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00:00 – 01:00 Der Sohn kann nicht schlafen Winfried Thamm

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„Und am Freitach abends früh inne Falle, fit wie die Äffchen, heißt dat Motto. Ihr müsst die schwindelich spiel’n, die Klötze vonne Oberstadt. Die sind groß und breit, aber lahm wie ’ne Schildkröte. Nich’ bis inne Puppen im Park rumknutschen un’ strubbelich saufen. Noch Fragen?“, hatte ihr Trainer beim letzten Training noch gemahnt.

Jetzt war es nach zwölf und er schlief immer noch nicht. Er starrte die dunkle Zimmerdecke an und wartete auf das nächste Auto. Dann wanderten immer die Scheinwerferlichter als helle Fenster-Vierecke durch sein Zimmer. Erst schmale Streifen, die dann zu breiten Lichtfeldern wuchsen und hinter dem Ikearegal zu verschwinden schienen. Das Dunkel danach war noch schwärzer und er fühlte sich wie ein Held, einsam und stark, in einem abgerockten Motel im weiten Niemandsland, irgendwo im Mittelwesten der Vereinigten Staaten, mit einem Schießeisen neben sich, auf seinen Mörder wartend. So ähnlich hatte er es einmal in einem Film gesehen. Das gefiel ihm.

Er hieß Finn, war sechzehn und konnte nicht einschlafen. Da kam ja auch alles auf einmal: um elf sein Spiel beim FC Lütgendortmund gegen die Oberstädter Spielvereinigung. Allein das Wort „Spielvereinigung“ war schon daneben. Die waren alle auf dem Gymnasium, hatten reiche Väter, mindestens drei Paar Fußballschuhe und die Nasen ziemlich weit oben. Es ging um nichts als die Ehre. Also um alles. Er ging zur Gesamtschule, wie die meisten aus seiner Mannschaft. Finn war Torwart. Er hatte ein bisschen Angst vor dem Ascheplatz. Die Hitze der letzten Tage hatte den Boden ausgedörrt und festgebacken, wie Beton. Er würde sich polstern müssen wie ein Michelin-Männchen. Denn ein ängstlicher Torwart ist immer ein schlechter Torwart.

Sein Vater Rolf konnte zu seinem Spiel nicht mitkommen. Das war auch gut so. Väter mischen sich gerne mal ins Spiel ihrer Söhne. Da war sein Vater keine Ausnahme. Und nichts fand Finn peinlicher als das. Rolf musste ins Geschäft, hatte einen kleinen Laden an der Ecke, zusammen mit Onkel Friedel: Obst, Gemüse, Lebensmittel, abends bis neun als Kiosk offen, damit sie über die Runden kamen, mit Bier, Chips, Zigaretten, Jägermeister und dem, was man im Supermarkt vergessen hatte; und mit sehr nackten Frauen in Heften unterm Ladentisch. Sein Vater wusste nicht, dass Finn das wusste. Er hatte eins, unterm Bett.

Rolf hatte sich bemüht, sich richtig angestrengt, und zwar früh genug und es hatte geklappt, hingehauen, funktioniert. Er hatte sie: zwei Karten, für ihn und seinen Sohn. Für das Spiel der Spiele: Schwarz-Gelb Dortmund gegen Blau-Weiß Gelsenkirchen, um halb vier, Heimspiel. Sie würden den Laden heute früher schließen, in der Stadt zusammen eine Pizza essen und dann zum Stadion fahren, er mit seinem Vater. Die Vorfreude formte seine Züge zu einem breiten Lächeln, ließ die Augen in der Dunkelheit funkeln. An Schlaf war nicht zu denken. Gut, dass er Torwart war und nicht so viel Kondition brauchte. Wenn sie gewinnen, sind sie Deutscher Meister, seine Helden in Schwarz-Gelb. Wenn sie versagen und Bayern gewinnt, war’s das. Knapp daneben ist auch vorbei. Vollpfosten. Aber das durfte nicht passieren. Finn ging in Gedanken noch einmal die Aufstellung durch. Die Abwehr stand, im Sturm fehlte die erste Spitze und die Blau-Weißen hatten den besten Torhüter der Welt. Aber so nah waren sie lange nicht mehr dran gewesen, an der Schale. Die machen heute den Sack zu, bestimmt, hoffte Finn.

