Читать книгу Enthüllungen im Mittelformat - Marla Saris - Страница 7
ОглавлениеKapitel 2
Am nächsten Morgen wachte ich wie gerädert auf. Es war schon nach neun Uhr. Um allen Eventualitäten aus dem Weg zu gehen, hatte ich mich nach meinem Surfausflug nicht ins Schlafzimmer begeben, sondern die Couch als Nachtlager vorgezogen. Das sollte sich jetzt rächen, denn eine Designercouch ersetzt bei weitem kein Bett, wovon sich meine Knochen etwa sieben Stunden lang überzeugen konnten. Ich setzte mich auf und lauschte. Offenbar war meine Frau bereits ins Atelier gefahren. Ich musste sie knapp verpasst haben. Schade, ich hätte gerne mit ihr über den gestrigen Abend gesprochen. Es war weniger ihr schnippisches Verhalten, das mir noch im Magen lag, als vielmehr die Tatsache, dass sie mich als leere Flasche bezeichnet hatte. Sicher, wir waren nicht immer einer Meinung gewesen und hatten auch schon mal die eine oder andere Auseinandersetzung hinter uns, aber ich glaube doch sagen zu können, dass wir immer fair miteinander umgegangen waren. Jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt. Die Liebe und die gegenseitige Achtung hatten es niemals dazu kommen lassen, einen Kampf unter der Gürtellinie auszufechten. Was hatte meine Frau dazu bewogen, sich derart daneben zu benehmen? Konnte Alkohol einen Menschen so verändern? Aus welchem Grund hatte sie überhaupt so viel getrunken, wenn sie doch sonst spätestens nach zwei Gläsern Rotwein die Notbremse zog? Auf eine Antwort musste ich wohl oder übel bis zum Abend warten, bis Franziska wiederkam.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mich ins Bad geschleppt und mich fertig gemacht hatte, aber endlich saß ich am Frühstückstisch. Franziska hatte dem Vorfall des gestrigen Abends offenbar wenig Bedeutung beigemessen, denn der Tisch war wie üblich gedeckt und der Kaffee roch einladend. Ich fing an mich zu fragen, ob ich das alles vielleicht doch nur geträumt hatte. Es war bereits zehn Uhr als ich mich aufraffte, endlich etwas für meine Muskulatur zu tun. Besonders viel Lust hatte ich nicht, und mein innerer Schweinehund hegte kein sonderliches Interesse daran, sich dem Heimtrainer auszuliefern; aber was tat man nicht alles, um eine nette Krankengymnastin zufrieden zu stellen.
Franziska hatte das Foltergerät schon vor einigen Jahren angeschafft, weil sie meinte, etwas für ihre ohnehin perfekte Figur tun zu müssen. Letztlich hatte ich auf dem Ding aber öfter gesessen als sie. Nun musste ich es täglich benutzen, um meine Muskeln neu aufzubauen und damit wieder meinen angestammten Platz in der realen Arbeitswelt einzunehmen. Mein Job hatte mir viel Spaß gemacht, zumal ich stets bemüht war, aus Überzeugung zu handeln und nicht aus Profitgier. Dadurch hatte ich mir bei den Ärzten und Heilpraktikern ein gewisses Vertrauen aufgebaut, was für einen dauerhaften Erfolg sorgte.
Automatisch dachte ich an meine Kunden, die momentan von anderen Kolleginnen mit betreut wurden, was nicht ganz reibungslos über die Bühne ging. Eine Ärztin rief mich deshalb sogar in der Klinik an und beschwerte sich bei mir über das angeblich unmögliche Verhalten meiner Kollegin. Ein anderer wünschte mir gute Besserung und verband diesen Wunsch mit der Frage, ob ich nicht schneller wieder gesund werden könne, weil er mit mir besonders gerne zusammenarbeiten würde. Einerseits tat mir das natürlich gut, weil ich mich in meiner Arbeit bestätigt sah. Andererseits wollte ich auf keinen Fall, dass sich die Kunden durch einen banalen Grund von meinem Brötchengeber abwandten und Konkurrenzprodukte kauften beziehungsweise verschrieben. Und das würde sicher nicht allzu lange dauern, wenn ich noch weiterhin ans Haus gefesselt blieb.
Während ich so gut es ging in die Pedale trat, fiel mein Blick auf das kleine Schwarze, das unschuldig auf seinem Bügel am Schrank hing. Franziska hatte ohne Zweifel eine Topfigur und wusste diese auch zur Geltung zu bringen. Sie verfügte über einen ausgesprochen guten Geschmack und verstand es, sich immer so zu kleiden, dass sie auffiel ohne überkandidelt zu wirken. Wenn sie irgendwo hinkam, sorgte sie dafür, dass man sie im Gedächtnis behielt, nicht nur durch ihre bloße Erscheinung. Sie ging stets freundlich und verbindlich mit den Menschen um, was ich besonders an ihr schätzte. Doch nun war sie nicht da und hatte sich einer ihrer zahlreichen Hüllen entledigt, wie ein Schmetterling seinen Kokon abstreifte. Zurück blieben die Erinnerungen an einen Abend, der alles andere als harmonisch gewesen war und dessen Verlauf ich gerne verdrängt hätte.
