Читать книгу Enthüllungen im Mittelformat - Marla Saris - Страница 6
ОглавлениеKapitel 1
Eigentlich hätte ich mich als ganz normalen Menschen bezeichnet, dessen Leben ohne größere Zwischenfälle so dahinplätscherte. Meine einzige ernst zu nehmende Macke, sofern man diese als solche bezeichnen kann, war mein Faible für Kunstauktionen. Sobald ich erfuhr, dass eine in erreichbarer Nähe stattfinden sollte, hätte mich höchstens die Aussicht auf einen Plausch mit meiner Lieblingsschauspielerin Julia Roberts davon abhalten können, hinzufahren.
Das lag zum einen daran, dass ich mich immer wieder von den Kunstwerken verzaubern ließ und zum anderen natürlich an der prickelnden Atmosphäre, die während jeder Veranstaltung dieser Art zwangsläufig in der Luft lag. Sie schien meinen Adrenalinspiegel zu steigern und wer weiß, vielleicht sorgte sie auch dafür, dass mein Körper das eine oder andere Glückshormon ausschüttete. Ich war direkt süchtig nach den maskenhaften Gesichtern, die einige Bieter aufzusetzen pflegten, um ihr ernstes Interesse zu verbergen. Sie taten so, als ob es ihnen gleichgültig wäre, letztendlich den Zuschlag zu erhalten. Allerdings gelang es den meisten doch nicht so ganz, gekonnt zu bluffen. Das führte wiederum dazu, dass sich andere, mehr talentierte Mitbieter, einen Spaß daraus machten und den Preis durch das coole Erheben ihrer Bieternummer künstlich in die Höhe trieben. Sie ließen dabei ihr Opfer nicht aus den Augen, um dann im letzten Augenblick den Absprung zu schaffen. Sie wollten vermeiden, am Ende doch noch für einen Kunstgegenstand blechen zu müssen, den sie gar nicht haben wollten. Alles in allem bleibt festzuhalten, dass sich bei solchen Auktionen jede Menge schauspielerisches Talent entdecken ließ.
Ich gehörte weder zu den einen noch zu den anderen Bietern. Denn ich setzte mir stets vor Beginn der Auktion ein finanzielles Limit für die verschiedenen Werke; und an das hielt ich mich strikt, um nicht ganz dem Kaufrausch zu verfallen. Mein Interesse für diese Art von Glücksspiel – wie soll man es sonst bezeichnen, wenn man vorher nie weiß, ob man hinterher noch genügend Geld auf dem Konto haben wird, um den Rest des Monats überleben zu können – war auch bei unseren Freunden bekannt und sie neckten mich diesbezüglich nur zu gerne. Einige böse Zungen behaupteten sogar, dass meine Frau und ich bloß zu faul wären, die Wände zu streichen und wir deshalb so viele Bilder aufhängen würden. Selbst das Gäste-WC musste herhalten, um die ersteigerten Kunstgegenstände zu präsentieren. An diesen stillen Ort hängte ich jedoch nicht gerade meine Favoriten, sondern eher die Gemälde, von denen ich mich wieder trennen wollte, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Ich musste mir immer mal wieder eingestehen, dass sich mein Kunstgeschmack im Laufe der Zeit gewandelt hatte.
Diese Erkenntnis teilte ich mit meiner Frau ebenso wie alles andere. Zum Glück hatte ich in ihr eine heimliche Verbündete gefunden. Heimlich, weil sie so gut wie nie zu den Auktionen mitkam und verbündet, weil sie ausnahmslos für jedes von mir mitgebrachte Kunstwerk einen Platz in unserer Wohnung fand, an dem es am besten zur Geltung kam. Natürlich war das Aufhängen vielfach mit den unterschiedlichsten Umhängeaktionen anderer Bilder verbunden, sodass die verschiedenen Räume ständig ein neues Gesicht bekamen, ohne dass wir auch nur ein Möbelstück verrückt hätten. Vielleicht machte diese Tatsache gerade den Reiz für mich aus, weiterhin Kunstauktionen zu besuchen, und so hätte es auch bleiben können, wenn ich nicht eines Tages bei einem Autounfall schwer verletzt und dadurch buchstäblich aus dem Verkehr gezogen worden wäre.
Mein Leben veränderte sich schlagartig. Für mehrere Wochen kämpfte ich gemeinsam mit Ärzten und Krankenschwestern ums Überleben. Wir hatten letztlich zwar gewonnen, doch zu welchem Preis! Meine körperliche Verfassung war mehr als miserabel und ich musste mich nach drei Monaten im Krankenhaus noch einem längeren Aufenthalt in einer Rehaklinik unterziehen, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Als ich endlich entlassen wurde, fühlte ich mich immer noch kraftlos und hätte mich am liebsten vor der ganzen Welt versteckt. Mein Körper weigerte sich vehement, das zu tun, was ich von ihm verlangte oder aber, er führte meine Befehle im Zeitlupentempo aus, was mich einerseits wütend machte und andererseits resignieren ließ.
Meiner Frau schien das alles nichts auszumachen. Fast kam sie mir vor, als ob sie noch an Schönheit und Ausstrahlung zugelegt hätte. Aber das mochte auch daran gelegen haben, dass ich sie nun wieder in meiner gewohnten Umgebung erleben konnte und nicht in der unpersönlichen Klinikatmosphäre. Trotzdem wirkte sie angespannt und teilweise abwesend. Zunächst schob ich diese Veränderung auf die Länge meiner unfreiwilligen Abwesenheit. Für ein paar Sekunden kam in mir erneut das Gefühl des Verlassenseins auf, das ich trotz der Therapien und den Besuchen von Freunden in den letzten Monaten empfunden hatte. Ich fragte mich zum ersten Mal, wie es meiner Frau in dieser Zeit ergangen sein mochte? Wie einsam hatte sie sich gefühlt?