Und dann war da noch Julia. Wie kann eine Frau von heute nur Julia heißen. Er hieß ja auch nicht Romeo. Doch für sie würde er sich sofort umtaufen lassen. Er würde sich vor allen zum Narren, zur Lachnummer machen lassen, einen Clown nach dem anderen frühstücken, wenn es ihr nur gefiele. Doch da stand sie nicht drauf. Sie war cool und das wäre voll daneben, out-of-brain, totpeinlich; ein extrem vollkrasses No-go, absolut. So sprach Finn gern, denn das war cool, so cool wie sie. Sie gingen miteinander, schon seit drei Wochen. Seine Kumpel machten schweinische Witze und waren picklig vor Neid. Sie waren Hand in Hand und Arm in Arm, wo sie gingen und standen und saßen, konnten nicht voneinander lassen. Sie küssten sich, auch so richtig, wenn alle dabei waren. Und sie fassten sich an, fast überall, wenn keiner dabei war. Selten genug.

Waren sie mit den anderen zusammen und redeten miteinander, waren sie unbeholfen. Die richtigen Worte fehlten noch, für so viel Gefühl. Und sie wollten ja cool sein. Da sagt man nicht viel, besonders nichts Ehrliches. Oft sagten sie ‚geil‘, doch selten meinten sie es so, redeten über Klamotten, Computerspiele und Downloads der angesagten Bands, peinlich darauf bedacht, ja nicht die falschen cool zu finden. Sie hörten Songs über den gleichen MP3-Player, jeder einen Phone-Knopf im Ohr, ein Zeichen größter Intimität. Waren sie allein, erlebten sie sich anders. Da kamen die Worte, die sie sonst suchten, manchmal, nicht immer. Die Sätze und Geschichten über ihr junges Leben, ihre Familien, ihre Wünsche und Pläne und Träumereien kamen in Bewegung, begannen zu fließen und nahmen sie mit in ihre ganz eigene Sehnsucht nach der Welt der Erwachsenen und nach dem Erleben von Liebe, Drama und Wahnsinn, nach den Abenteuern, die noch auf sie warteten. Wenn es so war, spürte Finn, was das hieß: Glück. Und es sollte nie aufhören.

Bei solch einer Begegnung erzählte er Julia einmal von seiner Mutter. Keinem Anderen hatte er mehr über sie erzählt, als dass sie gestorben sei. Julia gestand er, dass er versuchte nicht an sie zu denken. Meistens ging das ganz gut, in letzter Zeit. Aber als sie vor fünf Jahren so qualvoll vom Krebs gefressen worden war, hatte er nicht gewusst, wohin mit seinem Schmerz. Er hatte Wut daraus gemacht, weil er diese besser kannte als den Schmerz. Manchmal hatte er durchgedreht, getobt, sein Zimmer verwüstet und den Vater angeschrien: „Warum ist sie einfach so abgehauen, einfach so weg!“ Rolf hat ihn dann in die Arme genommen, beruhigt und selbst gezittert vor Trauer. In dieser Zeit hatte er manchmal nachts ins Bett gemacht. Dann war er zusammen mit seinem Vater einmal in der Woche zur Therapie gegangen. Frau Dr. Rose hatte ihnen Hausaufgaben aufgegeben, beiden, Finn und Rolf. Sie sollten alles aufschreiben, was sie wussten, über das Leben mit seiner Mutter und wie sie es gefunden und was sie gefühlt hatten. Oft hatte das sehr weh getan, doch letztlich geholfen. Das hatte sie zusammengeschmiedet, Vater und Sohn.

