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FRIEDER

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Frieder war mein großer Bruder, mein Onkel, mein ferner, bester Freund. Ich wuchs mit ihm auf, ohne ihn je gesehen zu haben. Aber in meinem Kopf existierte ein festes Bild von ihm, ein Bild, das sich aus seinen Briefen geformt hatte, aus seinem Stil, den Worten, die er wählte, seiner Handschrift, daraus, wie er das Briefpapier faltete, das DDR-Papier, das nicht schön weiß war und glatt, sondern rau und grau und auf dem die Tinte immer etwas zerlief. Frieder schrieb seine Briefe nicht einfach von oben nach unten, bis die Seite voll war, er faltete eine DIN-A4 Seite so, dass man sie aufklappte wie ein Heft und beim Lesen blättern konnte. Die Seiten waren quer und dann längs gefalzt, und waren es mehrere, dann waren sie ineinander gelegt und formten ein kleines Buch. So gefaltet beschrieb er die Seiten mit seiner filigranen Handschrift, und es waren oft tatsächlich kleine Bücher, die auf diesen Seiten entstanden, kleine Werke, Betrachtungen, Gedankenflüsse, die alle einen Sinn und ein Ziel hatten. Nie eilig hingeworfene Zeilen, die aus Pflichterfüllung geschrieben waren, auch nicht, wenn feste Daten wie mein Geburtstag oder Weihnachten briefliche Glückwünsche erforderten. Frieders Briefe konnte man mehrfach lesen und sie aufheben. Ich hatte das getan, über all die Jahre, auch schon, als ich ein kleiner Junge war und mir der Junggeselle Frieder Briefe schrieb, die ich in ihrer Komplexität noch nicht erfasste. Frieder konnte nicht kindgerecht schreiben, weil er gar nicht wusste, was das war, kindgerecht. Aber ich spürte aus seinen Worten, dass mich da einer ernst nahm und mir von Dingen schrieb, die wichtig waren.

Mit jedem Jahr, das ich älter wurde, verstand ich Frieders Briefe besser. Und bald übte ich mich darin, es ihm mit meinen Briefen an ihn gleichzutun. Schrieb ich an Frieder, wurden aus meinen Texten kleine Aufsätze, oft etwas pompös geraten, aber dennoch schon Briefe, die eine Struktur hatten und die ich mir, bevor ich sie abschickte, selbst so lange vorlas und korrigierte, bis sie mir gefielen. Damals merkte ich, was ich zustande bringen konnte, wenn ich mich anstrengte. Dann schrieb ich die Adresse auf den Umschlag und setzte das ominöse „x“ vor Frieders Wohnort Leipzig, x statt DDR, x 703 Leipzig 3, und schrieb als Absender Bundesrepublik Deutschland oder BRD statt einfach nur Deutschland oder West-Deutschland, wie ich das sonst tat, ich war ganz korrekt, um die Zustellung meines Briefes nicht zu gefährden.

Gesehen hatte mich Frieder das erste und für lange Zeit letzte Mal kurz bevor die Mauer gebaut wurde. Zu meiner Taufe war er noch im Westen gewesen, ein junger Mann damals, schlank, kurz nach dem Studium, offen das Gesicht, wissend-verschmitzt der Ausdruck, das dunkle Haar streng gescheitelt, so sah er zumindest auf den alten Fotos aus, die mir mein Vater gezeigt hatte. Nur wenige Jahre später aber war die Grenze unüberwindlich geworden, und der Mann, der mich seinerzeit stolz und auch etwas ungelenk im Arm gehalten hatte, war auf einen Brieffreund reduziert, auf einen frauen- und kinderlosen Brieffreund im Übrigen, der sich nun auf einmal über eine unüberwindliche Grenze hinweg um seinen kleinen Patensohn kümmern sollte. Die Patenschaft war von den politischen Zeitläuften ausgehebelt, aus der Bahn geworfen worden. Sie war Opfer des Kalten Krieges geworden. Das war im Vergleich zu den vielen zerrissenen Familien, denen die Grenze gemeinsame Leben raubte, wenig. Aber für mich war es viel, in jedem Fall genug, um den täglichen Meldungen von Flucht und Verhandlungen, von Ostverträgen, Passierscheinabkommen und schließlich von Besuchen deutscher Kanzler im Osten ein plastisches Bild zu geben. Ich stellte mir stets vor, was diese Ereignisse für Frieder bedeuten könnten, ob er sie gut fände oder ob sie ihm Sorgen machten. Frieder, von dem ich nur seine Handschrift kannte, seine Worte und ein paar Schwarz-Weiß-Fotografien, war für mich die DDR. Das fand ich zunächst etwas eigenartig, dann spannend und schließlich machte es mich auch stolz, weil die meisten meiner Freunde solche Onkel nicht hatten. Onkel, die im Osten lebten, dort, wo die Sowjets herrschten.

