Читать книгу Schwarz Gelb - der Tag, die Stadt, das Fieber - Achim Albrecht, Markus Veith - Страница 6

01:00 – 02:00 Eingesperrt Silvana Richter

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Madame Tussaud lag auf dem Bett und lauschte, den Blick starr auf die Tür geheftet − festgetackert sozusagen. Sie wagte kaum zu blinzeln, aus Angst, den Moment zu verpassen, in dem sich die Klinke nach unten bewegt. „Die hypnotisiert wieder die Tür“, würde diese Frau sagen, bei der Dominik sie manchmal ablieferte und die er Tante Tilly nannte. Eine grässliche Alte, die immer wollte, dass sie sich zu ihr auf die Couch legte, sobald Dominik ihr einen Kuss auf die Schnauze gab und zur Tür hinaus verschwand. Widerwillig, aber ohne Knurren, ertrug Madame Tussaud dann die Umarmungen, die ihr fast die Luft abschnürten, oder das Gewuschel durch ihre Locken und das rhythmische Patschen auf den Kopf, als wäre der ein Tennisball. Wenn sie mal nach draußen gingen, dann immer nur einmal die Straße rauf und runter. Und sobald sie etwas Interessantes entdeckte und stehen blieb, zerrte Tante Tilly sie augenblicklich weiter. Sie hasste diese Tillytage. Lediglich die Schokodinger, die ihr die Frau vorsetzte, machten das ganze erträglich. Und Jacqueline natürlich, die nebenan wohnte und rüberkam, wenn sie durfte. Dann war schon mal ein längerer Spaziergang drin oder sie vergnügten sich mit einem Spiel. Mit ihr klappte auch die Verständigung besser als mit dieser Tante, die sich so komisch bewegte und nicht so recht zu durchschauen war. Wenn Dominik sie dorthin brachte, fragte sie sich, warum er sie so bestrafte und die Angst, dass er nicht mehr zurückkam, überfiel sie jedes Mal aufs Neue. Dann quälte sie die Erinnerung an die Tage, an denen sie sehnsüchtig jedem Zweibeiner ihre Schnauze durch die Gitterstäbe entgegenschoben hatte. Der, der jeden Tag das Futter brachte und mit einem Wasserstrahl den Boden säuberte, kümmerte sich nicht weiter um sie oder die anderen. Aber es kamen auch solche, die nur einmal, dann aber langsam, von Käfig zu Käfigen schritten. Die musste man beeindrucken. Allerdings war das Wie unklar und jeder um sie herum versuchte es auf eine andere Art. Was für ein Getöse! Was für ein Rennen, Springen und Hecheln. Was für eine Enttäuschung, wenn man wieder nicht zu denen gehörte, die rausgeholt wurden. Nein, nie wieder wollte sie dahin zurück!