Als Finn all das Julia an einem dieser glücklichen Nachmittage erzählt hatte, hatte sie weinen müssen. „Das tut mir so leid, oh mein Gott“, hatte sie geschluchzt und ihn an schlechte amerikanische Filme erinnert. „Da hast du schon richtigen Schmerz erlebt und ich kenne das nur aus dem Fernsehen.“ Finn hatte weggeschaut, so hatte er sich für sie geschämt, für seine kleine dumme Freundin Julia. Nach einer Weile hatte sie ihn in den Arm genommen und alles war wieder gut gewesen, fast.

Das sind absolut die falschen Gedanken, wenn man einschlafen will, um morgen fit wie ein Äffchen zu sein, dachte er und musste grinsen.

Er kramte das Pornoheft unter dem Bett hervor und schaltete die Leselampe an. Am besten gefiel ihm „Melody“, sie war so ernst und so schön, diese tiefgründigen Augen und diese glanzroten Lippen, halb geöffnet, mit dem Hauch eines Lächelns. Für ihren Körper brauchte sie einen Waffenschein. Das, was sie da mit diesem Chromstab zwischen ihren gespreizten Beinen tat, passte gar nicht zu ihrer geheimnisvollen Aura, machte Finn aber an, manchmal, heute eher nicht. Dies hier und seine Sehnsucht nach Julia gehörten nicht zusammen, waren getrennte Welten. Schnell packte er das Heft wieder weg und löschte das Licht. Er spürte die Scham auf seinen Wangen, drehte sich weg in das Kissen.

So flossen seine Gedanken und Bilder durch ihn hindurch, nahmen ihn mit in den Schlaf und spülten ihn wieder an den Rand des unbewussten Stromes, nur um ihn wieder in einen neuen Traumwirbel zu spülen:

Finn steht auf der Torlinie und macht sich für den Elfmeter bereit. Die Sturmspitze der Blau-Weißen legt sich den Ball zurecht. Um ihn herum das riesige Oval der Tribünen des Stadions bis zum Horizont, ausverkauft. Achtzigtausend Augenpaare sind auf ihn gerichtet. Es ist so still, als habe jemand den Ton abgedreht. Schräg hinter dem Schützen steht Schneider, Marcus Schneider, sein Idol. Er lächelt ihm zu und zeigt den Daumen nach oben. Der Stürmer der Blau-Weißen läuft an, holt aus zum Schuss, ein kurzes Zögern, Finn wartet, sieht ihm in die Augen. Dann der Schuss, das Leder, im Bogen geschlenzt, will ins rechte Eck, Finns Beine ein Katapult, schleudert ihn im riesigen Satz, im Katzensprung, im Flug mit gedehntem Körper und gestreckten Armen zum Ball. Und mit den Fingerspitzen der linken Hand streift er die Kugel und lenkt sie hauchzart über das Aluminium. Ein Orkan bricht los. Das Stadion brennt. Die Schwarz-Gelben stürzen auf ihn zu, als erster Marcus Schneider. Im wilden Knäuel der Begeisterung fallen sie übereinander und über ihn her, den Helden von Schwarz-Gelb Dortmund. Schneider drückt ihn fest an sich, küsst ihn auf den Hals, auf die Wange und auf den Mund. Küsst ihn feucht und genüsslich, küsst ihn wie sonst nur Julia. Finn wehrt sich drückt ihn weg, will nur weg, schreit: „Hau ab, du Sau!“ Schneider schaut ihn an, ruft: „Aber Finn, Finn …“

„… Finn, Finn, wach auf!“

Als er die Augen öffnete, saß sein Vater an seinem Bett und sah ihn fragend an. „Du hast geschrien. War es wieder so ein Albtraum? Hast du wieder von Mutter geträumt?“ Rolf sah ihn besorgt an.

„Albtraum ja, aber nicht von Mutter.

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