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ZUM GOLDENEN ADLER

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Der Weg zurück nach Fladungen war leicht abschüssig und ohne Anstrengung zu gehen.

Im Abendlicht sahen die Straßen nun freundlicher aus. Vielleicht lag es aber auch nur an meiner Stimmung, die sich nach dem kleinen Ausflug gehoben hatte, und die meine Wahrnehmung veränderte. Ich freute mich, dass ich mich so kurzentschlossen auf den Weg in die Rhön gemacht hatte. Schon jetzt hatte sich die Tour gelohnt, dachte ich, die Fahrt, der Heimatblick, die Gedankenwanderung. Gegen sieben Uhr stand ich vor meinem Gasthof. Ich ging kurz aufs Zimmer, ließ dort meine Windjacke zurück und stieg dann die Treppe hinunter zur Gaststube, um zu Abend zu essen. Diesmal stand der Wirt hinter dem Ausschank. Er zapfte ein Bier, sehr geübt machte er das, routiniert drückte seine linke Hand auf den Zapfhahn, während er mit der rechten ein Bierglas hielt. Als ich die Gaststube betrat, sah er auf und lächelte mich an. Der Gastraum war gut gefüllt, nur ein Tisch war noch frei und an diesen setzte ich mich. Als der Wirt die Karte brachte, fragte er mich, wie mir der Ort gefiele. Ich sagte, er sei sehr malerisch. Ich lobte das Rathaus, das mächtig am Marktplatz stehe und von anderen Zeiten Fladungens künde, und dann sagte ich noch, dass dies ein guter Ort sei, um Ruhe zu finden. Ich wusste, dass ich die Wahrheit damit etwas strapazierte, denn früher musste der Ort tatsächlich einmal sehr wohlhabend gewesen sein, was man heute nicht mehr behaupten konnte. Aber zumindest der letzte Punkt stimmte ja, Ruhe konnte man hier, in Fladungen, in der Tat finden. Ohne einen Blick auf die Menükarte zu werfen, gab ich dem Wirt diese wieder zurück und sagte, dass ich das Jägerschnitzel mit den frischen Pilzen nehmen würde, das habe er ja heute empfohlen, dazu einen kleinen Salat und ein Bier vom Fass. Der Wirt schien zufrieden mit mir, er nickte und lachte, ich nickte freundlich zurück, und als er vom Tisch wegging, freute ich mich, dass er sich freute.

Während ich auf das Essen wartete, nahm ich eine Zeitung zur Hand, die schon zerlesen auf der Bank neben mir lag. Ich begann darin zu blättern. Im Regionalteil der „Mainpost“ fand ich einen Bericht über Schüsse an der Grenze. Überschrieben war der Artikel mit: „DDR-Grenzer stoppen Fluchtversuch“. Offenbar hatten in der vorvergangenen Nacht in einem Waldstück südlich von Melpers einer oder mehrere Menschen versucht, von der DDR in die Bundesrepublik zu flüchten und waren entdeckt worden. Aus dem Bericht ging nicht hervor, ob die Flüchtenden verletzt oder gar getötet wurden, nur, dass Schüsse gefallen seien, die Flucht nicht gelungen und dies in diesem Abschnitt bereits der soundsovielte Fluchtversuch seit dem Bau der Grenze gewesen sei. Ich hatte die Zeitung flach auf den Tisch gelegt, so dass ich lesen und gleichzeitig unauffällig die Szene im Lokal beobachten konnte. Ich hatte offenbar die richtige Wahl getroffen, denn die Besucher schienen allesamt Einheimische zu sein, die wissen sollten, wo es das beste Essen gab. Sie sprachen den regionalen Dialekt, der zumindest für mich nicht eindeutig zuzuordnen war und zwischen Hessisch und Fränkisch changierte. Sie tranken helles Bier und bestellten Jägerschnitzel wie ich auch. An einem Tisch wurde Karten gespielt, an einem anderen, auf dem ein schmiedeeiserner Aschenbecher stand, über dem ein halbrundes metallenes Schild mit dem Schriftzug „Stammtisch“ baumelte, wurde gewürfelt. An den meisten Tischen wurde geraucht, Packungen der Marken Stuyvesant, HB, Lord extra und auch vereinzelt Roth-Händle lagen neben den Biergläsern. Ich wunderte mich über die Zigarettenmarken, weil ich die nur ganz selten sah an meiner Uni in Würzburg. Dort rauchte man Marlboro oder Camel, oder man drehte sich die Zigaretten selbst.

