Читать книгу Schwarz Gelb - der Tag, die Stadt, das Fieber - Achim Albrecht, Markus Veith - Страница 8

03:00 – 04:00 Heinrich macht sich Gedanken Achim Albrecht

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Es ist nichts Tolles daran, wenn man aus Herne kommt. Es ist auch nichts Tolles daran, wenn man Heinrich heißt. Toll wird es erst dann, wenn man um 03:02 Uhr in einer fahlgrün gekachelten Toilettenzelle sitzt und sich dem Diktat seiner Prostata ergibt, die stillvergnügt vor sich hin wuchert und den Urin in winzige Tropfen portioniert, während der Harndrang eine volle Blase signalisiert. Voll um 23:11 Uhr, voll um 00:28 Uhr, voll um 01:56 Uhr, voll rund um die Uhr.

In der Umgebung von Heinrich starben die altbekannten Gesichter. Rentner wie er. Zigarrenraucher, feiste Quetschbäuche, blasse Beine mit arthritischen Gelenken, Frauen in Gesundheitswäsche, die noch wussten, wie man echtes Essen aus echten Zutaten zubereitete, Ärzte, die noch den Krieg mitgemacht hatten und wussten, dass es vier oder fünf Basiskrankheiten gab, die mit einem halben Dutzend Therapien und einer Handvoll Tabletten zu bekämpfen waren. Nicht solche schräg geföhnten Typen, wie sein neuer Hausarzt, der mit einem Zahnpastalächeln einem verdienten Rentner auf die Nerven fiel und neumodischen Schnickschnack einführen wollte. Außerdem war er aus Süddeutschland, knapp oberhalb Siziliens, wenn man Heinrich fragte. Die Stimme ein einziger flötender Singsang. Fehlte noch, dass er sich schminkte. „Anamnese“, flötete der Schönling, als Heinrich in seiner schönsten Cordhose zum Rapport erschien. Heinrich traute seinen Ohren nicht. Der Kerl wusste noch nicht einmal, wie man „Ananas“ aussprach und gefrühstückt hatte Heinrich schon um 05:30 Uhr, wie jeden Morgen, und zwar Graubrot mit Teewurst, frischen Zwiebeln und einen Pott Caro-Kaffee, richtig stark mit drei Löffeln Instantpulver. Nichts für süddeutsche Bübchen in gestärkten, weißen Schürzenkleidchen. Mein Gott, wo war man nur hingekommen in dieser Republik, in der alles vor die Hunde ging außer der Fußballbundesliga und auch die war nicht mehr, was sie war. Seit wann musste man beim Arztbesuch exotisches Obst essen?

,Er solle gefälligst den Arsch zusammenkneifen und wie ein Mann reden‘, sagte Heinrich zu dem Arzt und tastete nach seiner Schiffermütze, die wie angegossen auf seinem eisengrauen Quadratschädel saß. Der Jungarzt lächelte verständnisvoll. Solche Typen hatten für alles Verständnis. Windelweichgespült, aber innerlich voller Heimtücke. ‚Arsch zusammenkneifen‘. Als hätte Heinrich prophetische Gaben. Von wegen abtasten. Mit dem Finger in den Hintern. Das wollte das Bürschchen. Das könnte ihm so passen. Prostata. Dass Heinrich nicht lachte. Zwei Hände voll Kürbissamen und ein ordentlicher Aquavit und sein Entsorgungssystem wäre wieder auf vollem Strahl. Der alte Siegmund mit seinem fleckigen Stethoskop und seiner spöttisch rauen Art hätte ihn verstanden. Er hatte ihn immer verstanden. Sie waren zwei Kerle aus dem gleichen Schrot und Korn, wie sie heute nicht mehr wuchsen. Drei Sorten Tabletten hatte ihm Siegmund immer verschrieben. Blutdruck, grauer Star und Arthrose. Die drei Heimsuchungen des Alters. Einmal abhören. Einatmen, ausatmen, Zunge raus und in die Augen schauen. Dann fertig. ,Du wirst so alt, wie dein Herz mitmacht. Keinen Tag länger‘. Eine klare Ansage. Ein Händedruck. ,Glück auf‘. Zwei Sätze Fußballlatein mit auf den Weg. So ging Arzt.