Früher, wenn sie nach Hause kam, war ich meistens schon da gewesen und hatte sie mit frischem Kaffee verwöhnt. Dann erzählten wir von dem, was uns tagsüber beschäftigt hatte und was uns als Neuigkeit von unseren Kunden auf dem silbernen Tablett serviert worden war. Ich fand es immer amüsant, aus ihrem Mund den neuesten Klatsch und Tratsch zu erfahren. Sie musste einen überdimensional großen Speicher für all diese Dinge eingerichtet haben, den sie bei unseren Gesprächen Stück für Stück leerte, um ihn am nächsten Tag wieder mit neuen Informationen zu füllen. Ich hörte ihr gerne zu, doch völlig unvermittelt beschlich mich die Angst, dass sie diese Aufmerksamkeit in Zukunft vielleicht gar nicht mehr von mir haben wollte, sondern von einem anderen. Wie sonst war die immer noch deutlich sichtbare Anspannung bei ihr zu erklären? Sie wollte einen Mann und keinen Krüppel, für den das Kaffeekochen bereits eine enorme körperliche Herausforderung bedeutete. Unerwartet, aber mehr als deutlich, keimte die Eifersucht in mir auf und mobilisierte ungeahnte Kräfte. Für mich stand fest: So schnell würde ich den Kampf nicht aufgeben.
Noch ehe ich mich im Geiste meinem vermeintlichen Nebenbuhler stellen konnte, fing meine Frau an, mich leidenschaftlich zu streicheln und zu küssen, und ich erwiderte ihre Zärtlichkeiten. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr sie mir gefehlt hatte und ich bekam Lust auf mehr. Da fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, die Ärzte danach zu fragen, ob irgendetwas dagegen sprechen würde, mein bis dato sehr intensives Liebesleben mit meiner Frau wieder aufleben zu lassen. Nun war niemand da, der mich gegebenenfalls hätte warnen können, aber das konnte mir nur recht sein. Denn ich spürte schon bei der ersten Berührung, dass ich auf diese Art von Therapie viel zu lange verzichtet hatte.
Am nächsten Morgen, als Franziska wieder in ihr Fotostudio gegangen war und ich alleine am Frühstückstisch saß, bäumte sich die Eifersucht noch einmal mit letzter Kraft in mir auf, doch ich wischte sie mit einem triumphierenden Lächeln vom Tisch und begann, die Tageszeitung zu studieren. In der Klinik hatte ich es vermieden, die Horrormeldungen des Tages zu verfolgen, und mich stattdessen auf die Lektüre meiner zahlreichen, noch nicht gelesenen Bücher beschränkt. Auf diese Weise wusste ich so gut wie nichts über die neuesten politischen Skandale, Morde und Korruptionsversuche, sprich über Dinge, die mich ohnehin nur aufgeregt hätten und demnach für die Gesundheit nicht förderlich gewesen wären. Als Pharma-Referent wusste ich sehr wohl, welche Rolle die menschliche Psyche beim Genesungsprozess spielte und ich hatte vor, so schnell wie möglich wieder meine einstige Vitalität zurückzugewinnen.
Nun, nachdem ich wieder zu Hause war, wollte ich den Alltag Stück für Stück zurückerobern. Dazu gehörte zweifelsohne auch das Lesen der Zeitung. Bestens gelaunt und fest entschlossen, sämtliche Anstrengungen zu unternehmen, um bald wieder derjenige zu sein, der ich einmal war, fing ich an zu lesen. Ich gebe zu, dass meine Stimmung schon nach kurzer Zeit viel von ihrem morgendlichen Glanz verloren hatte, doch hielt mich diese Tatsache nicht von meinem Vorhaben ab, die Zeitung bis zur letzten Seite durchzuackern.
Dies wäre mir sicher auch gelungen, wenn mein Blick nicht plötzlich auf die Vorankündigung einer Kunstauktion gefallen wäre. Sie sollte mehr oder weniger in unmittelbarer Nähe von uns stattfinden. Normalerweise wären lächerliche 50 Kilometer kaum der Rede wert gewesen, und meine Frau hätte mich mit Sicherheit auch direkt dort hingefahren. Doch ich wollte nicht, dass mich andere in einem solchen Zustand zu Gesicht bekommen würden, schon gar nicht diejenigen, die ohnehin immer glaubten, über allen anderen stehen zu müssen. Ich spürte, wie sich mein Herz verkrampfte und gleichzeitig Wut über die eigene Schwäche in mir hochstieg.
Noch bevor ich mich völlig meinem Weltschmerz hingeben konnte, klingelte es an der Haustür. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich den Flur überquert und geöffnet hatte, doch der freundliche junge Mann in brauner Arbeitskluft, dem ich nun mit Krücken gegenüberstand, schien es nicht eilig zu haben. Hinterher wusste ich warum, denn direkt unter der Klingel hing ein Schild mit der Aufschrift Bitte haben Sie ein wenig Geduld bis Ihnen geöffnet wird! Sichtlich erleichtert, dass er die beiden großen Kartons, die wie zwei brave Hunde rechts und links neben ihm standen und farblich mit ihm eine Einheit bildeten, tatsächlich los wurde und nicht wieder zum Lieferwagen zurückschleppen musste, zückte er sein elektronisches Zustellbuch, gab ein paar Zahlen ein und überreichte mir einen vermeintlichen Stift, mit dem ich ihm willig die Lieferung der Ware quittierte. Nach einem kurzen mitleidigen Blick auf mich und meinen desolaten Zustand, fragte er, ob er mir die Kartons hineinbringen sollte. Am liebsten hätte ich ihn mit bloßen Händen erwürgt, aber meine Vernunft hielt mich zurück. Ich fühlte mich wirklich nicht in der Lage, zwei Kartons dieser Dimension durch die Gegend zu schleppen, und so nahm ich sein Angebot resignierend an.
Wenig später stand ich etwas ratlos vor den geheimnisvollen Paketen, deren Absender ich nicht kannte, und überlegte, ob ich sie einfach öffnen sollte oder ob es besser wäre, auf meine Frau zu warten. Adressiert waren sie an uns beide, aber da ich garantiert nichts bestellt hatte, musste meine Frau dafür verantwortlich gewesen sein, so viel stand fest. Der Gedanke, dass uns Freunde oder gar Verwandte beschenken wollten, stand nicht zur Diskussion.