In dem Moment, als die Bedienung das Jägerschnitzel brachte, fragte mich ein Ehepaar, ob es sich zu mir an den Tisch setzen dürfe. Ich sagte: „Selbstverständlich”, und räumte die Zeitung zur Seite. Während ich aß, beobachtete ich die beiden aus den Augenwinkeln. Sie mochten um die 50 Jahre alt sein, vielleicht auch ein paar Jahre älter. Sie sprachen weder hessisch noch fränkisch, zudem nur halblaut, so dass es mir schwerfiel, sie einer bestimmten Region zuzuordnen. Ich fragte mich, was sie hier machten. Diese Frage konnte ich mir aber auch selbst stellen. Ich gehörte doch ebenso wenig an diesen Ort wie offenbar meine neuen Tischnachbarn.

Ich schob den Teller zur Seite, holte die Straßenkarte aus der Jackentasche und breitete sie vor mir aus. Ich wollte mir noch einmal genau die Route ansehen, die ich morgen früh bei der Weiterfahrt nehmen würde. „Sind Sie zum ersten Mal hier?“, fragte mich jetzt der Mann. Ich blickte von der Karte hoch. „Nein, aber das letzte Mal ist schon etwas länger her.” „Wie gefällt Ihnen die Gegend?“, fragte der Mann weiter. „Ich mag die Landschaft”, sagte ich. Und dann, nach einer kurzen Pause, setzte ich hinzu: „Und die Grenze.”

Eigentlich wollte ich das mit der Grenze gar nicht sagen, weil es zunächst etwas seltsam, ja fast kurios klang. Denn wer mag eigentlich schon eine Grenze? Aber nun war es gesagt, und der Mann schien überhaupt nicht überrascht von meiner Antwort, sondern hakte sofort ein: „Die Grenze, die kann man hier sehr gut sehen. Es gibt einen Platz, der auf einer kleinen Anhöhe liegt, nicht weit weg.“

Ich nickte. „Ich glaube ich kenne den Ort, den Sie meinen. Der ‘Heimatblick’ hinter Oberfladungen?”

„Ja“, antwortete der Mann. „Wir sind oft dort.“

„Warum?“, fragte nun ich und sah meinem Gegenüber direkt in die Augen.

„Weil wir glauben, dass wir dort unserem Sohn näher sind“, sagte der Mann. Der Satz kam schnell, so schnell, dass er ihn entweder schon oft gesagt oder zumindest gedacht haben musste. Mir schien, dass er regelrecht erleichtert war, dass ich ihn danach gefragt hatte. Ich beugte mich noch etwas mehr nach vorne, um besser verstehen zu können. Die Gesellschaft, die sich im Lokal versammelt hatte, war laut geworden, an den Tischen wurde angestoßen, Gläser klirrten, da und dort wurde hörbar diskutiert. Ich sah, wie die Bedienung immer wieder mit einem Tablett voller Biergläser zwischen den Tischen balancierte.

„Was ist mit Ihrem Sohn?“, fragte ich.

„Er lebt drüben in der DDR, keine 50 Kilometer von hier. Wir wollten eigentlich alle gemeinsam in die Bundesrepublik kommen. Doch er ist geblieben.“

„Freiwillig?“

„Es hat den Eindruck, aber hundertprozentig genau wissen wir es nicht.“

Jetzt schaltete sich erstmals auch die Frau in das Gespräch ein, die bislang nur zugehört hatte. „Wir haben nicht viel Kontakt mit ihm, dann und wann ein Brief, ganz selten ein Telefongespräch. Er sagt immer nur, dass es ihm in der DDR besser gefiele und dass er nicht weg wolle. Und er wirft uns vor, dass wir ihn gar nicht gefragt hätten, als wir unsere Übersiedlung planten.” Nach einer kurzen Pause sagte die Frau weiter: „Aber das ging ja auch gar nicht, er war doch noch so jung, als wir zum ersten Mal den Ausreiseantrag gestellt hatten.“

„Wir warteten sechs Jahre, bis die Ausreise genehmigt wurde“, ergriff jetzt wieder der Mann das Wort. „Sechs Jahre angefüllt mit Schikanen.”