Und jetzt das. Gebleckte Zähne, Kauderwelsch, Ananas auf ausländisch, seitlich auf die Pritsche legen, Hose runter, auch den Feinripp und in ein Gerät starren, das fiepend irgendwelche Linien auf einen Bildschirm schrieb. Bei dem Kugelroller und dem schmierigen Zeug auf dem Bauch hielt Heinrich noch mit zusammengebissenen Zähnen durch.

Dann kam die Sache mit dem Finger. Ein manikürter Mittelfinger in Plastiklümmeltüte. Und Heinrichs geheiligter Ausgang. Ein bislang unangetastetes Geflecht aus Raute, Haut und Haaren, verwöhnt durch die gelegentliche Kosmetik von zweilagigem Toilettenpapier von Aldi. AUSGANG, kein EINGANG. Das hatte die kleine Schwuchtel von Arzt wohl nie so richtig gelernt. Bestimmt einer aus so einem Mafia-Internat, in dem man rhythmisch klatschte, seinen Namen tanzte und dafür das Abitur nachgeschmissen bekam. Heinrich hatte davon gehört. Er war ja nicht von gestern. Auch er brauchte Dinge, vor denen er sich ekelte. Dazu gehörten Stinkefinger, die dorthin gehen wollten, wo nie eines Menschen Finger zuvor gewesen war und Ananas beim Arzt. Ja, wo war denn überhaupt die Ananas? Nicht, dass Heinrich Appetit auf Obst in Sirup gehabt hätte, aber versprochen war versprochen.

‚Entspannen‘ und ,nur kurz abtasten‘ war das Letzte, was Heinrich hörte, bevor er sich von der Liege wälzte, den Hosenbund an sich zog und dem säuselnden Süddeutschen zwischen die Beine trat. ,Geronimo‘ brüllte Heinrich, weil ihm nichts Besseres einfiel und weil er ein Kosmopolit war. Herne, Dortmund, Wanne-Eickel. Alles Kosmopoliten mit sauberer polnischer und italienischer Herkunft. Malocher vielleicht, aber mit Herz und Verstand. Dagegen vor ihm ein sich wie ein Wurm auf dem Boden windender Arztdarsteller aus südlichen Gefilden, der seine geschliffenen Manieren für einen Satz blitzblauer Eier eingetauscht hatte.

Tja, und jetzt saß man mitten in der Nacht auf der Toilette mit seiner altersgereiften Prostata und wartete unter Pressatmung auf den nächsten Tropfen und das Gefühl der Erleichterung, das keine zwei Stunden anhalten würde. Menschenunwürdig, dachte Heinrich und tastete nach der Zeitung. ,Meisterstück?‘, schrie es ihm entgegen. Darunter der Wetterbericht für das entscheidende Spiel der Schwarz-Gelben. Es sollte warm werden, eigentlich zu heiß für Ende Mai. Das Wetter war früher auch zuverlässiger. Wie alles. Heinrich stöhnte und schloss die Augen. Wo hatte er seine verdammten Zigarren gelassen? Ein ordentlicher Zug an einem Stumpen und wenigstens sein Stuhlgang würde funktionieren.

,Großes Polizeiaufgebot‘ las Heinrich. Polizei, meine Fresse, dachte er. Nach seinen Erfahrungen konnte man sich das schenken. Keine Zucht, keine Ordnung. So war das. Nach der Episode beim Arzt war Heinrich pflichtgemäß zur Polizei in der Nähe der Steinwache gegangen. Er war Deutscher. Er war 72 und ein aufrechter Bürger und er hatte Arthrose in den Knien. Irgendjemandem musste er doch Meldung über den unappetitlichen Vorfall machen. Heinrich schämte sich, aber sexuelle Belästigung war sexuelle Belästigung. Er würde dem Burschen das Handwerk legen. Heinrich hatte den Steilpass zwar punktgenau verwandelt und den Fummelarzt in ein Häufchen Elend verwandelt, aber danach war sein rechter Meniskus vollkommen defekt. Sogar seinen Spazierstock musste Heinrich holen. Auf der Wache ließen sie ihn in einem kahlen Räumchen sitzen, obwohl Heinrich wortstark einen sofortigen Einsatz verlangte, am besten mit einem Sonderkommando, solange der Sittenstrolch noch seine Spermien nachzählte.