Etwas erschöpft setzte ich mich auf einen Stuhl, legte die Krücken auf den Fußboden und überlegte. Fast fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt, wo ich mich einmal ins Weihnachtszimmer geschlichen hatte, um mir die Geschenke schon vor der Bescherung anzusehen. Damals wie heute machte mich das einfache Hinschauen jedoch eher noch ungeduldiger und öffnete sämtlichen Spekulationen Tür und Tor, während die Kartons unschuldig vor mir standen und ihren Inhalt schweigend verbargen. Ich schaute abwechselnd zu ihnen und zur Uhr. Es würde noch ungefähr fünf Stunden dauern, bis meine Frau nach Hause käme. So lange musste es doch möglich sein, warten zu können, aber das war es offensichtlich nicht. Schon fünf Minuten später hielt ich es nicht mehr aus und öffnete vorsichtig das braune Packpapier des ersten Kartons. Ich hatte mit vielem gerechnet, nur nicht mit einem Computer, und schon gar nicht mit einem Mac, den ich wenig später von seinen Styroporhüllen befreite.
Nun verstand ich gar nichts mehr. Wir waren uns jahrelang darüber einig gewesen, dass ein derartiger elektronischer Fortschritt in unseren vier Wänden keinen Einzug halten sollte. Meiner Frau reichte es, dass sie geschäftlich durch die immer mehr gefragte Digitalfotografie auf ein solches Gerät angewiesen war. Privat brauchten wir keins und ich konnte beruflich noch ganz gut darauf verzichten, auch wenn ich zugeben muss, dass ich vermutlich der einzige Pharma-Referent im Umkreis von 500 Kilometern war, der noch ohne auskam, damit also ohne direkte Verbindung zur Firma seine Arbeit leistete – und das sogar erfolgreich, man soll es nicht glauben. Aber vielleicht wusste Franziska auch gar nichts von dieser Sendung und würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie die Kiste zu Gesicht bekäme. Andererseits kam meines Erachtens niemand anderes in Frage, der den Mac gekauft haben könnte.
Es stellte sich nur die Frage, was sie dazu bewogen hatte? Wollte sie die Einsamkeit auf diese Weise verdrängen? Wenn ja, hatte sie aber etwas spät reagiert, denn nun war ich wieder zu Hause und dieses Ding im Grunde überflüssig. Aus dem zweiten Karton beförderte ich einen Bildschirm und diverses Zubehör, das beim Auspacken eine Flut von Plastikmüll hinterließ. Nachdem sämtliche Einzelteile der Lieferung vor mir lagen, fing ich an, das mitgelieferte Handbuch zu studieren. Laut dieser recht trocken geschriebenen Lektüre, schien nichts zu fehlen, und mich überkam die Lust, den vor mir liegenden technischen Fortschritt zum Funktionieren zu bringen. Letzteres wäre ohne weiteres als Sondertrainingsstunde bei meiner Krankengymnastin durchgegangen, denn die Gerätschaften standen allesamt auf dem Fußboden und ich musste mich zu ihnen auf den Teppich gesellen, um sie richtig zu verkabeln. Ein mühsames Geschäft, aber dennoch unvermeidlich, wenn ich nicht weiter nutzlos herumsitzen wollte.
Als ich mich gerade so richtig in meine Arbeit vertieft hatte, stand Franziska plötzlich in der Tür. Sie wollte nicht bis zum Abend auf eine Reaktion von mir warten und war deshalb schon mittags nach Hause gefahren. Erfreut stellte sie fest, dass ich bereits dem Computerfieber verfallen war. “Na, Liebling, was sagst du jetzt? Ich habe extra einen Mac genommen, damit wir nicht übermorgen einen neuen Computer bestellen müssen.” Mit diesen Worten ging sie lachend an mir vorbei, steuerte die Küche an und setzte Wasser auf. “Nur beim Drucker war ich mir nicht sicher. Einerseits tendiere ich zu einem Lasermodell, aber die kosten ein Vermögen, wenn man nicht auf Farbe verzichten will. Und bei den Tintenstrahl-Modellen gibt es so große Unterschiede, dass ich mich nicht entscheiden konnte. Ich dachte, da sollten wir noch einmal zusammen los oder du sprichst direkt mit Markus.”
Markus war ein Freund von uns, der in der Computerbranche arbeitete und sich daher bestens mit diesem Zeug auskannte. Sie hatte ihn also offenbar um Rat gefragt, um für ihren nunmehr verkrüppelten Mann die richtige Freizeitbeschäftigung zu finden – ein Gedanke, der mich wütend machte. Verdammt, ich wollte nicht aufs Abstellgleis, ich wollte wieder arbeiten wie vor dem Unfall.
Meine Neugier verwandelte sich in Ablehnung und ich ärgerte mich, dass ich die Kartons überhaupt geöffnet hatte. Während ich mich mühsam aufrappelte, redete sie weiter von Programmen, die neu auf dem Markt wären und über Software, die man sich ganz leicht übers Internet besorgen könnte. “Was willst du eigentlich mit dem Zeug? Seit wann interessierst du dich für Computer? Früher hast du immer gesagt, dir kommt so etwas nichts ins Haus. Du hättest das wenigstens mit mir besprechen können.” Mit diesen Worten hatte ich endlich den Küchenstuhl erreicht, auf den ich mich ziemlich erschöpft niederließ. Sie schaute mich fragend an, während sie die Tassen auf den Tisch stellte. “Freust du dich denn nicht? Ich wollte dich damit überraschen. Markus meinte, ein Computer würde dir bestimmt gut tun, weil er dich zwischendurch auf andere Gedanken bringen kann, wenn dir danach ist.”
“So, meint er das? Was meint er denn noch so, unser Markus?” fragte ich gereizt. Doch sie schien meine Stichelei zu überhören. “Ich dachte, du würdest dich freuen, wenn du im Internet surfen könntest? Du kannst auch gerne einen PC haben, wenn dir der lieber ist, das ist mir egal. Aber wenn dir weder das eine noch das andere recht ist, dann geben wir dieses Ding eben wieder zurück, und die Sache ist erledigt. Ich denke, das dürfte kein Problem sein. Ich werde gleich mal mit Markus reden.” Sie drehte sich um und ging zum Telefon. “Ist ja schon gut. So habe ich es nun auch wieder nicht gemeint; klar behalten wir die Kiste. Es tut mir Leid, dass ich so gereizt bin, aber das Leben als halber Mensch macht mich einfach fertig.” Sie lächelte mich verständnisvoll an und gab mir einen Kuss. “Meinst du, du kannst ihn alleine zum Laufen bringen?” Ich nickte: “Ich werde es jedenfalls probieren. Ansonsten kann ich Markus immer noch um Hilfe bitten.”