Es entstand eine weitere Pause, weil nun die Bedienung gekommen war, um das Geschirr abzuräumen. Ich bestellte mir noch ein Bier, der Mann tat dies auch, die Frau fragte nach einer Tasse schwarzen Tees. „Wie alt ist Ihr Sohn?“, nahm ich das Gespräch wieder auf.

„Er ist 22. Und war 18 Jahre alt, als wir ausreisten“, sagte der Mann.

„Wann hat Ihnen Ihr Sohn gesagt, dass er nicht mitfahren will?“

„Am Tag der Ausreise, genauer gesagt, wenige Minuten bevor wir mit dem Taxi zum Bahnhof fuhren. Frank stand in unserer halbleeren Wohnung, zwei gepackte Koffer neben sich. Plötzlich sagte er, dass er nicht mitkommen werde“, sagte jetzt wieder die Frau. „In den wenigen Minuten, die uns noch blieben, redeten wir natürlich auf ihn ein. Dabei machten wir wahrscheinlich auch alles falsch, was man falsch machen kann. Wir machten ihm Vorwürfe. Wir sagten, wenn er uns im Stich ließe, dann würde er den Lebenstraum seiner Eltern zerstören. Wir wollten doch immer heraus aus der DDR und hatten dafür so viel geopfert: Arbeit, Ansehen, Geld. Das aber hat seinen Widerstand nur noch verstärkt. ‘Was habe ich zu tun mit euren Träumen‘, hat Frank darauf gesagt.“

„Und wie er das sagte”, warf nun der Mann ein. „Er schleuderte uns diesen Satz regelrecht entgegen, voller Wut, voller Aggression.”

„Mein Mann und ich schauten uns an, dann nahmen wir unser Gepäck und gingen hinaus zu dem wartenden Taxi. Mein Mann hat sich nicht einmal richtig von Frank verabschiedet, ich habe ihn noch kurz gedrückt.

Das war das letzte, was wir von ihm gesehen haben.“ Die Erzählung hatte mich so beeindruckt, dass ich die Geräuschkulisse um mich herum gar nicht mehr wahrnahm. Nach einem langen Moment des Schweigens fragte ich:

„Und wo leben Sie jetzt? Etwa hier?“

„Ja, hier in Fladungen. Ich habe eine Arbeit als Fahrlehrer gefunden”, sagte der Mann.

Als ahnte er meine nächste Frage, ergänzte er: „Wir wollten zunächst in eine große Stadt in Westdeutschland ziehen und noch einmal ganz von vorne anfangen. Aber schon nach ein paar Monaten kamen wir hierher in die Rhön. Wir hielten das Ganze nicht mehr aus, die Trennung, die zerrissene Familie. Wir wollten wenigstens in Franks Nähe sein.“

„Wir wollten wissen, wann bei ihm die Sonne scheint und wann es regnet. Wir wollten die gleiche Luft atmen“, sagte nun die Frau.

Ich schaute die beiden an, wie sie so dasaßen, der Mann vor dem halbleeren Bierglas und die Frau, die hilflos mit dem Löffel in ihrer gläsernen Teetasse rührte. Ich überlegte, was ich jetzt sagen sollte, aber mir fiel nichts Passendes ein, außer: „Diese Teilung ist ein Fluch“ zu sagen, worauf die beiden nickten.

Wieder schwiegen wir.

„Fahren Sie ab und zu hinüber in die DDR?”, fragte mich die Frau und ihre Stimme klang dabei seltsam zerbrechlich.

Ich nickte.

„Könnten Sie sich vorstellen, auf einer Ihrer Reisen einmal unseren Sohn zu besuchen?”

Während sie das sagte, fing ich den Blick ihres Mannes auf. Es war ein missbilligender Blick.

„Warum nicht”, sagte ich vorsichtig. Die Frau holte ein Stück Papier aus der Tasche und begann, ihre Anschrift und die ihres Sohnes aufzuschreiben. Dann schob sie den Zettel zu mir rüber.

Ich studierte die Adressen. Der Wohnort des Sohnes sagte mir nichts. Mit dem Zettel in ihre Richtung weisend fragte ich: „Würde er denn überhaupt einen Fremden empfangen?“

Sofort war ich unzufrieden mit mir, denn schon diese Rückfrage vermittelte Hoffnung. So, als sei ich bereits einverstanden damit, den Sohn zu besuchen.