Heinrich schluckte noch, dass kleine, blonde Mädchen Polizistin werden dürfen, er schluckte auch, dass er seine Geschichte auf alle unbedeutenden Kleinigkeiten wie Adresse, Uhrzeiten und den Grund des Arztbesuchs ausdehnen musste, während ein offensichtlicher Sexualverbrecher in der Maske eines Allgemeinmediziners Dortmund unsicher machte. Heinrich war kooperationsbereit bis zur Selbstaufgabe und mit der Geduld und Weisheit des Alters gesegnet. Was ihn aber in Rage brachte, war dieses blondhaarige Geschöpf in Polizeiuniform, die ihn nach endlosem Warten im Tonfall einer nachsichtigen Oberlehrerin darüber informierte, man habe mit der Arztpraxis telefoniert und der Arzt werde keine Strafanzeige stellen. Es handele sich offenbar um ein Missverständnis.

Missverständnis. Heinrich vergaß einzuatmen. Er vergaß die stechenden Schmerzen in seinem Knie. Das dümmliche Grinsen der uniformierten Göre hing über ihm wie ein geschminkter Lampion. Heinrich riss den Spazierstock nach oben.

Sein Einsatzkommando hatte er bekommen und Handfesseln dazu. Irgendein Clown von den Ruhrnachrichten war, Gott weiß woher, wie aus dem Nichts aufgetaucht und hatte von dem rabiaten Rentner Fotos gemacht. Der Rest würde in den Lokalnachrichten auftauchen. Von wegen rabiater Rentner, von wegen Beleidigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. Entrechtet, geknechtet, mit schweren Knieschäden und noch immer ohne Ananas. So verhielt sich die Sache. Heinrich würde das klären. Gründlich klären. Aber erst einmal brauchte er seine Tabletten und eine Mütze voller Schlaf. Schließlich war man keine Dreißig mehr und die Gestapo konnte gerne nach dem Spiel wieder vorbeikommen. Wahrscheinlich würden sie jetzt gerade mit einigen Hundertschaften von Drogensüchtigen, Pennern und anderen Kriminellen bei Champagner zusammensitzen und sich die Beute teilen. Wahrscheinlich ging es zu wie bei den Weiß-Blauen, die auch mal wieder eine aufs Maul brauchten und zwar kräftig.

Heinrich rieb sich das Knie, rieb sich die Handgelenke und starrte auf den amtlichen Zettel, der ihm im Behördenjargon eine Latte von Straftaten vorwarf. Heinrich griff nach den Resten seiner Tabletten. Er war empört, war entrüstet, war in seinem Normalmodus, nur irgendwie aufgeputschter. Er fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht. So mussten die Schwarz-Gelben spielen. Genauso. Mit der gleichen Leidenschaft. Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und die Deutsche Meisterschaft. Darum ging es im Leben.

Heinrich zog die Schlafanzugshose hoch und betätigte die Spülung. Das Rauschen würde das ganze Haus wecken. Wie immer, wenn er sich von einem Toilettensitz hochstemmte, musste Heinrich an seine verstorbene Frau Ingeborg denken. Gott hab sie selig. Sie war ein richtiges Reibeisen gewesen und nie wirklich jung. Aber sie konnte kochen und bügelte Hemden wie keine zweite. Den Garten hatte sie auch gemacht und die Parzelle nahe dem Theodor-Fliedner-Heim bewirtschaftet wie eine Bäuerin.

Toiletten waren das entscheidende Thema ihrer Werbephase gewesen, die kurz und heftig verlief. Heinrich war schon immer ein Sitzpinkler gewesen und Frauen schätzen das. Eine von Geburt an stark gekrümmte Harnröhre erwies sich als Heinrichs bestes Charmekapital. In einigen kläglich gescheiterten Versuchen, das Ritual männlichen Wasserlassens im Stehen zu vollziehen, brachte es der Knabe Heinrich lediglich zu unkontrollierten Urinkurven, die seine eigenen Beinkleider durchnässten, was ihm im besten Falle Mitleid und Kopfschütteln einbrachte und im Normalfall eine gepfefferte Ohrfeige. Damals begann Heinrich mit dem sitzend Pinkeln und blieb dabei.