Ich musste immer wieder an Franziskas Worte denken, mit denen sie mich so getroffen hatte. Sie schienen sich einen Spaß daraus zu machen, mich unaufhörlich zu quälen. Ich fing an, schneller zu treten, als ob ich ihnen hätte davonfahren können. Aber es war zwecklos. Irgendwann gab ich völlig verschwitzt und erschöpft auf. Dieses Mal hatte ich verloren. Mühsam stieg ich vom Rad und merkte erst zu spät, dass mir übel wurde. Alles fing an sich um mich herum zu drehen. Mein Kreislauf spielte verrückt und ich schaffte es gerade noch, mich wie ein nasser Sack aufs Bett fallen zu lassen. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder aufrappeln und das Schlafzimmer verlassen konnte.
Ich humpelte in die Küche, dieses Mal probierte ich es mit nur einer Krücke, was mir auch gelang. Nachdem ich ein Glas Wasser getrunken und einen Müsliriegel gegessen hatte, begab ich mich ins Wohnzimmer. Mit nur einer Gehhilfe war ich zwar etwas mobiler und konnte mit dem freien Arm Dinge von einem Ort zum anderen tragen, aber dadurch fühlte ich mich nicht wirklich besser. Im Gegenteil, ich musste daran denken, dass ich gar nicht mehr allzu weit davon entfernt war, ein Opa zu werden. Ich und Großvater, ein Gedanke, den ich lieber verdrängt hätte, doch jetzt war er da und ich überlegte, ob ich das Altwerden überhaupt als unabänderliche Tatsache annehmen konnte. Vor ein paar Monaten stand diese Frage noch nicht zur Diskussion. Sicher, die Altersvorsorge war geregelt, aber deshalb dachte man noch lange nicht daran, schon zum alten Eisen zu gehören. Meine leicht ergrauten Schläfen ließen mich ohnehin eher als guten Liebhaber durchgehen und weniger als einen geduldigen und gemütlichen Großvater.
Ich fragte mich, ob ich jemals die nötige Geduld aufbringen würde, die von einem Opa in der Regel erwarten wurde, wenn seine Enkelkinder ihn besuchten. Ich stellte mir vor, wie ich reagieren würde, wenn klebrige Kinderhände sich an meiner cremefarbenen Couch vergriffen und beschloss, das Wohnzimmer im Falle eines Falles einfach abzuschließen, um einem Herzinfarkt zu entkommen. Ich musste über mich selber lachen. Wie kam ich nur auf solche Gedanken, ich hatte doch selber keine Kinder, also brauchte ich mir über vermeintliche Enkel nun wirklich keine Gedanken machen.
Seltsam, Franziska und ich hatten nie darüber geredet, ob wir Kinder haben wollten. Als wir uns kennen lernten war sie bereits 34 Jahre und hatte sich ganz offenbar für ihre Karriere entschieden, ebenso wie ich. Wir führten ein Leben, in dem Kinder nicht vorgesehen waren. Meine Frau hatte nie den Wunsch geäußert, jemals ein Kind haben zu wollen und für mich war das in Ordnung, zumal wir dadurch beide ein relativ luxuriöses Leben führen konnten und keine Rücksicht auf die Belange eines Babys oder Kleinkindes nehmen mussten.
Ich fragte mich, was sie getan hätte, wenn es einfach passiert wäre. Es soll ja Leute geben, die zwar jeden Morgen die Pille einwerfen, aber dennoch schwanger werden. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wenn ausgerechnet mir ein solcher Volltreffer passiert wäre, einem Vertreter der Pharmaindustrie, hätten wir für Schlagzeilen gesorgt, zumindest firmenintern. Aber es war ja nichts dergleichen geschehen, also warum dachte ich überhaupt darüber nach?
Inzwischen war der Computer hochgefahren und ich wollte mich gerade wieder daran machen, nach interessanten Auktionen zu schauen, als das Telefon klingelte. Warum hatte ich das blöde Ding nicht gleich mitgenommen. Es lag noch in der Küche und es war utopisch, rechtzeitig dorthin zu gelangen, bevor sich der Automat einschaltete, trotzdem versuchte ich es. Natürlich kam ich nicht rechtzeitig und mir fiel der Slogan ein Wer zu spät kommt, verpasst das Beste. Die Werbung hatte mir immer gefallen. Klar, ich hatte ja selbst nie zu den Losern gezählt; doch im Moment fühlte sich das anders an. Meine Unbeweglichkeit nervte mich gewaltig, ebenso wie der Umstand, dass unser elektronischer Privatsekretär seine Aufgabe mal wieder besonders ernst nahm und nicht auf meine Wenigkeit wartete.