Nach einem gemeinsamen Mittagessen, das aus einem mikro-wellengeschädigten Fertiggericht und einem Joghurt bestand und bei dem ich wieder einiges über den Alltag einer Fotografin erfuhr, machte ich mich daran, unserem neuen Hausgenossen Leben einzuflößen, was sich als wesentlich komplizierter erwies, als ich zunächst dachte. Handbücher für Computer waren mindestens genauso trocken und schwer verständlich geschrieben wie Beipackzettel für Arzneimittel. Wenigstens hatte ich diese Erkenntnis bei meinen Bemühungen gewonnen. Aber am späten Abend war ich endlich so weit, auch wenn ich merkte, wie sehr mich die ganze Installation geschlaucht hatte. Ich brauchte eine Pause und legte mich für eine halbe Stunde aufs Ohr, zumindest hatte ich das vor; aber mein Körper brauchte mehr Schlaf als ich ihm zugestehen wollte, und so wachte ich erst auf, als meine Frau mich wachküsste. “Hier, ich glaube, das brauchst du auch noch. Schließlich willst du doch ab und zu ins Internet, oder?” Sie reichte mir einen Brief, den sie zuvor offenbar mit frisch nachgezogenen Lippen geküsst hatte. “Herzlichen Glückwunsch, Liebling!”
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. An meinen Geburtstag hatte ich ehrlich gesagt gar nicht mehr gedacht. Im Krankenhaus war ein Tag wie der andere, und man hatte genug damit zu tun, sich auf seinen Körper und dessen Genesung zu konzentrieren. Zum Feiern verspürte ich ohnehin keine große Lust, jedenfalls nicht in diesem Zustand. Ich setzte mich so gut es ging auf und wog den Umschlag in meiner Hand. “Nun mach schon auf”, forderte meine Frau und legte ihren Arm um mich. Ihre Berührung tat gut, und wieder merkte ich, wie sehr ich sie in den letzten Wochen vermisst hatte. Das Kuvert, dessen Inhalt ich ohnehin schon erraten hatte, konnte warten, mein Verlangen nach Zärtlichkeit jedoch nicht. So kam es, dass ich die Daten für den Internetzugang erst am nächsten Morgen zu Gesicht bekam und eingeben konnte, was ich aber keineswegs bereute.
Als sich das Fenster des Internet-Explorers auf dem Bildschirm aufbaute, fragte ich mich, wo ich zuerst hinsurfen sollte. Da fiel mein Blick auf die Bedienungsanleitung des Computers. Wie hieß es da so schön Besuchen Sie uns auch im Internet! Klar, das machte ich auch postwendend, wobei ich ziemlich enttäuscht wurde, denn vor mir öffnete sich eine langweilig gestaltete Internetseite, die ich sogleich wieder verließ, um eine neue Seite aufzurufen.
Da riss mich das Telefon aus meinen Gedanken. Mühsam schleppte ich mich zum Hörer, den ich in der Küche liegen gelassen hatte, kam aber prompt zu spät. Also humpelte ich wieder zurück. Kaum war ich an meinem Platz angekommen, klingelte mein Handy, das ich zum Glück bei mir trug. “He, altes Haus, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und zum Computer”, meldete sich eine altbekannte Stimme. “Bist du schon im Internet?” “Ja, gewissermaßen, aber ich weiß nicht, was ich mir anschauen soll.” Markus fing an zu lachen. “Gib doch einfach irgendein Stichwort in eine dieser Suchmaschinen ein.” Und er nannte mir drei Namen, die ich gleich notierte. “Glaub mir, da ist echt was geboten. Sonst würden doch nicht so viele Leute stundenlang vor der Kiste sitzen.” Dieser Satz leuchtete mir durchaus ein, aber trotzdem empfand ich das Medium Internet als fremd und nahm mir vor, mich langsam vorzutasten.
Nachdem wir noch eine Weile über seinen Job und meinen desolaten Zustand gesprochen hatten, war ich wieder auf mich alleine gestellt und rief eine der von Markus genannten Suchmaschinen auf, um sie auf die Probe zu stellen. Nach welchem Begriff sollte ich suchen lassen, vielleicht nach einem Maler, von dem ich nur wenig wusste? Ich probierte einige Namen aus und war erstaunt, wie viel ich über diese Personen herausfinden konnte. Die Sache fing an, spannend zu werden. Irgendwann tippte ich den Begriff Kunstauktion ein – warum weiß ich bis heute nicht – und siehe da, es gab sogar im Internet die Möglichkeit, Bilder, Skulpturen und Ähnliches zu ersteigern. Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind kurz vor der Bescherung und öffnete die erste mögliche Seite, die mir die Suchmaschine angezeigt hatte. Ein Glücksgefühl durchströmte mich und ich fühlte mich plötzlich wieder wie ein ganzer Mensch. Wieso hatte ich davon nicht vorher gewusst?
Das Prinzip des Ersteigerns wurde mir schnell klar. Für jeden Gegenstand, der im Netz angeboten wurde, stand eine bestimmte Zeit zur Verfügung, in der die Interessenten die Chance hatten, ein Gebot abzugeben oder auch mehrere. So konnte man sich ganz schön in die Höhe schaukeln. Ich beobachtete einige Auktionen am Bildschirm und verfolgte die einzelnen Schritte der Kaufwilligen, wobei ich versuchte, ihre Taktik zu durchschauen. Es mag überheblich klingen, aber nach einer Weile musste ich die Feststellung machen, dass die meisten über recht wenig Intelligenz verfügten. Sie zeigten viel zu früh ihr Interesse und konnten es einfach nicht abwarten, bis es an der Zeit war, Farbe zu bekennen. Auf diese Weise wurden sie von anderen gewissermaßen rechts überholt und gingen leer aus.