Madame Tussaud atmete einen Seufzer nach dem anderen aus. Schließlich senkte sie den Kopf aufs Kissen, beobachtete aber weiter die Tür. Manchmal ließ sie sich öffnen, wenn man dagegen drückte … ob sie es erneut probieren sollte? Oder sollte sie Krach machen? Damit hatte sie schon öfter Erfolg gehabt. Tante Tilly drohte dann zwar mit der zusammengerollten Zeitung und Dominik schimpfte. Aber immer noch besser als allein und eingesperrt zu sein. Sie startete einen halbherzigen Versuch. Das Wimmern versickerte nutzlos im Kissen − die Tür rührte sich nicht. Madame Tussaud musste all ihre Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht vor Wut das Bettzeug zu zerfetzen, zumal plötzlich wieder diese schaurigen Geräusche aus dem Nebenraum kamen. Irgendetwas stimmte nicht. Und diese Hitze war auch nicht normal! Machte einen völlig schwindelig. Wie konnte Dominik sie hier einsperren? Sie würde verdursten, wenn er sich nicht bald um sie kümmerte. Dabei hatte der Tag so schön angefangen. Direkt nach dem Frühstück war er mit ihr im Auto losgefahren. Sie hatte vorne sitzen dürfen, wo die Fenster heruntergekurbelt waren, sodass sie den Kopf in den Fahrtwind recken konnte. Das liebte sie! Noch mehr als das allerdings liebte sie, was sie dann sah, als sie anhielten. Wasser, viel Wasser … ein See! Sie hatte vor Aufregung gar nicht stillhalten können, war aus dem Auto gesprungen, kaum dass er die Tür aufgemacht hatte. Wusch −hinein, dass es spritzte und die Menschen in der Nähe quiekten. Yippie-yi-yo-ki-yay … den Bauch kühlen, Stöckchen fischen, nach Steinen tauchen, planschen, toben, Tropfen aus dem Fell schütteln, sich im Ufersand wälzen und wusch … mit Anlauf alles wieder von vorn. Sie war ständig rein und raus, rein und raus, zuerst allein, dann mit Dominik, später mit Kindern, hin und her, rauf und runter, rein und raus. Pfützen, Bäche, Teiche, ganz egal, Hauptsache nass! Und wenn dann noch Vögel darin schwammen … wow! Das war das Beste überhaupt. Manchmal kam sie ganz nah an sie heran, wenn der Wind günstig stand oder Büsche Deckung boten. Aber Dominik erlaubte nicht, dass sie sich einen packte. Da konnte er richtig böse werden. Schimpfte, drohte. Einmal hatte er ihr sogar den Vogel abgenommen und sie geschlagen. Menschen … waren schwer zu verstehen. Und Manieren besaßen sie auch keine. Selbst die Kleinen oder ängstlichen starrten einem unverfroren in die Augen, und obwohl man sich nicht kannte, steuerten sie schnurstracks auf einen zu. Höflich den Blick abwenden oder im Bogen einer Begegnung ausweichen war ihnen völlig fremd. Man musste sie ständig im Auge behalten, um herauszufinden, was sie von einem wollten, was sie als nächstes vorhatten. Zum Beispiel der Mann, bei dem sie zuerst gelebt hatte, wollte, dass sie Vögel fing. Wenn er ihr das Kommando gab, musste sie loslaufen und die Beute aufscheuchen und holen. Das hatte Spaß gemacht, auch wenn das Fressen miserabel war. Bis zu dem Tag, an dem der Mann sie zu einem Baum führte, einen Strick über einen Ast warf und sie daran aufhängte. „Ende der Jagdsaison!“, hatte er gebrummt und war davon gestapft. Keine Ahnung, wie sie von dort in das Haus mit den vielen Käfigen und anderen Hunden gekommen war. Es hatte sie auch nicht interessiert. Wozu auch? Die Dinge waren geschehen, gestern war gestern, was zählte, war heute. Und an einem dieser Heute-Tage war ER aufgetaucht: Dominik – war von Käfig zu Käfig gegangen, hatte mal hier geguckt, mal dort, war zu ihrem Verschlag zurückgekehrt, stehen geblieben, in die Hocke gegangen. Im Nachbarkäfig hatte sich der Podencorüde gegen das Gitter geworfen und nicht mehr aufgehört zu bellen. Sie dagegen hatte sich manierlich hingesetzt und eine Pfote gehoben.

„He, schau mal Marcus“, hatte er zu dem Mann gerufen, der am Ende des Gangs der englischen Bulldogge eine Grimasse schnitt. „Heute ist unser Jahrestag … der richtige Zeitpunkt, eine Familie zu gründen! Was hältst du von diesem Baby hier?“ Marcus war mit den Händen in den Hosentaschen herangeschlendert, hatte zuerst auf Madame Tussaud herab gestarrt, dann auf Dominik.

„Ein Pudel? Ist nicht dein Ernst …!“

„Wieso? Die sind doch cool!“

„Man, das sind voll die typischen Seniorenhunde, langweilig, dumm, arrogant, hysterisch, verweichlicht − und obendrein noch blöd frisiert.“

„Von Frisur kann bei dem hier ja keine Rede sein … völlig verfilzt, das Fell. Außerdem hatten meine Großeltern in der Gaststätte auch einen Königspudel!“

„Sag ich doch, Seniorenhund.“

Madame Tussaud spürte, dass ihr jemand gegenüber hockte, dessen Interesse an ihr auf sehr fragilen Füßen stand. Jetzt konnte nur noch ein kluger Kopf und Kreativität helfen. Also warf sie sich auf den Rücken − mit einer Demutsgeste war man immer auf der sicheren Seite und man gewann Zeit. Und einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang sie auf, suchte auf ihrem Lager nach dem einzigen Spielzeug, das sie besaß und warf es schwungvoll in die Luft. Der Lappen, ein ehemals blau-weiß-gestreiftes T-Shirt, landete genau auf dem Häufchen, das schon seit geraumer Zeit die Fliegen anzog und Ergebnis ihres kargen Reis- und Wassermahls war. Ende − die Trophäe war ruiniert! Enttäuscht schaute sie über die Schulter zu den beiden Männern. Doch die schienen sich prächtig zu amüsieren.