Sollte der Mensch am anderen Ende der Leitung ruhig aufs Band sprechen. Es gab ja die Möglichkeit, zurückzurufen. Seufzend nahm ich den endlich erreichten Hörer an mich und humpelte zum Computer zurück. Während dieser Zeit hörte ich die Stimme meiner Frau: “Hallo Liebling, ich hoffe, du hast gut geschlafen. Leider komme ich heute Abend erst spät nach Hause. Lass dir doch etwas zu Essen kommen oder taue dir etwas aus dem Gefrierschrank auf. Du brauchst nicht auf mich zu warten.”
“Du brauchst nicht auf mich zu warten!” wiederholte ich leicht gesäuert. Auf wen dann? Vielleicht auf die lieben Kinderlein, die bald aus der Schule kommen würden, oder auf meine Hausfreundin, die geradezu scharf auf eine sturmfreie Bude ist? Franziska hatte offenbar noch nicht mitbekommen, dass ich ans Haus gefesselt war und mir die Decke auf den Kopf fiel. Dachte sie im Ernst, dass sie mir mit dem Kauf eines Computers das alles zurückgeben konnte, was ich durch den Unfall verloren hatte?
Ich war enttäuscht und resigniert zugleich, denn ich fühlte mich von ihr alleine gelassen. Ich hatte erwartet, dass sie sich wenigstens bei mir entschuldigen würde, für ihr gestriges Verhalten. Aber sie klang so, als wäre nichts zwischen uns vorgefallen. Sie schien sich keine Gedanken darüber gemacht zu haben, mit welcher Wucht sie mich mit ein paar Worten in der vergangenen Nacht getroffen hatte. Wer weiß, vielleicht war das Ganze durch den erhöhten Alkoholspiegel auch einfach spurlos an ihr vorübergegangen. Aber wenn dem so gewesen wäre, hätte sie sich zumindest heute Morgen fragen müssen, weshalb ich nicht neben ihr im Bett lag, sondern auf der Couch im Wohnzimmer, ein Umstand, der ihr aufgefallen sein musste, weil es noch nie zuvor dazu gekommen war. In diesem Moment hätte ich zu gerne gewusst, was in ihrem hübschen Kopf vor sich ging.
Um mich ein wenig abzulenken, begab ich mich per Mausklick ins Internet und schaute nach, welche neuen Kunstwerke zu ersteigern waren. Ich wusste gar nicht, wie viel Schrott es auf der Welt gab und mit welcher Selbstverständlichkeit dieser zum Teil für viel zu viel Geld den Besitzer wechselte. Aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich streiten. Eigentlich hätte ich meine Zeit auch sinnvoller verbringen können, aber es hatte doch einen gewissen Reiz, die Bilder der Reihe nach durchzuklicken und sich seinen Teil zu denken. Im Laufe der Jahre hatte ich mir genügend Wissen angeeignet, was die verschiedenen Stilrichtungen anging, und ich wusste den tatsächlichen Wert eines Kunstwerks sehr wohl einzuschätzen, sodass ich, den Bildschirm fixierend, manchmal aus dem Staunen nicht herauskam.
Muss ein echter Koller tatsächlich für lächerliche 10,51 Euro über den virtuellen Ladentisch gereicht werden? Ich war einigermaßen verwundert, dass sich nur ein einziger Interessent für eines seiner Frühwerke gefunden hatte. Vielleicht hätte ich wenigstens zur Ehrenrettung des Künstlers 200 Euro bieten sollen. Aber dafür war es nun ohnehin zu spät. Ich begab mich auf die letzte Angebotsseite und klickte mich von hinten nach vorn, um nach einer gewissen Zeit wieder da anzukommen, wo ich gestern aufgehört hatte. Es waren sage und schreibe 35 neue Bilder ins Netz gestellt worden. Als ich das siebte Bild öffnete, traute ich meinen Augen nicht. Es handelte sich um ein Original, das ich vor ein paar Jahren bei einer Kunstauktion ersteigern wollte, es dann aber doch nicht bekam, weil ich mir ein Limit von 1.800 Euro gesetzt hatte. Es ging damals für läppische 190 Euro mehr weg und ich weiß noch, dass ich mich kurz danach erstmals richtig geärgert hatte, nicht weiter mitgegangen zu sein. Es stammte von einer relativ unbekannten Künstlerin, die durch innere Bilder inspiriert malte und dabei dem Betrachter die Möglichkeit gab, eigene Welten zu betreten, die sonst verschlossen bleiben. Ich weiß noch, dass ich die Künstlerin ein paar Wochen später persönlich besucht und mir ein anderes Bild von ihr gekauft hatte. Dieses gefiel mir zwar auch ausgesprochen gut und sprach mich an, aber es war trotzdem kein Vergleich zu dem, das damals auf der Auktion versteigert wurde.