Nie hatte er geglaubt, dieses schändliche Versagen einmal gewinnbringend einsetzen zu können, aber genauso kam es. Es war wieder einmal Cranger Kirmes und ein staubiger, durstiger Tag, als er mit Ingeborg in seiner linkischen Art durch die Reihe der Stände flanierte. Luftige Kleidchen in Pastellfarben bei den Frauen, Sommeranzüge und Strohhüte bei den jungen Herren, Heinrich dabei keine Ausnahme. Er bemühte sich, Ingeborg, die ein zitronengelbes Schirmchen über sich hielt, um der Sonne Herr zu werden, nicht anzusehen. Immer, wenn er sie ansah, errötete er und flüchtete mit seinem Gesicht in ein überdimensioniertes kariertes Sacktuch, in das er lautstark prustete. Backfisch, kandierte Äpfel und Wurfbuden, schon damals. Man trank Bier und Apfelschorle. Toilettenhäuschen suchte man vergebens, aber die natürlichen Bedürfnisse blieben.

So reihten sich rotbackige Herren lässig am Wegesrand auf und vollzogen ihr Pinkelritual, begleitet von dem Tuscheln und Giggeln ihrer weiblichen Begleitungen, die sich dezent im Hintergrund zusammendrängten und den großspurigen Wettbewerb aus den Augenwinkeln beobachteten. Heinrich war in größter Not und hielt Ausschau nach einem Gebüsch oder einer Baumgruppe, hinter der er sich niederhocken konnte. Sein Gesicht war puterrot vor Scham. Ingeborg hing an seinem Arm wie ein totes Gewicht. Sie schien nicht zu verstehen. Bald aber würde sie Heinrich in seiner ganzen Jämmerlichkeit in einem Graben sitzen sehen wie ein Weib und würde ihn mit eisigem Gesichtsausdruck verachten.

Es kam anders, vollkommen anders. Ingeborgs Gesicht wurde weich, als Heinrich nach einer gestammelten Erklärung, deren Wortlaut dem Lexikon eines Wahnsinnigen entstammte, davon stürzte, um sich hinter einem Ginstergesträuch niederzuwerfen. Sie hatte ihm noch beruhigend über den Arm gestrichen und behielt den schwärmerischen Gesichtsausdruck bei, als Heinrich in gefestigter Haltung und bangen Herzens hinter ihr auftauchte. Danach hatte Heinrich leichtes Spiel. Ingeborg war die Seine und Heinrich hatte eine wichtige Lektion gelernt. Frauen liebten schöne Dinge. Schöne Dinge und verletzliche Seelen. Rehe z. B. und Schmuck, Düfte und zarte Stoffe. Und Sitzpinkler.

Heinrich ging schleppenden Schrittes zu seinem Bett. Das rechte Knie schmerzte. Er würde zum Arzt gehen müssen. Zu einem anderen Arzt, das war klar. Zu einem, der den Namen verdiente. Er würde es mit dem Mannschaftsarzt der Schwarz-Gelben versuchen, einem echten Kerl, der auch die Fußballer in Nullkommanichts wieder auf Vordermann brachte, damit sie die ganze Saison durchhielten. Sicher würden ihm von einem solchen Mediziner keine peinlichen Fragen über Erektionsbeschwerden gestellt werden.

Erektionsbeschwerden − und das unter dem Deckmantel, man müsse die Folgen einer Prostatavergrößerung abschätzen, um die richtigen Gegenmaßnahmen einzuleiten. Erektion − und das bei einem verdienten Pensionär, einem Bahnobersekretär im Ruhestand, einem Ruhestandsbeamten, der sein gesamtes Leben nichts anderes getan hatte, als korrekt zu sein.

Heinrich sah seufzend auf den Wecker: 3:21 Uhr. Er wollte nicht an Erektionen denken, auch nicht zu medizinischen Zwecken aber sein Kopf hatte andere Ideen. So war das bei alten Menschen. Der Schlaf floh vor ihnen und die Ventile des Körpers ließen sich nicht mehr beherrschen. Dafür verstärkte sich das Kopfkino.