„Ja, ich denke schon, aber wir wollen Sie zu nichts drängen.“ Ich sah, wie sie ihrem Mann, der noch immer unglücklich wirkte, einen schnellen Blick zuwarf. Dann reichte sie mir einen weiteren Zettel und bat mich, auch meine Adresse zu notieren. „Wir wollen nur wissen, wie es ihm geht“, sagte beschwichtigend jetzt der Mann, wohl, um mir die Befürchtung zu nehmen, ich solle Kurierdienste übernehmen. Ich nickte, schrieb meine Adresse auf und machte danach der Bedienung ein Zeichen, dass ich zahlen wolle.

„Ich hoffe, wir haben Sie nicht belästigt?”

Ich schüttelte heftig den Kopf, vielleicht zu heftig.

„Nein, nein, ganz und gar nicht. Es tut mir aufrichtig leid, was Ihrer Familie geschehen ist. Ich melde mich, wenn ich das nächste Mal nach drüben fahre.“

Ich stand auf, wir gaben uns die Hände, dann verließ ich die Gaststube und ging hinaus auf die Straße. Ich wollte jetzt unbedingt noch ein paar Schritte gehen.

Ich wollte an die frische Luft.

Beim Wirt bezahlte ich am nächsten Morgen die Rechnung für die Übernachtung. Ich steckte gerade das Rückgeld ein, als der Wirt sagte, ich sei wohl von dem Ehepaar, das am Abend bei mir mit am Tisch gesessen hatte, angesprochen worden. Ich schaute auf und nickte. „Sie haben gefragt, ob Sie in der Angelegenheit mit ihrem Sohn helfen können?”

Ich war etwas überrascht und nickte wieder. „Ja, das haben sie.”

„Sie fragen fast jeden“, sagte jetzt der Wirt, während er die Quittung für die Übernachtung in einen Umschlag steckte. „Sie kommen nicht darüber hinweg.“

„Bekommen sie Hilfe?“

Der Wirt schaute amüsiert. „Von wem? Vom westdeutschen Staat? Nein. Es gibt einfach zu viele solcher Schicksale.” Ich schwieg.

„Nehmen Sie sich in Acht”, sagte der Wirt nun. „Die da drüben haben wenig Sympathien für Fluchthelfer.” Ich lachte etwas unbeholfen, weil ich mich fragte, was die Bemerkung jetzt eigentlich sollte, und verabschiedete mich.

Ich war kein Fluchthelfer. Alles andere als das. Allerdings hatte ich mit Frieder tatsächlich einmal über Fluchthilfe gesprochen. Das war bei einem meiner ersten Besuche. Wir saßen in Frieders Wohnung in Camburg und tranken DDR-Bier. Frieder hatte „Ur-Krostitzer Pils“ auf den Tisch gestellt, extra für mich, wie er sagte. „Sternburg Export kriegst du immer”, sagte Frieder wie zu sich selbst und wog dabei eine der Flaschen Ur-Krostitzer in der Hand. „Das hier aber nicht.” Ich trank - und lobte das Bier, auch wenn ich fand, dass mich sein Geschmack jetzt nicht gerade umwarf. Für Frieder aber war es etwas ganz Besonderes. „Wenn du Bier kaufst, dann musst du immer auf die Farbe der Flaschen achten”, sagte Frieder. „Kaufe nie grün, immer braun.” Ich verstand nicht. „Braunes Glas lässt weniger Licht durch”, dozierte Frieder aus dem DDR-Einmaleins. „Grüne Flaschen aber schon. Das Bier wird schneller flockig - und schlecht.” „Aha”, sagte nun ich und nickte wie ein gelehriger Schüler.

Nachdem wir schon ein paar Flaschen geleert hatten, sagte Frieder: „Robert, was wäre eigentlich, wenn du den Behörden hier sagen würdest, dass du deinen Pass verloren hättest? Du bekommst einen provisorischen Ausweis, und ich reise in der Zwischenzeit einfach mit deinem Pass aus.”