Sollte ich nun, etwa drei Jahre später, tatsächlich die Gelegenheit bekommen, das Versäumte nachzuholen und dieses Traumbild übers Internet zu erwerben? Ich konnte es kaum fassen, spürte aber, wie sich meine Stimmung ins Positive veränderte. Die Beschreibung war kurz und knapp und ließ darauf schließen, dass sich der Verkäufer nicht viel Mühe gab, für das Bild möglichst viel Geld herauszuschlagen. Vielleicht war der- oder diejenige aber auch sicher, dass sich genügend Insider um Die Hingabe bemühen würden. Mit lächerlichen zehn Euro sollte die Auktion beginnen, und bisher hatte sich noch keiner zu einem Gebot entschließen können. Ich klickte auf Artikel beobachten und schaute mir das nächste Bild an. Allerdings muss ich zugeben, dass ich dies nur noch halbherzig tat, denn meine Gedanken kreisten um das soeben wieder entdeckte Kunstwerk und ich fragte mich, warum ich den Kontakt zu der Künstlerin nicht weiter gepflegt hatte.
Sie war eine äußerst interessante Frau und schien durch ihre Arbeit in sich zu ruhen. Als ich mich mit ihr über ihre Bilder unterhielt, eröffnete sich mir eine ganz neue Welt und mir wurde klar, dass sie durch das Malen mehr von sich preisgab als es andere in einem persönlichen Gespräch zu tun vermochten. Sie hatte ihre inneren Mauern niedergerissen und damit ihre Seele für andere sichtbar gemacht. Dass sie sich dadurch auch verletzbar machte, störte sie weniger. Wer so malte wie sie, brauchte keine Worte und keinen Verstand, der immer darauf erpicht war, ein Scheinbild aufrechtzuerhalten. Als mir das bewusst wurde, erschien mir die Sprache im Gegensatz zur Malerei eher wie ein künstliches Produkt, obgleich ich eingestehen musste, dass man durch sie konkretere Sachverhalte wesentlich einfacher schildern konnte. Die Begegnung mit dieser außergewöhnlichen Künstlerin war nicht spurlos an mir vorübergegangen und ich musste oft an sie denken, wenn ich das Bild von ihr betrachtete, das über meinem Schreibtisch hing.
Im Moment kam ich nicht dorthin, weil ich es vermied, die schmale Wendeltreppe im Wohnzimmer nach oben zu steigen. Ich war nicht darauf angewiesen, das Klettern zu üben, weil mir meine Frau alle notwendigen Dinge einschließlich den Ordnern für die Steuer, heruntergebracht hatte. Doch nun reizte es mich, wieder mein Reich im ersten Stock zu betreten, auch wenn es eine größere Kraftanstrengung bedeutete. Zielstrebig humpelte ich zur Treppe und nahm meine Krücke in die linke Hand. Mit der rechten zog ich mich Stück für Stück am Geländer hoch. Ich merkte, wie sehr mein Körper angespannt war und brauchte eine Ewigkeit, bis ich endlich die Galerie erreicht hatte.
Mein Herz klopfte, aber nicht nur, weil mich dieser Ausflug viel Kraft gekostet hatte, sondern auch weil ich nicht wusste, was mich hinter dem breiten Bücherregal erwarten würde. Schließlich war ich über Monate nicht mehr hier gewesen und meine Frau hatte durch ihre Umräumaktion sicher einiges durcheinander gebracht. Als ich den hellen Raum betrat, fiel mein Blick sofort auf das Bild über dem Schreibtisch. Es hing unberührt an seinem Platz und strahlte die Ruhe aus, die ich immer so genossen hatte. Ich war erleichtert, obwohl ich mich fragte, was ich denn anderes erwartet hätte. Sicher, der Schreibtisch war das krasse Gegenteil und ich schluckte als ich mir überlegte, wie viele Stunden ich zum Aufräumen brauchte, aber ich war trotzdem guter Dinge. Während ich noch überlegte, ob ich mich jetzt gleich über das Papierchaos hermachen sollte, klingelte das Telefon. Natürlich lag es wieder dort, wo ich es nicht erreichen konnte. Warum hatte ich nicht daran gedacht, es einfach mitzunehmen?
Nach einer Weile schaltete sich wieder der Anrufbeantworter an. Sollte Franziska ruhig ein zweites Mal draufsprechen. Ich war jetzt eben nicht da, fertig. Aber nun probierte Markus, mich zu er-reichen. Er wollte wissen, wie es mir ginge und ob er irgendetwas für mich tun könne. “Nein, lass mich einfach in Ruhe und komme nicht noch einmal auf die Idee, mir meinen Geburtstag zu versauen”, rief ich nach unten, in der Gewissheit, meinen Frust losgeworden zu sein, ohne dass Markus mich hören konnte. Ich merkte, wie geschafft ich war und ich beschloss, mich erst einmal auf meine Couch zu legen, die einladend im Raum stand. Ich hatte sie bewusst nicht direkt an die Außenwand gestellt, weil ich keine Lust darauf verspürte, mir den Kopf am schrägen Glasdach anzudonnern. Abgesehen davon wirkt es großzügiger, wenn Möbelstücke locker im Raum angeordnet sind und nicht an den Wänden kleben.