So verbrachte ich einige Stunden vor dem Computer, immer als Beobachter mehrerer Auktionen und gleichzeitig als geduldiges Geburtstagskind, das ganz nebenbei die Glückwünsche von Freunden und einer Hand voll Verwandter am Telefon entgegennahm. Während ich mich gerade bei meiner Tante für ihren Anruf bedankte, wechselten schon wieder zwei Kunstdrucke und drei Originale ihre Besitzer. Ich konnte es einfach nicht fassen und es war für mich absurd, wie Kunst regelrecht verscherbelt wurde. Bilder musste man doch in ihrer ganzen Dimension auf sich wirken lassen, ihre Struktur wahrnehmen, ihre Farben leuchten sehen. Bei einer lächerlichen Auflösung von gerade mal 72 dpi, die im Internet üblicherweise präsentiert wird, ist so etwas wohl kaum möglich.
Ich fragte mich, was die Leute dazu veranlasste, Kunst auf diese Weise zu kaufen. Wären sie nicht besser beraten, wenn sie auf eine Auktion gingen, wie jeder Kunstliebhaber? Ich stand auf, um mir einen Kaffee zu holen und konnte mich gerade noch am Tisch festhalten, um mein Gleichgewicht wieder zu erlangen. Ich hatte völlig vergessen, warum ich hier saß und nicht als Pharmavertreter durch die Weltgeschichte fuhr. Ich war auf Gehhilfen angewiesen und traute mich nicht mehr unter die Leute. Das war es, was mich von einer Auktion fernhielt, nichts weiter. Ging es den anderen Menschen ähnlich? Aus welchem Grund wollten sie sich nicht der Öffentlichkeit zeigen oder waren sie nur zu bequem, um sich aus dem Haus zu bewegen? Mir schossen lauter Gedanken durch den Kopf und erst jetzt bemerkte ich, wie erschöpft ich war. Langsam erhob ich mich, nahm meine Krücken und begab mich zur Couch. Ich muss sofort eingeschlafen sein und wachte erst wieder auf, als mich zwei warme Lippen küssten.
Meine Frau musste schon eine Weile zu Hause gewesen sein, denn der Duft von frischem Kaffee stieg mir in die Nase, während ich ihren Kuss erwiderte. Auf dem Couchtisch stand ein Strauß mit weißen Lilien wie jedes Jahr, wenn ich Geburtstag hatte. Eigentlich mochte ich rote Rosen lieber, aber Franziska bestand nach wie vor darauf, nur das zu verschenken, was ihr selber gefiel. Umgekehrt machte ich es, ihrem Wunsch entsprechend, genauso. Ich muss zugeben, wir führten schon eine merkwürdige Ehe, aber offenbar wünschte sich das keiner von uns anders.
Nachdem sie das Tablett mit dem Kaffee auf den Couchtisch gestellt hatte, begann unser alltäglicher Informationsaustausch und ich erzählte ihr von den ahnungslosen Kaufwilligen der Internet-Kunstauktionen. Es war gemütlich und ich hätte noch stundenlang einfach nur dasitzen und die Zeit mit ihr genießen können. Sie hatte nach all den Jahren immer noch etwas Aufregendes an sich. Ich liebte sie und war glücklich, sie damals getroffen zu haben.
Das war vor ungefähr fünf Jahren. Ich brauchte ein Passbild und wollte mich nicht in irgend so einen Kasten begeben, in dem man für einen kurzen Augenblick selbst Fotograf spielen muss, auf einen Knopf drückt und in wenigen Minuten für ein paar Euro sechs Fotos bekommt. Nein, ich brauchte richtig gute Bewerbungsfotos, und so lief ich meiner Frau gewissermaßen direkt in die Arme. Sie war gerade damit beschäftigt, ein Kind zu fotografieren und ich hatte das Glück, sie währenddessen zu beobachten. Jede Faser ihres Körpers schien sich darauf zu konzentrieren, den individuellen Typ des Kindes einzufangen. Sie wollte authentisch sein, was ihr mit Sicherheit auch gelungen war. Ich fand es schon damals bemerkenswert, mit welcher Ruhe sie ihr Vorhaben verfolgte. Zeit spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Das Ergebnis zählte und musste entsprechend vorbereitet werden.
Als ich an der Reihe war, disponierte ich kurz entschlossen um, und ließ statt der ursprünglich geplanten Passbilder Portraitaufnahmen machen. Es reizte mich immens, von dieser faszinierenden Frau von Kopf bis Fuß abgelichtet zu werden. Außerdem konnte ich durch diese Entscheidung gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, denn meine Mutter lag mir schon lange in den Ohren, dass sie kein vernünftiges Bild von mir besäße, außer das von meiner Einschulung. Damit übertrieb sie zwar maßlos, aber das tat sie natürlich nur, um mich dazu zu bewegen, ihr ein aktuelles Foto von mir zu schenken. Nun war die Gelegenheit gekommen und ich ließ mich eingehend von der attraktiven Frau vor mir beraten. Sie zeigte mir einige Musterfotos von Männern, die möglicherweise aus dem gleichen Grund bei ihr gewesen waren wie ich, und wir tranken unseren ersten gemeinsam Espresso. Ich glaube, ich hatte mindestens anderthalb Stunden in ihrem Studio verbracht und währenddessen mehrere Passbildaufnahmen beobachtet, bis ich mir schließlich einen Termin für den nächsten Nachmittag geben ließ, um mich fachgerecht und mit sehr viel Einfühlungsvermögen porträtieren zu lassen. Diese Frau ging mir nicht mehr aus dem Kopf und ich überlegte fieberhaft, wie ich ihr näher kommen könnte.