„Dann müsstest du aber auch mit meinem Auto rausfahren und mit meinem Führerschein. Und wirklich ähnlich sehen wir uns ja nicht.“

„Das Bild müsste man fälschen, das kriegen wir schon hin“, erwiderte Frieder. Ich merkte, wie er langsam Gefallen fand an dem Gedankenspiel. „Aber warum mit dem Auto?“

„Weil hier“, jetzt holte ich meinen Pass heraus und zeigte ihm den Einreisestempel, „ein kleines Auto eingestempelt ist. Das heißt, dass ich auf der Straße gekommen bin, und nicht etwa auf der Schiene. Ich, also du, kann jetzt nicht einfach mit dem Zug wieder rausfahren aus eurer schönen DDR.“

„Dein Auto könnte kaputt sein“, sagte Frieder. „Also meins.” Dabei grinste er. „Eure Luxuskarossen sind doch sowieso nicht geeignet für unsere sozialistischen Straßen.“ Frieder amüsierte sich. Und ich musste daran denken, dass ich bei der Fahrt über schier endlose Straßen mit Kopfsteinpflaster in der Tat überlegt hatte, wie lange mein Renault das aushalten würde.

„Und du glaubst, du könntest dich einfach so in den Zug setzen und an der Grenze sagen, dass der Renault seinen Geist aufgegeben hat, du ihn irgendwo abgestellt hast und deshalb mit der Bahn fährst.” Dabei zog ich die Augenbrauen hoch und lächelte.

„Wahrscheinlich nicht“, räumte Frieder ein. „O.k., dann fahre ich eben mit deinem Renault raus. Du kannst ja so lange meinen Trabi nehmen.” Frieder begann herzlich zu lachen.

„Du meinst, so lange sie mich hierbehalten.” Ich lachte nun auch. „Ich verstehe schon: Im Grunde willst du, dass wir tauschen. Ich bin du und lebe ab sofort in Camburg. Und du bist ich und lebst in Würzburg.“

So ging unser Gespräch an diesem Abend noch eine Weile hin und her, im wesentlichen unernst, aber auch wieder nicht so ganz.

„Werden sie uns hier irgendwann mal rauslassen?“, fragte Frieder dann ziemlich plötzlich.

Ich schaute Frieder an und schwieg. Auch, weil ich, der so viel jüngere von uns beiden, von dieser Frage überrascht war. Frieder wirkte auf einmal hilflos, beinahe wie ein Kind. Was sollte ich auf diese Frage antworten? „Ich weiß es nicht“, sagte ich nach einer Pause. Dann, wohl um die Stille und die Traurigkeit des Moments abzuschütteln, stand Frieder auf und holte zwei weitere Flaschen Ur-Krostitzer vom Balkon. „Ist ja auch nicht so wichtig“, sagte er, als er die Flaschen öffnete. „Ich will ja auch gar nicht weg. Bei euch Kapitalisten mit dem ständigen Konkurrenzkampf würde es mir ohnehin nicht gefallen.“ Frieder hatte jetzt wieder jenen Gefühlszustand erreicht, der ihm sein Leben in der DDR erträglich machte. Ein Zustand, der aus einer Mischung aus Realismus, Resignation, Zynismus und Ironie bestand. Ein Cocktail, den ich aus dem Westen nicht kannte.

Dabei war mir im Übrigen nicht wirklich klar, ob Frieder, hätte er denn die Möglichkeit dazu, auch tatsächlich in den Westen gehen würde. Wenn wir am Saaleufer unterwegs waren und Nebel über den Auen lag, dann war Frieder so sehr eins mit diesem Land, dass ich ihn mir andernorts nicht vorstellen konnte. Frieder lebte nicht um der materiellen Dinge willen. Er suchte inneren Frieden, wollte das Richtige tun, seinen Kopf einsetzen können, gut und von klugen Leuten regiert, als Bürger ernst genommen werden.

Das war es auch, was Frieder vor allem an der DDR störte: Die DDR-Obrigkeit entmündigte ihn, behandelte ihn wie ein kleines Kind, das man nicht aus dem Laufstall herauslassen durfte. Man traute ihm nicht zu, eigenverantwortlich die DDR zu verlassen, sich in der Welt umzusehen - und wieder zurückzukehren. Dass dies so war, war weit unter Frieders intellektuellem Niveau - und durch nichts zu rechtfertigen.

Daran dachte ich, als ich am Morgen von Fladungen losfuhr. Ich nahm die Bundesstraße über Ostheim und Stockheim nach Mellrichstadt. Ich ließ die Maschine langsam rollen und behielt das Visier lange Zeit hochgeklappt. Ich wollte riechen, wo ich gerade unterwegs war, ich wollte die Morgenkühle spüren. Und auch ich wollte näher dran sein an drüben.

DDR, mon amour

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