Kaum hatte ich die dünne Baumwolldecke über mich gelegt, klingelte das Telefon erneut. Dieses Mal erkundigte sich meine Frau nach meinem Befinden und fragte, ob ich den Anrufbeantworter schon abgehörte hätte. Machte sie sich etwa Sorgen, weil ich mich noch nicht bei ihr gemeldet hatte? Oder war es das schlechte Gewissen, was sie dazu trieb, doch mal etwas von sich hören zu lassen? Meinetwegen sollte sie auch noch eine Weile etwas davon haben. Ich freute mich sogar ein bisschen, dass ich das Telefon unten vergessen hatte. Auf dieses Weise brauchte ich mich jetzt nicht mit meiner Frau auseinanderzusetzen und konnte einfach schlafen, was ich dringend nötig hatte und auch tat.
Ich weiß nicht mehr, was ich im Einzelnen träumte, aber an eine Szene kann ich mich noch gut erinnern. Unser Wohnzimmer war voller Menschen, die ich alle nicht kannte. Sie hatten maskenhafte Gesichter und trugen weiße Handschuhe, mit denen sie immer wieder ein Bild von der Wand nahmen, um es anschließend wieder an einen anderen Platz zu hängen. Sie brachten mich ganz durcheinander und mir wurde erst später klar, dass sie mich nur ablenken wollten, denn als sie sich von mir verabschiedet hatten und ich alles wieder rückgängig machen wollte, fehlte ein einziges Bild – ausgerechnet das über meinem Schreibtisch.
Als ich aufwachte, hörte ich Stimmen und erschrak. Nein, ich träumte nicht, im Wohnzimmer unterhielten sich zwei Menschen miteinander und ich erkannte sofort, um welche Personen es sich handelte. “Aber irgendwo muss er doch sein.” “Vielleicht wollte er einfach nur ein wenig an die frische Luft. Kann man ihm nicht verdenken, wenn er immer nur im Haus hockt. Ich würde unter solchen Umständen wahrscheinlich verrückt werden.” “Aber er ist doch gar nicht fähig dazu, eine längere Strecke zurückzulegen ohne fremde Hilfe.” Als ich richtig zu mir gekommen war wollte mich sofort bemerkbar machen, nach dem Motto Macht euch keine Sorgen, der alte Krüppel hat sich nur ein bisschen aufs Ohr gelegt, aber eine innere Stimme hielt mich zurück und ich verhielt mich still. Mal sehen, ob sie mich hier oben finden, dachte ich. Wenn man mir noch nicht einmal einen Spaziergang zutraute, würde man wohl kaum in meinem Arbeitszimmer nach mir suchen. Besonders schlau waren die beiden nicht. Ich musste schmunzeln, ein wenig Sorgen sollte sich meine Frau ruhig machen, das konnte nicht schaden.
Allerdings war es eher Markus, der sich Sorgen machte. “Sollen wir die Polizei rufen?” Ich lauschte gespannt, was nun kommen würde. “Nein, er muss wissen, was er tut. Wenn er meint, in der Gegend herumlaufen zu müssen, ohne mir Bescheid zu geben, soll er das machen. Er braucht nicht zu glauben, dass ich ihm hinterherlaufe, wie einem kleinen Kind. Er ist alt genug, um für sich zu sorgen.” Ich hatte mit vielem gerechnet, nur nicht mit einer solchen Antwort. Wie erstarrt lag ich da, unfähig mich zu rühren. “Und was ist, wenn er nach hinten raus in den Wald gegangen ist und ihm dort etwas zustößt”, bohrte Markus weiter. “Herr Gott noch mal, dann kann ich es auch nicht ändern. Die Rentenversicherung wird in die Hände klatschen und die Lebensversicherung laut aufschreien. Des einen Freud, des anderen Leid, oder wie heißt es so schön?” Sie war gereizt und ihre Stimme klang kalt und fremd, während sie deutlich machte, wie wichtig ich ihr war.
“Franziska, jetzt sei doch mal vernünftig. Er kann doch nichts dafür, wenn er nicht mehr der Alte ist. Jörg hat verdammtes Glück gehabt, dass er überhaupt noch lebt. Sei froh, dass du an dem Tag nicht mitgefahren warst, sonst würdest du vielleicht schon irgendwo da oben schweben.” “Es fragt sich nur, wie er lebt?” Ich horchte auf. Hatte ich in den Augen meiner Frau an Wert verloren, nur weil meine Beine nicht so wollten wie ich? Von dieser Einstellung hatte ich am Sonntag nichts zu spüren bekommen, ganz im Gegenteil. Wir schliefen miteinander als hätte es nie eine Pause von mehreren Monaten zwischen diesem und dem Mal davor gegeben. Ich traute meinen Ohren nicht, lauschte aber weiter, um nichts zu verpassen. “Das wird schon wieder, glaube mir.” Markus war zwar nicht besonders überzeugend, aber um meine Ehrenrettung bemüht, was ich ihm hoch anrechnete. Als ich meine Frau weinen hörte, verstand ich gar nichts mehr. Warum hatte sie zunächst so hart reagiert, wenn sie nun Tränen vergoss. Ich spürte einen Kloß im Hals und überlegte, ob es nicht an der Zeit wäre, dem Versteckspiel endlich ein Ende zu bereiten. Aber mein Körper rührte sich keinen Millimeter und ich ließ ihn gewähren, auch wenn ich mir dadurch wie ein Verräter vorkam.