Ich wäre noch gerne meinen Erinnerungen, die erst ein paar Jahre zurücklagen, nachgehangen, wurde aber in die Gegenwart katapultiert. “Ich habe uns heute Abend einen Tisch bestellt, Liebling!” Mein Blick fiel auf die Lilien und dann auf die Krücken. Jetzt wurde mir erst bewusst, was sie soeben gesagt hatte. “Du hast einen Tisch bestellt?” wiederholte ich ungläubig. “Aber du weißt doch, dass ich noch nicht so weit bin. Wir können uns auch etwas kommen lassen!” Sie lächelte mich verständnisvoll an: “Keine Angst mein Schatz, Markus, kommt auch mit. Wir passen schon auf dich auf. Irgendwann musst du ohnehin wieder unter die Leute, je früher, desto besser. Und jetzt werde ich mir etwas Schickes anziehen. Soll ich dir einen Anzug bringen oder willst du lieber in Hose und Jackett essen gehen? Am besten ich hole dir beides. Dann kannst du dich spontan entscheiden.” Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Zimmer und ließ mich allein.
Langsam wurde ich wütend. Zugegeben, mich machte es selber wahnsinnig, ans Haus gefesselt zu sein, aber hätte meine Frau mich nicht erst einmal fragen müssen, bevor sie einen Tisch in irgendeinem Restaurant bestellte? Immerhin handelte es sich bei der Veranstaltung, die es zu feiern galt, um meinen Geburtstag. Ein wenig mehr Einfühlungsvermögen ihrerseits hätte ich schon erwartet. Allmählich kam ich mir vor wie eine Marionette, die keine Bewegung ohne fremde Hilfe tun konnte. Hatte ich mein Leben nicht mehr selber in der Hand, sodass andere über meinen Tagesablauf bestimmten? Dieser Gedanke machte mich ganz verrückt, weil ich mir ausgeliefert vorkam. Noch mehr ärgerte mich der Umstand, dass Markus mitkommen sollte. Weshalb ausgerechnet er? Gut, er war unser Freund und besuchte uns in unregelmäßigen Abständen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich den Abend meines Geburtstags mit ihm verbringen musste. Ich fühlte mich überrollt oder noch besser ausgedrückt, entmündigt. Andererseits wollte ich es vermeiden, meine Frau vor den Kopf zu stoßen und nahm mir vor, das gemeinsame Essen so gut es ging hinter mich zu bringen. Im Grunde konnte ich froh sein, dass nur Markus kommen sollte. Hätten wir in den Augen anderer eine normale Ehe geführt, wären vermutlich schon am Nachmittag sämtliche Verwandte von mir unangemeldet bei uns eingefallen, um sich an den vorhandenen Vorräten gütlich zu tun. Aber das konnte uns glücklicherweise nicht passieren.
Die Weichen dazu hatten wir bereits an unserer Hochzeit gestellt, indem wir zu einem Picknick einluden. Jede und jeder sollte etwas Essbares mitbringen, woraufhin über die Hälfte der Verwandtschaft sofort absagte. Es überstieg ihre Vorstellungskraft, ein solches Ereignis mit einem Picknick zu begehen und damit auf ein üppiges Essen im Restaurant zu verzichten. Einige fühlten sich von uns sogar verschaukelt, was ich bis heute nicht verstehen kann. Es kann so spannend sein, einen ungewohnten Weg zu betreten und ihn ein Stück auszuprobieren, oder etwa nicht? Sie hätten hinterher immer noch die Möglichkeit gehabt, sich negativ zu äußern, aber sie verzichteten lieber komplett auf eine neue Erfahrung. Für uns bedeutete das letztlich, dass wir eine völlig ungezwungene Hochzeit mit unseren Freunden feiern konnten, denn auch die andere Hälfte der Verwandtschaft, bis auf zwei Ausnahmen, glänzte an diesem Tag durch Abwesenheit; selbst meine Schwester blieb weg, was ich zugegebenermaßen bedauerte.
Während ich noch darüber nachdachte, wie ich den gemeinsamen Restaurantbesuch mit Markus doch noch verhindern konnte, kam meine Frau zurück, und zwar in ihrem kleinen Schwarzen, das ihr nach wie vor ausnehmend gut zu Gesicht stand. Sie sah bezaubernd aus, und für einen kurzen Moment vergaß ich, weshalb sie in diesem aufregenden Kleid vor mir stand. Doch dann fiel mein Blick auf das, was sie über ihren Arm gelegt hatte, einen Anzug, zwei Hosen und ein Jackett. “Na, wozu hast du Lust,” fragte sie herausfordernd. Und mir fiel nichts Besseres ein, als “Auf dich natürlich”, zu antworten, woraufhin sie mich verführerisch ansah. Das weiß ich doch, aber den Appetit auf den Nachtisch solltest du dir für später aufbewahren. Außerdem möchte ich Markus ungern warten lassen. Sag schon, was willst du anziehen?”
Da war sie wieder, diese Eifersucht, die sich lediglich etwas zurückgezogen hatte, um mich mit neuer Kraft zu attackieren. Wie gerne hätte ich ihr die Stirn geboten und sie in ihre Schranken verwiesen, aber ich fühlte mich viel zu schwach und gab dieses Spiel verloren. Etwa eine halbe Stunde später betraten wir das Rossini, ein kleines, aber feines Restaurant, das seit vielen Jahren zu unseren Stammlokalen zählte. Vor meinem Unfall genossen wir mindestens zweimal wöchentlich die ständig wechselnden mediterranen Köstlichkeiten und gleichzeitig das gepflegte Ambiente des Nobelrestaurants. Es war nur ein paar Straßen von unserem Haus entfernt, sodass wir den Weg dorthin immer mit einem kleinen Spaziergang verbinden und dadurch auch etwas Alkohol trinken konnten. Dieses Mal mussten wir für die kurze Strecke das Auto bemühen, was mich nicht gerade fröhlich stimmte.