Frieder war im Grunde unpolitisch. Nur ließ das Leben ihn so nicht sein, die Politik regierte hinein in seine Existenz, zwang ihn dazu, Position zu beziehen, Meinungen zu haben. Es gibt Leben, die in ihrer Zeit einfach mitschwimmen, die durchkommen, ohne dass sie sich je für das eine oder andere entscheiden müssen. Und es gibt Leben, die fortgerissen werden von der Dynamik der Zeit. Frieder gehörte zu Letzteren. Als sich die DDR immer mehr politisierte, wurde der Altphilologe Dr. Frieder Merker dazu gezwungen, ein politischer Mensch zu werden. Doch indem er dies nicht wollte, indem er nicht der Partei beitrat, sondern nur in Ruhe gelassen werden wollte, wurde er unbeabsichtigt politisch. Es war absurd: Wer politisch mitmachte, und wenn auch nur zum Schein, der erhielt dafür seine Ruhe. Wer dies nicht tat, etwa, weil ihn das alles nicht interessierte, der hatte plötzlich die Politik am Hals - weil er zum Feind erklärt wurde. Frieder machte nicht mit. Zuerst wurde er dafür ausgegrenzt, dann isoliert, schließlich verlor er darüber seinen - völlig unpolitischen - Job.

Das alles wusste ich nicht. Ich wusste es nicht, als ich Frieders Briefe erhielt, die für mich alle in gleich guter Gemütslage geschrieben waren und in denen sich für mich nicht lesen ließ, was wirklich mit ihm los war. Ich registrierte nur den Wechsel von Frieders Adresse, als auf einmal nicht mehr Leipzig der Ort des Absenders war, sondern Camburg an der Saale. Ich hielt das für nichts Besonderes. Aber damals verstand ich den Osten nicht und auch nicht, dass Ortswechsel durchaus nicht üblich waren. Ich wusste nicht, dass man nicht so einfach von A nach B umziehen konnte, sondern dass man dafür vom Rat der Stadt, in die man wollte, eine Zuzugsgenehmigung brauchte. Eine Erlaubnis, die überhaupt erst ausgestellt wurde, wenn ein Arbeitsvertrag vorlag. Den wiederum gab es aber nur, wenn dem Arbeitgeber nachgewiesen werden konnte, dass man am Ort der Arbeitsstelle bereits mit einem Wohnsitz polizeilich gemeldet war. Ein bürokratischer Teufelskreis, der nur mit Tricks zu überlisten war. Hätte sich aber Frieder, so wie ich ihn kannte, ohne Not einer solchen Prozedur unterworfen? Wohl kaum. Doch Frieder hatte keine andere Wahl. Weil er Geld verdienen musste.

Und weil Frieder, der doch so gerne unpolitisch bleiben wollte, in Leipzig aus seiner Arbeit herausgedrängt worden war. Arbeiten durfte er nun in Camburg, als Lehrer, unauffällig und mit bescheidenem Gehalt.

Seine billige Wohnung in Leipzig behielt Frieder, alle zwei Wochen fuhr er dorthin, eine knappe Stunde mit dem Trabant von der Saale, um seinen Briefkasten zu leeren und nach der Wohnung zu sehen. Lange blieb er nie, selten über Nacht, die Wohnung roch nach Vergangenheit, nach Verlust. Aufgeben aber wollte er Leipzig auch nicht, war es doch immerhin auch Fluchtpunkt, falls das Leben in Camburg dann doch zu eng würde für den Freigeist Dr. Frieder Merker.

DDR, mon amour

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