“Komm, wir werden ihn jetzt gemeinsam suchen. Vielleicht ist er bei der Krankengymnastin?” “Nein, die Praxis hat mittwochs geschlossen. Ich fahre jetzt zurück ins Studio. Du kannst ihn meinetwegen alleine suchen, wenn dir danach ist. Aber ich komme nicht mit; ich werde nicht noch einmal nach jemandem suchen, der krank ist. Das habe ich mir damals geschworen, und das weißt du auch genau. Also versuche nicht, mich umzustimmen. Es hat ohnehin keinen Zweck.” “Aber dies ist dein Mann, Franziska, und er hat dir nichts getan.” Mehr bekam ich von dem Zwiegespräch nicht mit, denn die beiden hatten das Wohnzimmer wieder verlassen und tauschten sich im Flur aus.
Ich hörte noch ein paar Wortfetzen, die jedoch keinen Zusammenhang mehr für mich ergaben; und dann fiel die Haustür ins Schloss. Ich war wieder alleine. Verwirrt stand ich auf, schleppte meinen Körper zur Treppe und fragte mich, ob es in meinem speziellen Fall nicht sinnvoller wäre, dem natürlichen Tod vorzugreifen. Aber ich entschied mich dagegen, allein schon deshalb, um dahinter zu kommen, welche Erinnerungen meine Frau davon abhielt, mich gemeinsam mit Markus zu suchen.
Franziskas Stimme klang noch lange in mir nach und es gab keine Erklärung für mich, weshalb sie plötzlich so kalt und unbeteiligt geworden war. Vielleicht wäre mir der sonst so weiche und verführerische Tonfall weniger hart erschienen, wenn ich Franziskas Gesicht vor mir gesehen hätte, aber dazu hätte ich mein Versteck preisgeben müssen. Während ich mich langsam Stufe für Stufe nach unten arbeitete, meldete sich mein Magen zu Wort. Er schien der Einzige zu sein, an dem die vergangenen zehn Minuten spurlos vorübergegangen waren, was mich überraschte. Und was sollte ich essen? Im Krankenhaus hatte ich mich um solche grundsätzlichen Dinge nicht kümmern müssen, woran man sich schnell gewöhnt, selbst wenn das, was letztlich auf dem Teller liegt, die Herkunft aus einer Großküche nicht verleugnen kann. Vor meinem Unfall nahm ich mittags höchstens einen Salat oder Obst zu mir, denn Franziska und ich aßen am Abend eine warme Mahlzeit, aber heute war ich unabhängig von ihr und beschloss, mir endlich mal wieder selber etwas zu kochen. Eine nützliche Tätigkeit, die mich vielleicht auch ein wenig ablenken konnte, selbst wenn ich einige Sitzpausen einlegen musste.
Früher hatte ich relativ viel gekocht, vermutlich, um meine Mutter zu entlasten. Obwohl sie doch eigentlich hätte froh sein können, diesbezüglich bald einen Profi in der Familie zu haben, hielt sie mich davon ab, die Schule nach der elften Klasse für eine Kochlehre abzubrechen. Sie wollte, dass ich vor allem finanziell später besser als sie dastehen sollte und köderte mich letztlich mit dem Argument, als Koch schlechte Arbeitszeiten hinnehmen zu müssen, womit sie Recht hatte. Nach dem Abitur fing ich an, Pharmazie zu studieren. Bereits im dritten Semester absolvierte ich ein Apotheken-Praktikum, in dem ich mit einem interessanten Pharmavertreter zusammenkam. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nie mit dem Gedanken gespielt, für Pharmaunternehmen durch die Gegend zu fahren und ihre Produkte anzupreisen. Diese Berufssparte war für mich quasi nicht existent, aber das änderte sich schnell. Schon nach einigen Gesprächen mit Jochen Vogel wusste ich, was ich wollte und bewarb mich bei verschiedenen Unternehmen. Ich musste ein so sicheres Auftreten an den Tag gelegt haben, dass ich kurze Zeit später eingestellt wurde. Nach der Probezeit, die ich erfolgreich bestanden hatte, hängte ich mein Studium gänzlich an den Nagel. Die neue Aufgabe erfüllte mich und ich strengte mich über Gebühr an, was sich finanziell schnell bemerkbar machte. Bereits nach einem Jahr verdiente ich so viel, wie andere oft erst nach drei oder vier Jahren. Offensichtlich war ich der geborene Vertreter.
Was mein Privatleben anbelangt, kann ich nur sagen, dass es mindestens genauso abwechslungsreich war, wie mein Job. Ich flirtete gerne und nahm das eine oder andere Angebot, etwas mehr bekommen zu können, gerne wahr. Das Leben war voller Überraschungen und ich wollte es in vollen Zügen genießen. Den Wunsch nach einer festen Beziehung verspürte ich nicht, ebenso wenig nach einer Familie. Für mich bedeuteten diese Begriffe nichts Erstrebenswertes.