Es war nicht so, dass Heinrich und Ingeborg keinen Sex gehabt hätten. Ganz im Gegenteil. Sie waren beide gesunde und kräftige Menschenkinder und wussten um ihre Pflicht. Damals allerdings hatte man noch Anstand. Anstand in jeder Lage. Man fiel nicht übereinander her wie Vieh und probierte unnatürliche Dinge aus. Man hielt sich an Traditionen und gesicherte Abläufe. Das Licht wurde gelöscht und im Schlafzimmer waren die Betten vorgewärmt. Man tastete mit abgewandten Gesichtern unter der Nachtwäsche, bis man fündig geworden war und küsste sich streng nach Brauch. Der Körper des anderen war ein Geheimnis und sollte es auch bleiben. Die Vereinigung war eine kurze Sache, kaum dazu geeignet, die Bettwäsche in Unordnung zu bringen. Jeder erledigte seinen Part. Man küsste sich erneut und versank guten Gewissens in einen tiefen Schlaf.

Der Pfarrer war der Einzige, der zu den Zeugungsvorgängen Fragen stellen durfte, denn bei der Abnahme der Beichte musste man genau sein. Das forderte Gott und mit ihm die Mutter Kirche, die über das seelische Wohl der Gläubigen wachte. Pfarrer fragten nach Lust und wollüstigen Gedanken. Wenn man verneinte, was insbesondere Ingeborg aus vollem Herzen tat, lobte der Pfarrer, wenn man von unzüchtigen Anwandlungen und einem übermäßigen Ausstoß von Körpersäften berichtete, tadelte der Pfarrer milde und erteilte die Absolution unter Auflagen. So war das mit der Kirche und dem Gewissen. Deutschland konnte stolz auf seine Ehepaare sein.

Seit Ingeborg nicht mehr war und schon lange zuvor − genau nach der zweiten Fehlgeburt, die Ingrid erlitt, hatte Heinrich mit dem stillschweigenden Einverständnis Ingeborgs die ehelichen Pflichten eingestellt. Das mit der Erektion jedoch konnte er nicht so ohne Weiteres einstellen. Erektionen sind heimtückisch und stellen sich ohne eigenes Zutun ein. Heinrich tat sein Bestes in dem Bewusstsein ein Beamter und dem Staat besonders verpflichtet zu sein, um die Signale seines Körpers zu ignorieren. Meist mied er Orte, an dem ihn die Erektion ereilte und er mied auch den Pfarrer und die Beichte, um nicht seine Hilflosigkeit vor den eigenen animalischen Zuständen enthüllen zu müssen. So blieb Heinrich Ingeborg und seinem Ehegelübde treu, auch über den Tod hinaus. Jedenfalls für eine gewisse Zeit.

Alles änderte sich, noch bevor Heinrichs Prostata beschlossen hatte zu wuchern. Die Nordstadt war schuld − und Rewe. Danach war Rewe Edeka. Aber die waren genauso schuld. ,Und führe mich nicht in Versuchung‘, hieß es doch in der Heiligen Schrift, die für alle galt, auch für Supermärkte und ihre Parkplätze. Zu Hornbach zog es Heinrich nicht. Er hatte zwar handwerkliches Geschick, aber seine Wohnung war solide eingerichtet. Vollholzmöbel und blickdichte Vorhänge. Nichts, was nicht mehrere Generationen überdauern könnte. Kein neumodischer Kram aus gepresster Pappe. Ab und an ein Pinsel Farbe und die Renovierung war beendet. Wäre Heinrich weniger werthaltig eingerichtet gewesen, hätte er viel eher mit Hornbach und den Paradiesvögeln Bekanntschaft gemacht, die sich in der Nähe des Baumarktes versammelten. Am Anfang der Straße die Männer mit den gebräunten Gesichtern und den Goldkettchen. Dann die Frauen. Aufreizend kurze Röcke, schrille Farben, Pin-up-Posen. Erektionsgebiet.

In den Supermärkten die übliche Tristesse aus lieblos präsentierten Waren und Kunstlicht. Heinrich wusste immer genau, was er kaufte. Er hatte keinen Hang zur Abwechslung. Warum auch? Sein Leben funktionierte. Er war zufrieden. Und dann Biggi.

