Читать книгу Was würde Jesus tun - Markus Schlagnitweit - Страница 13

Das „Gespräch mit den Feinden“ suchen

Оглавление

Als „die gewaltigste Rede …, die ich kenne“, hat der Schweizer Schriftsteller und Dramatiker Friedrich Dürrenmatt die Bergpredigt Jesu einmal bezeichnet. „Gewaltig“ nannte er sie gewiss nicht aufgrund ihres Umfanges oder ihrer Rhetorik. Nein, gewaltig ist diese Rede aufgrund ihres Inhalts. Sie zählt zu den herausforderndsten Texten der gesamten Bibel. Manche Passagen daraus mag man noch als geradezu romantisch und jedenfalls rhetorisch gelungen empfinden – etwa die bekannten Seligpreisungen oder einige Bilder und Gleichnisse: vom Salz der Erde oder den Lilien auf dem Feld. Mit dem wahren Höhepunkt dieser großen Rede und dem Kern christlicher Existenz konfrontiert aber der Abschnitt über die Feindesliebe – und wer sich wirklich darauf einlässt, muss es geradezu als Ungeheuerlichkeit empfinden, was Jesus da seiner Gefolgschaft zumutet: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen.“ – Die hier erhobenen Forderungen stellen zumindest für durchschnittliche Menschen, Marke „Normalverbraucher“, nicht nur eine moralische Überforderung dar, sondern auch eine unerhörte Provokation. – Feindes-liebe!!! – Ist das nicht widersinnig? Feindschaft und Liebe sind doch rein semantisch schon als Gegensatzpaar definiert. Kann man von jemandem etwa verlangen, sich mit Wasser abzutrocknen? – Eben!

Vielleicht sind – wie auch Daniela Feichtinger vermutet – viele Menschen in einem so wohlgeordneten Rechts- und Sozialstaat wie unserer österreichischen Heimat in der glücklichen Lage, von Ressentiment-geplagten Nachbarinnen und Nachbarn und missgünstigen Verwandten einmal abgesehen, keine echten Feinde zu haben, also niemanden, der sie abgrundtief hasst und ihre Existenz zerstören will. Aber man stelle sich nur einmal vor, was diese Worte auslösen mögen in den Ohren von Palästinenserinnen und Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen oder bei den seit Jahrzehnten um ihre Grundrechte betrogenen und verzweifelt um ihre Existenz ringenden Landarbeiterinnen und -arbeitern und Indigenen Brasiliens!

Aber auch in sozial (noch) relativ friedlichen Gesellschaften und stabilen Rechtsordnungen hat das Wort von der Feindesliebe hohen Brennwert – und zwar im Sinne Friedrich Heers, des bedeutenden österreichischen Kulturhistorikers, Intellektuellen und Linkskatholiken: Heer publizierte 1949 sein Buch Gespräch der Feinde und setzte alleine schon mit diesem Titel einen Markstein für das Funktionieren einer modernen, pluralistischen Gesellschaft und insbesondere für die spezifische christliche Verantwortung in dieser: Die Komplexität der Moderne sei, so Heer, schlichtweg nicht zu bewältigen. Keine Ideologie oder Weltanschauung, auch keine Religion könne mit gutem Recht für sich einen Alleinanspruch auf Wahrheit und alleinige Deutungshoheit über die Wirklichkeit erheben. Das Zusammenleben in der pluralistischen Moderne könne nur gelingen, wenn die einander widersprechenden Interessen- und Weltanschauungslager sich zu dem bereitfänden, was Heer eben mit dem „Gespräch der Feinde“ meinte: den aufrichtigen und ernsthaften Diskurs mit dem jeweiligen Gegenlager – getragen von gegenseitigem Respekt und dem ehrlichen Bemühen, die Gegenseite wenigstens verstehen zu wollen, ohne ihre Meinung oder Option deshalb gleich teilen zu müssen.

Heers unermüdliche Aufforderung zu diesem „Gespräch der Feinde“ ist auch über 70 Jahre nach Erscheinen seines Buches aktuell. Denn das echte, diskursive Gespräch auf Augenhöhe und mit offenem Visier ist in der Gegenwart schmerzlich selten geworden: Twitter bietet dafür einfach keine ausreichende Plattform. Die vielfältigen sozialen Netzwerke vervielfachen zwar das verfügbare Angebot an Informationen in bis dato ungekanntem Ausmaß, zugleich neigen sie aber dazu, ihre User und Userinnen in sozialen Blasen zu organisieren, in denen eigene Positionen tendenziell bestätigt und verstärkt anstatt an divergierenden Positionen geprüft werden. Meinungsbildungsevents, zu denen die Veranstalter ausschließlich Vertreter ihrer eigenen Position einladen, führen auch selten weiter. Und öffentliche Diskussionsrunden, in denen die Kontrahenten mehr auf Aufmerksamkeitsquoten abzielen denn auf den Austausch von Argumenten, dienen bestenfalls dem Voyeurismus des Publikums, aber keinesfalls der Findung von Wahrheit oder Lösungen.