Markus hatte offenbar schon auf uns gewartet, denn er saß bereits am Tisch, als wir eintrafen, und studierte die Karte. Freudestrahlend kam er auf mich zu und umarmte mich überschwänglich. “Endlich wieder zu Hause. Und, wie fühlst du dich? Was macht der Computer? Hast du schon fleißig gesurft?” Mir entging nicht, dass er meiner Frau bei seiner letzten Frage zugezwinkert hatte, aber wertete dies nicht weiter, zumal ich wusste, welche beratende Funktion er beim Kauf meines Geburtstagsgeschenks innehatte. Sollten sie sich ruhig beide über die gelungene Überraschung freuen. Das war für mich okay. Weniger tolerant nahm ich die Tatsache hin, dass ich mich neben Markus erst recht wie ein Krüppel fühlte. Er war schon immer ein sportlicher Typ gewesen, der mit einem durchtrainierten Körper und schwarzen dichten Locken vor allem weibliche Blicke auf sich zog. Mit seinen 1,90 Metern überragte er mich zwar nur um etwa zehn Zentimeter, aber die reichten dieses Mal ohne weiteres aus, um mein Selbstbewusstsein auf ein Minimum zu reduzieren. Ich fühlte mich minderwertig und nutzlos, und als die beiden mich auch noch wie einen alten Mann zum Tisch führten, hatte ich das Gefühl, dass mir sämtliche noch vorhandene Energie auf einmal entzogen wurde.
Mir war der Appetit vergangen, bevor ich die Karte zu Gesicht bekommen hatte. Was sollte ich hier noch? Immer wieder stellte ich mir die Frage, was sich meine Frau dabei gedacht hatte, mich in diesem Zustand der Öffentlichkeit vorzuführen? Hätten wir nicht besser mit einem Spaziergang zu zweit beginnen sollen? Stattdessen, musste ich mich in meinem Stammlokal als Krüppel outen, als Mensch zweiter Klasse, der noch nicht einmal fähig ist, alleine seinen Platz einzunehmen. Ich ärgerte mich im Grunde über mich selber. Denn ich hätte meiner Frau bereits zu Hause deutlich machen können, was ich von ihrer Idee hielt. Es wäre ein Leichtes gewesen, nicht mit zu gehen und sich stattdessen etwas Essbares kommen zu lassen. Ich war ganz alleine für meine missliche Lage verantwortlich, was am meisten wehtat.
“Möchtest du einen Aperitif, Liebling?” Nein, das wollte ich nicht. Eigentlich hätte sie es doch wissen müssen, dass ich wegen der Tabletten, die ich immer noch einnehmen musste, keinen Alkohol trinken durfte. Auf der anderen Seite, konnte ich ihr nicht böse sein, denn sie nahm solche Dinge immer auf die leichte Schulter. Die Beipackzettel der Medikamente las sie ohnehin nie, weil sie immer behauptete, dass sie sonst unter sämtlichen aufgeführten Nebenwirkungen leiden und in Folge dessen innerhalb kürzester Zeit tot umfallen würde. Ich konnte sie nie vom Gegenteil überzeugen und sorgte wenigstens dafür, dass sie die richtige Dosierung einhielt. Zum Glück war meine Frau nicht so häufig krank gewesen, sodass ich mich über ihr unvernünftiges Verhalten gegenüber der Einnahme pharmazeutischer Mittel bisher nur selten aufregen musste.
Inzwischen studierte ich die Speisekarte und musste feststellen, dass der Wunsch, etwas zu Essen, immer noch nicht zurückgekehrt war. Weder ein italienischer Vorspeisenteller, noch ein Carpaccio vom argentinischen Rind konnten mich aus der Reserve locken. Ebensowenig hatte ich Lust auf Vitello Tonnato. Während ich noch dabei war, die verschiedenen Gerichte im Geiste gegeneinander abzuwägen, um endlich eine Entscheidung treffen zu können, die meinen Magen am wenigsten belasten würde, nahm mir meine Frau in ihrer charmanten Art die Karte aus den Händen. “Lass uns den Lammrücken nehmen. Den magst du doch ohnehin am liebsten; ich hatte mir schon den ganzen Tag gedacht, wenn sie den haben, schlage ich zu. Willst du außerdem noch einen Salat, oder reicht dir das?”
Ich war so perplex, dass ich keinen nennenswerten Widerstand gegen den soeben auf meine Entscheidungsfreiheit verübten Anschlag leisten konnte. Ich schüttelte den Kopf, aber weniger, um den Salat abzulehnen als vielmehr darum, mich von dem Gefühl zu befreien, soeben zu einem willenlosen Wesen degradiert worden zu sein. Was war mit meiner Frau los? Wieso fing sie plötzlich an, mich zu bevormunden, und das auch noch in der Öffentlichkeit? Ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen, jedenfalls nicht hier und beschloss, das Ganze zunächst auf sich beruhen zu lassen. Ich war mir sicher, dass sich später eine Gelegenheit ergeben würde, Franziska nach ihren Beweggründen fragen zu können. Also schluckte ich die Kröte und versuchte, den Restaurantbesuch so gut wie möglich hinter mich zu bringen.
Gegen 23 Uhr kamen wir wieder nach Hause, allerdings hatte ich absolut keinen Appetit auf den angekündigten Nachtisch. Ich weiß nicht, woran es lag, schließlich war der Abend doch angenehmer verlaufen, als ich am Anfang befürchtet hatte. Markus, der schon immer über einen unermesslichen Fundus an geistreichen Witzen verfügte, hatte dafür gesorgt, dass niemandem, auch nicht den anderen Gästen, langweilig werden konnte. Trotzdem fühlte ich mich irgendwie leer und kraftlos. Der Abend hatte mich weder erfüllt noch angeregt. Er war an mir vorübergezogen ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Und das erschreckte mich. Was war nur mit mir los? Hatte ich das Genießen gänzlich verlernt?
Ich lehnte mich etwas verwirrt und gleichzeitig erschöpft an den Türrahmen der Küche und dachte darüber nach, was nun plötzlich nicht mehr stimmte. Meine Frau nahm mir die Krücken ab und lehnte sie gegen einen der Stühle. Dann holte sie eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank, und stellte zwei Gläser auf den Tisch, als wären wir an diesem Abend im Rossini verdurstet. “Meinst du nicht, dass du schon genug Alkohol für heute getrunken hast?”, fragte ich vorsichtig. “Für heute ganz bestimmt, aber gleich ist doch schon morgen, und der”, sie deutete auf die Flasche an der sie sich sogleich zu schaffen machte, “will schließlich auch noch was von diesem Fest haben, oder?” Es knallte und im nächsten Moment war ein Sektglas gefüllt. Mit dem Glas in der einen und der Flasche in der anderen Hand kam sie langsam auf mich zu. “Komm, Liebling, lass uns ins Bett gehen. Willst du nicht doch einen Schluck?” “Nein, und du solltest besser auch keinen mehr trinken.” Ich nahm ihr die Flasche und das Glas aus der Hand, was sich allerdings als Fehler erwies, denn nun fing sie an, mir die Krawatte zu lockern und das Hemd aufzuknöpfen. Während sich ihre Finger geschickt an meiner Kleidung zu schaffen machten, spielten ihre Lippen mit meinem Hals.