So hätte es noch Jahre weitergehen können, wenn ich nicht Franziska begegnet wäre. Sie verhielt sich ganz anders als ich es bisher von gutaussehenden und selbstbewussten Frauen gewohnt war. Sie ließ sich von Komplimenten, so schien es zumindest, in keiner Weise beeindrucken und signalisierte trotz ihrer offenen Art, dass sie nur bis zu einem bestimmten Punkt zu gehen bereit war. Das reizte mich nur noch mehr und je länger sie mich zappeln ließ, umso größer wurde mein Verlangen nach ihr. Sie liebte ihren Job als Fotografin und wer zu ihr kam, wurde Mittel zum Zweck. Sie verstand es, jeden seinem Typ entsprechend in Szene zu setzen, mochte er noch so schüchtern sein. Genau das faszinierte mich an ihr. Ein Jahr später waren wir verheiratet und ich hatte nie wieder das Bedürfnis gehabt, mit einer anderen Frau zu schlafen, obwohl ich die Angebote dazu nach wie vor auf dem silbernen Tablett serviert bekam.
Bis heute war ich davon ausgegangen, dass sie genauso glücklich war wie ich und keinen anderen Partner begehrte? Nun kam es mir reichlich naiv vor, mein eigenes Empfinden wie selbstverständlich auf Franziska zu übertragen. Sie war ein anderer Mensch, eine andere Persönlichkeit und wir hatten über dieses Thema nie gesprochen. Warum eigentlich nicht? Worüber hatten wir uns denn ausgetauscht? Was machte unsere Beziehung aus? Gut, wir schliefen leidenschaftlich miteinander und erzählten uns gegenseitig alltägliche Begebenheiten, die wir mit unseren Kunden erlebt hatten. Aber das konnte doch nicht alles sein. Was wusste ich noch über meine Frau, über ihr Leben, abgesehen von ihrem beruflichen Talent und ihrer äußeren Erscheinung?
Während ich noch darüber nachdachte, ob wir eine oberflächliche Ehe führten oder nicht, suchte ich nach etwas Essbarem oder sagen wir besser, nach Grundnahrungsmitteln. Ich hatte Lust auf ein Kartoffelgratin, obwohl mir klar war, dass die Zubereitung noch eine Weile dauern würde. Aber daran sollte es nicht scheitern. Ich hatte alle Zeit der Welt und konnte mich auch noch später oder morgen um die Steuererklärung kümmern. Der Gedanke, dass ich mich bei meiner Frau hätte melden können oder bei Markus, kam mir nicht in den Sinn.
Das Ergebnis meiner Kartoffelsuchaktion war mehr als dürftig. Außer Reis, Mehl und Zucker, drei Packungen Nudeln, ein paar Gewürzen und einer Tüte Gummibärchen sowie zwei Packungen Müsliriegel fand ich keine Vorräte in den Küchenschränken. Der Kühlschrank war angefüllt mit Trinkjoghurts und anderen Fertigprodukten, die das Essen zwischendurch zu einem Kinderspiel machten. Außerdem standen noch ein Becher Sahne und zwei Flaschen Sekt in der Tür, wobei die eine bereits geöffnet war und mich an den vergangenen Abend erinnerte.
Zugegeben, ich war etwas enttäuscht von der mageren Auswahl, aber hatte ich denn etwas anderes erwartet? Seit Jahren gingen wir abends Essen, weil wir keine Lust hatten, unsere gemeinsame Zeit damit zu verbringen, die Küche nach dem Kochen wieder in den Schöner-Wohnen-Zustand zu versetzen. Wenn wir nicht mehr aus dem Haus gehen wollten, gab es genügend Gerichte aus dem Gefrierschrank, die sich in kürzester Zeit in der Mikrowelle auftauen und zubereiten ließen, oder wir bestellten uns etwas vom Chinesen, Italiener oder Griechen.
Mein Blick fiel auf die Magnettafel neben der Tür. Dort fanden Hungrige die Telefonnummern sämtlicher Restaurants, die in unserer Umgebung einen Lieferservice anboten. Die Auswahl war beachtlich, aber lockte mich heute nicht im Geringsten. Ich wollte endlich mal wieder selber etwas kochen, bei dem ich bestimmen konnte, ob und wenn ja, welche Geschmacksverstärker verwendet wurden.