Vielleicht kann die jesuanische Aufforderung zur Feindesliebe auch hier weiterhelfen: Echte Liebe verlangt immer auch den Raum der Diskretion und Intimität. Ihr geht es ja um das Gegenüber, nicht um sonstige Interessen. Vielleicht kann deshalb das auch in unserer modernen Mediengesellschaft so nötige Gespräch der Feinde nur gelingen, wenn es nicht sogleich an die Öffentlichkeit dringt. Vielleicht könnte es bei einem entspannten Glas Wein oder Bier eher geführt werden – zwischen Caritas-Vertreterinnen und Identitären, Regierungsmitgliedern und Oppositionellen, Gewerkschaftern und Finanz-Jongleuren, Modernisierungsverlierern und erfolgsverwöhnten Kosmopolitinnen. Es wäre jedenfalls ein dringendes Desiderat. Aber es verlangt nach einer Vorbedingung: die Anerkennung des Gegners als gleichrangig, die Würdigung des Feindes als Menschen. Es geht in dieser Akzeptanz der Anderen keineswegs darum, ihre Position einfach zu teilen; es geht vielmehr darum, die Position der Feinde ernst zu nehmen und zumindest als würdig zu erachten, dass man sich mit ihr gewissenhaft auseinandersetzt, weil auch Feinde Würde haben. Es wird auch nicht verlangt, das vom Feind allenfalls erlittene Böse einfach zu vergessen und zu verdrängen, weil Vergessen und Verdrängen niemals heilsam sein können. Es geht vielmehr darum, dieses Böse zu unterscheiden von dem, der es verübt hat: weil dieser niemals in sich böse und verdammenswert ist, sondern immer noch ein Mensch mit grundlegenden Rechten und Würde.

Als spirituelle Grundlage für eine solche Haltung der gegenseitigen Achtung und des Respekts sollten alleine schon die grundlegenden Passagen der UN-Menschenrechtsdeklaration über die unabdingbare Menschenwürde genügen. Das Christentum verankert sie noch zusätzlich in seiner Rede davon, dass alle Menschen – ob getauft oder nicht – Gottes Geschöpfe, seine geliebten Töchter und Söhne und sein Abbild sind. Einen interessanten Zugang bietet darüber hinaus eine Formulierung aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde von Korinth. Paulus fragt darin seine Adressaten: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“, und antwortet gleich selbst: „Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr.“ (1 Kor 3,16 f.) – Auch diese Worte sind eine Überforderung, wenngleich eine ungleich „angenehmere“ als die Rede von der Feindesliebe: Tempel, Wohnung Gottes sein – welcher Mensch vermag das? Unfertig, unvollkommen und ungenügend, wie wir alle sind! Eher noch ein Rohbau, eher eine ewige Baustelle als eine Wohnung, ein Tempel gar! Und dann auch noch: heilig – nicht als Forderung, sondern als Feststellung: „Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr“! – Nein, wenn diese Zusage gilt, dann muss sie für alle Menschen gelten. Welche Vorzüge hätte ein Einzelner schon vorzuweisen, dass sie diese Titulierung rechtfertigten in Unterscheidung zu anderen Menschen? – Nein, wenn schon „heiliger Tempel“, wenn schon „Wohnung Gottes“ – dann heißen alle Menschen so und sind alle heilig! – Heilig: also verehrungswürdig, unantastbar, unbedingt liebenswert. – Alle: also auch die ganz Anderen, letztendlich sogar die eigenen Feinde.

Vielleicht sind diese so zu lieben, wie man eben das Heilige liebt: nicht unbedingt mit derselben Wärme und Zärtlichkeit, mit der man Freunde oder gar Lebenspartner liebt – aber jedenfalls in unbedingter Ehrfurcht und Respekt und im Bewusstsein, dass dieser Andere, dass dieser Feind von unbedingter Bedeutung und Würde ist: Heilig auch er; auch er ein Tempel Gottes – selbst noch im brennendsten Konflikt!

Was würde Jesus tun

Подняться наверх