„Jau“, brüllte Marcus und lachte, „Schalke ist mal wieder voll in der Scheiße gelandet!“

Was in einem Tierasyl ganz normal ist, zieht in einer Wohnung strafende Konsequenzen nach sich. Diese Lektion hatte Madame Tussaud schnell gelernt. Sie hüpfte vom Bett, versuchte erneut, die Tür aufzudrücken. Nun war es nicht nur der Durst, der sie quälte. Sie musste raus. Ganz raus. Ganz dringend! Sie schnüffelte den Spalt zwischen Tür und Boden ab. Aber die Geruchsmoleküle zeigten keinerlei Veränderung an. Sie trippelte zurück, entdeckte eine Unterhose unter dem Bett, deren kraftvoller, aber verblassender Duft darauf schließen ließ, dass sie schon eine Weile dort lag. Madame Tussaud packte sie und schüttelte sie tot. Doch statt mit dem Spiel fortzufahren, ließ sie den Stoff fallen. Mit gesenktem Kopf stand sie eine Weile da, die rosa Zunge aus dem Maul hängend, an der Spitze formte sich ein Tropfen Speichel. Sie hechelte. Es war einfach zu heiß, immer noch, obwohl es schon lange dunkel war. Gestern war es auch heiß gewesen. Trotzdem hatte Dominik sie nicht angebrüllt, noch nicht mal, als sie seine Hand ableckte, an der noch ein wenig Fleischsaft klebte. Warum also heute? Nein, also wirklich! Sie wollte jetzt da rein, sofort! Wollte runter auf die Straße. Wollte trinken. Wollte gestreichelt werden. Wollte spielen. Wollte dabei sein, wie immer, auf dem Sofa neben Dominik, neben Marcus. Den mochte sie. Der brachte ihr immer etwas mit. Und jetzt war er da nebenan und sie konnte nicht zu ihm. Seine Stimme war deutlich zu hören, wenn auch mit einem anderen Klang. Nicht so sanft, nicht so freundlich wie sonst. Sie horchte. Was war denn da bloß los? Sie spürte eine Spannung in der Luft, die sie nervös machte. Eine Spannung, die nichts Gutes versprach. Eine Spannung, die von gut nach schlecht gesprungen war in dem Augenblick, als Marcus in die Wohnung getreten war.

Markustage erkannte sie, lange bevor er tatsächlich erschien. Wegen der feinen Veränderungen, die sie dann schon morgens registrieren konnte. Das waren die Tage, an denen Dominik kurz vor dem Aufstehen besonders gut roch …, männlich, glücklich. So wie heute, doch dann …

Ein dumpfer Knall an der Fensterscheibe ließ Madame Tussaud zusammenfahren. Die Tür zum Balkon stand ein Stück offen. Auf dem Boden davor sah sie im Schein der Straßenlaterne etwas liegen. Etwas, dass hin und wieder zuckte. Sie zwängte den Kopf durch den Türspalt. Schnüffelte. Dieser Geruch … Federn, Talg, Milben. Ein Kribbeln schoss ihr in die Glieder. Sie machte einen langen Hals, schob ihren Körper weiter nach vorn, die Tür schwang auf. Ihre Nase verweilte dicht über einem gelb-schwarzen Federknäuel. Ein Vogel! Ihr Herzschlag legte an Tempo zu. Na komm, beweg dich, hüpf auf die Beine, flattere ein bisschen rum, dann macht es mehr Spaß … na los! Sie stupste den Vogel an. Ein Auge öffnete sich, starrte sie an. Madame Tussaud hob erwartungsvoll die Pfote, spannte die Kiefer. Ja, jetzt …!