Heinrich war ein Kavalier. Wenn er sich nicht aufregen musste, gelang ihm der Kavalier reibungslos. Heinrich hatte eine gute Kinderstube genossen und die Ohrfeigen, die er für ungebührliches Verhalten bezogen hatte, hatten ihm nicht geschadet. Heinrich war für eine konsequente Erziehung, denn Konsequenz erzeugte Kavaliere und Frauen wie Biggi profitierten von Kavalieren. Biggi verfügte über mächtige Brüste, die in einem neongelben Stretchstoff steckten, als stünde ihre Selbstbefreiung unmittelbar bevor. Heinrich hatte sich vor dem Supermarkt einen Stumpen angezündet, wie er es immer tat und bemühte sich, seinen Einkaufswagen in eine schiefe Reihe dieser Drahtgestelle einzufädeln, als sein Kopf fast mit der Brustwehr von Biggi kollidierte. Ein dekorativ bemalter Mund und aufregend schwarz geränderte Augen sagten: ,Kann ich helfen?‘ Sie sagten es irgendwie anders als jede andere Frau zuvor und definitiv anders als die eher scheue Ingeborg mit ihrem zaghaften Stimmchen. ‚Ich bin Biggi und wer bist du?‘ Die Stimme war rau, tief und erfahren, und der Atem roch nach Zimt. Eindeutig nach Zimt. Die Brüste vor Heinrichs Gesicht atmeten tief ein und aus. Brustwarzen. Heinrich konnte die Brustwarzen sehen. Blindlings streckte er sein Einkaufsnetz von sich und hoffte, die Aufmerksamkeit von seinem Schritt abzulenken. Er schwitzte. ,Heinrich‘, sagte er und dann sprach er nicht mehr.

Der Hintern unter dem dürftigen Minirock hatte jede Aussicht, den Wettbewerb mit den Brüsten zu gewinnen. Heinrich fand sich hinter einer Batterie von Containern am Rande des Parkplatzes wieder. Ein Unkraut bestandener Hang, flüchtig zusammengekehrter Abfall und das Gemurmel des Verkehrs. Biggi murmelte auch, während sie ihre Hände auf die Reise schickte. Hände mit orange-farbigen Fingernägeln, auf die blaue Glitzersteine aufgebracht waren. Heinrich wollte helfen. Kavalier sein. Kavaliere wehrten sich nicht gegen Frauen, die es gut meinten. Und Biggi meinte es gut. Sehr gut. Seeeeeeehr gut. Die Hände, die Brüste und überhaupt alles. Wie glühendes, glühendes Herzschlagfinale. Heinrich hatte sich Hilfe suchend und nach Atem ringend umgesehen, den Bund seiner Stoffhose in der Hand. Biggi, die geschickte Biggi hatte mit Kleenex und Zimtspucke den alten Zustand wieder hergestellt. Sie hatte Routine. Eine tüchtige junge Frau. Heinrich suchte nach seiner Empörung. Es wäre Zeit gewesen, sich zu empören, aber sie ließ auf sich warten und dann war es zu spät. Dass sich Biggi aus seiner Geldbörse bediente, nahm Heinrich als wohlverdiente Buße, die ihm den Gang zum Pfarrer ersparte. Biggi würde den Betrag spenden. Für Kinder in Not oder für Tiere.

Heinrich tat in der Folgezeit des Öfteren Buße mit unterschiedlichen Frauen, die unterschiedliche Dialekte sprachen, aber hochbegabt waren. Das störte Heinrich nicht, denn er war ein Kosmopolit und ohne jedes Vorurteil, wenn es um die gute Sache und nicht um Prostata-Untersuchungen ging.

Auch um 03:44 Uhr in einer Mainacht, die außergewöhnlich mild war und den fauligen Gestank nicht abgeholten Mülls und unausgesprochene Erwartungen an das große Spiel transportierte, störte sich Heinrich an nichts. Er war erschöpft, so erschöpft und müde, dass er das schlaftrunkene Fiepen eines eigentümlich gelb und schwarz gefärbten Vögelchens in der Kastanie gegenüber nicht mehr wahrnahm.

Schwarz Gelb - der Tag, die Stadt, das Fieber

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