Früher hätte mich so etwas enorm angeregt und ich wäre ohne Umschweife auf ihr Spielchen eingegangen, aber jetzt stand ich einfach nur da wie ein Unbeteiligter, hatte Mühe mein Gleichgewicht zu halten und brachte es nicht fertig ihre Liebkosungen zu erwidern. Im Gegenteil, je länger Franziska mich bearbeitete, desto abstoßender wirkte sie auf mich. Der sonst so verführerische Duft ihres Parfums hatte sich mit dem Geruch von abgestandenem Zigarettenrauch und Alkohol vermischt. Eine Kombination, die ich noch nie so wahrgenommen hatte. Mir wurde übel und ich wünschte mir, dass ich mich gerade in einem Traum und nicht in der Wirklichkeit befand. Aber leider war dem nicht so und ich musste etwas unternehmen, um Franziska von ihrem Vorhaben abzubringen. “Ich glaube, dies ist nicht der richtige Ort, um mich umzuwerfen”, sagte ich etwas gereizt, vermied es aber, ihr dabei in die Augen zu blicken. Abrupt stellte sie ihre Verführungsversuche ein, trat einen Schritt zurück und schaute mich herausfordernd an. “Das stimmt, Liebling, wir wollen doch nicht, dass plötzlich zwei Flaschen am Boden liegen, eine leere und eine volle.” Sie lachte laut und schrill, nahm mir das Glas aus der Hand und leerte es provokativ in einem Zug. Leicht schwankend verließ sie die Küche, nicht ohne mir einen weiteren Stich zu versetzen. “Dann eben nicht, wenn du keine Lust auf mich hast, bitte. Ich werde dich nicht zu einem Orgasmus zwingen.”
Ich war fassungslos. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gedemütigt gefühlt. Warum war meine Frau dermaßen entgleist? Ich konnte das Erlebte nicht so stehen lassen und wollte mit ihr sprechen, allerdings war mir klar, dass ich damit noch warten musste. In ihrem angetrunkenen Zustand war es wohl kaum möglich, vernünftig mit ihr zu reden. Um jeglicher Auseinandersetzung in dieser Nacht aus dem Weg zu gehen, nahm ich meine Krücken und humpelte zum Computer. Ich wollte Zeit gewinnen und hoffte, dass meine Frau bald einschlafen würde und ich ihr dann ins Schlafzimmer folgen konnte, ohne mit weiteren Beleidigungen rechnen zu müssen.
Während der Computer noch mit dem Hochfahren beschäftigt war, hörte ich den Anrufbeantworter ab. Es hatten sich einige Gratulanten auf dem Band verewigt und ich musste lachen, weil Tante Emy, eine der beiden Verwandten, die zu unserer Hochzeit gekommen waren, sich wieder einmal lautstark über die unmenschliche Erfindung des Anrufbeantworters ausgelassen hatte. Sie wurde auch prompt von ihm mit den Worten: “Danke für Ihre Nachricht!” verabschiedet, was mir ein Grinsen entlockte.
Emy hieß eigentlich Emilie und war eine Schwester meiner Mutter. Sie hatte nie geheiratet, weil sie immer behauptete, dass sie keine Lust hätte, nach der Pfeife eines Mannes zu tanzen. Ich war mir sicher, dass sie diese Begründung nur als Ausrede benutzte, weil sie sich nicht eingestehen wollte, dass sich bisher kein Mann wirklich für sie interessiert hatte. Inzwischen war sie 78 Jahre und geistig voll auf der Höhe. Sie faszinierte mich schon als ich ein kleiner Junge war, weil sie zu allem und jedem eine Meinung hatte, und diese auch, im Gegensatz zu anderen Leuten, nach außen hin vertrat. Diese Eigenschaft schätzte ich ebenso an ihr wie ihr ausgesprochen gutes Gedächtnis. Sie schien sich an alle Kleinigkeiten aus ihrem Leben erinnern zu können, was mir manchmal unheimlich vorkam. Trotzdem besuchte ich sie immer gerne als Kind und hörte ihren Geschichten aus dem Mittelalter oder der Ritterzeit zu, die sie in den schillerndsten Farben erzählte, als hätte sie sie selber erlebt.
Tante Emy konnte man alles fragen, sie war nie um eine Antwort verlegen und sagte immer das, was sie dachte. Ich weiß noch genau, wie ich ihr ein Foto von Franziska zeigte und ihr eröffnete, dass ich die Frau auf dem Bild heiraten würde. Ich war bis über beide Ohren verliebt und Tante Emys einziger Kommentar lautete: “Seit wann interessiert du dich für geheimnisvolle Frauen?”
Ich habe bis heute nicht verstanden, was sie damit meinte, denn ich finde meine Frau keineswegs geheimnisvoll, dafür aber attraktiv und ausgesprochen gut aussehend. Sie schien auch keine Geheimnisse vor mir zu haben, sonst hätte sie sich meines Erachtens anders benehmen und sich vor mir verschließen müssen. Aber das war bisher nie der Fall gewesen. Und was die Entgleisung an meinem Geburtstag anging, so hatte sich diese auch alles andere als geheimnisvoll angefühlt, sondern eher abstoßend und ordinär. Aber daran wollte ich gar nicht mehr denken. Ebenso wenig an die restlichen Gratulanten, die auf dem Band mehr oder weniger originelle Beiträge hinterlassen hatten. Der Mac war längst hochgefahren und ich befand mich im Netz der Netze – in einer Welt, die gerade von hunderttausend anderen Menschen durchkämmt wurde und in der es immer wieder etwas Neues zu entdecken gab.