Hinter ihr flog die Zimmertür auf. Sie fuhr herum und duckte sich, als Dominik auf sie zustürmte. Doch der beachtete sie gar nicht, riss stattdessen etwas unter dem Bett hervor und lief wieder hinaus. Madame Tussaud zögerte einen Moment, blickte zurück auf die blanke Stelle, wo eben noch die Beute lag, beeilte sich dann aber, hinter Dominik her durch die Tür zu kommen.

Die Luft im Nachbarzimmer stank. Sie stank nach Tabak und Alkohol. Aber vor allem stank sie nach Angst und Wut.

„Hier“, schrie Dominik. „Und was mach ich jetzt damit? Das kann ich dann ja wohl alles einstampfen.“ Er schmiss einen Packen Papier auf den Boden.

„Was ist das?“

„Kannst du immer noch kein Englisch? Steht doch da: „New in Town – Purple Puddle Pub“ –sollte eine Überraschung werden. Ha, ha, aber so gut wie deine knallt die natürlich nicht, gratuliere!“

„Du willst eine Kneipe aufmachen? In London? Was ist das denn für eine schwachsinnige Idee? Da ist doch alles voller …”

„Mensch, lies doch weiter! Nicht für Menschen! Für Hunde. Boxer-Bier, Welpen-Milchshakes, Fish-and-Chips-Knochen, Vitamindrinks für läufige Hündinnen, Biokost für übergewichtige Rüden, Kuttel-Leckerlies, Blut-Smoothies …. Engländer sind Exzentriker. Die lieben so was. Ich hab mir schon zig Rezepte überlegt, alle an Madame ausprobiert.“

Madame Tussaud hatte sich vor Marcus hingelegt und auf den Rücken gedreht, damit er sie an ihrer Lieblingsstelle kraulen konnte.

„Mein Gott!“, schrie er so laut, dass sie erschrocken aufsprang und dabei an den rollbaren Couchtisch stieß. „Die blutet ja am Bauch!“

Madame Tussaud schaute verwirrt von Markus zu Dominik, der die Hände vors Gesicht schlug und schluchzte. Gerade, als sie einen Schritt auf ihn zu machte, um den Grund seines merkwürdigen Verhaltens zu ergründen … ein neues Spiel? … stieg ihr ein verführerischer Duft in die Nase. Direkt vor ihr lagen ein paar von den Nüssen, die Dominik ihr gegeben hatte, bevor Markus aufgetaucht war. Sie mussten bei ihrem Zusammenstoß mit dem Couchtisch dort vom Teller gerollt sein. Eilig verschlang sie eine nach der anderen, bevor ein anderer sie ihr streitig machen konnte.

„Das ist Lebensmittelfarbe“, hörte sie Dominiks Stimme über sich. „Das sollte doch der Clou sein: Madame als pinkfarbener Pudel mit Servierhäubchen und Spitzenschürze. Ich musste doch testen, welche Farbe das Fell annimmt.“

Madame Tussaud hatte weiträumig den Boden abgesucht, aber blitzschnell reagiert, als Markus sich eine Handvoll der Nüsse vom Teller nahm: hatte sich vor ihm in Position gebracht, sich hingesetzt, dabei aufgerichtet, die Vorderpfoten auf Brusthöhe angewinkelt, die Augenlider blinzelnd verengt … und Voilà! Mit diesem Trick hatte sie Markus das Leckerliewerfen beigebracht. Klappte immer, auch diesmal. Eine Nuss für sie, eine für ihn, eine für sie, eine …

„Dominik, sei doch vernünftig …“, Madame Tussaud öffnete erwartungsvoll das Maul, doch Marcus beugte sich plötzlich vor und spuckte direkt vor ihr auf den Boden. He, das war ja wie in ihrer Welpenzeit, als Mama für sie und die Geschwister immer das Futter hervorwürgte. Vor Aufregung vergaß sie ganz, dass sie eigentlich Durst hatte und dringend raus musste.

Markus wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Sag mal … was hast du denn da für ein ätzendes Zeug gekauft?“

„Schmeckt dir nicht? Schade aber auch!“

Madame Tussaud bemerkte, dass Dominiks Stimme gefährlich zufrieden klang.

„Das ist eine von meinen Kreationen für den Pink Puddle … selbst gesammelte Schafsköttel in Käsepanade und der absolute Renner bei sämtlichen Hunden der Umgebung.“

Schwarz Gelb - der Tag, die Stadt, das Fieber

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