“Du bist hier?” Ich musste so in Gedanken gewesen sein, dass ich Markus nicht bemerkt hatte, der plötzlich im Türrahmen stand und mich ungläubig ansah. Ich war nicht weniger überrascht, fing mich aber schnell wieder und antwortete ihm geistesgegenwärtig, dass ich hier wohne, falls er es noch nicht bemerkt haben sollte. Sein Gesicht lief leicht rot an. Ihm musste erst in diesem Moment bewusst geworden sein, dass er derjenige war, der sich in eine peinliche Situation manövriert hatte und nicht ich. Da die Suche nach den Kartoffeln ziemlich anstrengend gewesen war, nutzte ich den Überraschungsbesuch von Markus, um eine kleine Pause einzulegen. Es konnte nur gesundheitsfördernd sein, sich ein wenig hinzusetzen und die Beine zu entlasten. Die Krücken stellte ich griffbereit neben mich. “Setz dich doch!” Ich deutete auf den Stuhl, der an der anderen Seite des Tisches stand. “Willst du auch einen Kaffee?” Zögernd nahm Markus die Aufforderung an. Ihm war mein Blick auf seinen Schlüsselbund nicht entgangen, und er steckte ihn eilig in seine Hosentasche, als wollte er damit deutlich machen, dass er sich mit einem anderen Schlüssel Zugang zu unserem Haus verschafft hatte. “Franziska hat mich gebeten, mal nach dem Rechten zu sehen”, sagte er hastig, “sie macht sich Sorgen, weil du nicht ans Telefon gegangen bist und auch nicht zurückgerufen hast. Aber zum Glück ist alles in Ordnung. Dann kann ich ihr ja den Schlüssel zurückbringen.”
Gar nichts war in Ordnung. Er hatte mich soeben angelogen, denn er brauchte keinen Schlüssel zurückzubringen, weil er selber einen zu unserem Haus besaß. Daran gab es für mich keinen Zweifel, auch wenn ich nicht wusste, wozu er ihn brauchte. Außerdem fand ich es merkwürdig, dass er mit keiner Silbe die gemeinsame Suchaktion mit Franziska erwähnt hatte; aber ich sagte nichts weiter dazu. Während wir unseren Kaffee tranken und ein wenig über die gelungene Geburtstagsüberraschung am Vorabend sprachen, bemerkte ich, wie er immer nervöser wurde. So kannte ich ihn nicht. Er wirkte üblicherweise ausgeglichen und ruhig, war zu Frauen gleichermaßen wie zu Männern stets galant, aber nie aufdringlich und konnte stundenlang interessante Unterhaltungen führen. Jetzt machte er auf mich einen gehetzten Eindruck. Hatte er Angst, dass ich noch einmal auf das Thema Hausschlüssel zurückkommen würde, immerhin musste er ihn irgendwann einmal von meiner Frau bekommen haben? Es fragte sich nur, warum? Und ich spürte, dass die Konstanten in meinem Leben plötzlich mächtig ins Schwanken gerieten.
War Markus Franziskas Liebhaber? Ich konnte oder wollte es mir nicht vorstellen. Ich wusste, dass sie sich sehr gut mit ihm verstand, aber ich hatte immer den Eindruck gehabt, die Zuneigung der beiden wäre rein freundschaftlicher Natur. Franziska kannte Markus schon bevor wir uns zum ersten Mal begegneten. Sie stellte ihn mir einmal in ihrem Studio als ihren besten Freund vor. Deshalb hatte sie ihn bei unserer Hochzeit auch als Trauzeugen ausgewählt. Wo sie sich kennen gelernt hatten, wusste ich nicht, ebenso wenig, wie lange diese Freundschaft schon bestand. Langsam fragte ich mich, wieso ich eine Frau liebte, von der ich so gut wie nichts wusste.
Natürlich hatte Franziska eine Vergangenheit. Sie lebte schließlich schon 34 Jahre auf dieser Welt, bevor wir uns kennen lernten. Und während dieser Zeit hatte sie mit Sicherheit nicht nur auf die Auslöser ihrer diversen Kameras gedrückt, sondern auch die verschiedensten Beziehungen und Enttäuschungen erlebt. Jedenfalls war sie keine Jungfrau mehr, als wir das erste Mal miteinander schliefen. Ich möchte sogar behaupten, dass ich es damals mit einer ausgesprochen erfahrenen Person, was diese Geschichten betraf, zu tun hatte. Sie verstand es, mich immer wieder an den Rand des Wahnsinns zu treiben, indem sie mir zunächst das Gefühl gab, dass ich alles im Griff hatte, mich wenig später jedoch mit kleinen taktischen Spielchen in die Defensive drängte. Bei anderen Frauen hatte ich mir immer eingebildet, selber die Länge der Ouvertüre und der darauf folgenden Sinfonie zu bestimmen und dabei den Takt anzugeben; bei Franziska war das nicht möglich, was mir auch noch gefiel. Sie gab letztlich das Tempo vor und hielt immer wieder neue Überraschungen für mich bereit, was mich gewissermaßen süchtig nach ihr und ihrem verführerischen Körper machte.
Markus schaute auf die Uhr und meinte bedauernd, dass er jetzt gehen müsse, weil er noch einen wichtigen Termin hätte und schon sehr knapp dran wäre. Ich glaubte ihm kein Wort, aber ich ließ mir nichts anmerken und nutzte die Gunst der Stunde. “Dann lasse mir ruhig Franziskas Hausschlüssel hier. Du brauchst nicht bei ihr vorbeizufahren. Ich werde sie anrufen und ihr sagen, dass es mir gut geht, und wenn sie kommt, mache ich ihr selber auf. Das schaffe ich schon.” Markus schaute mich etwas gequält an und man konnte förmlich spüren, wie seine grauen Zellen arbeiteten. Da der einzige Schlüssel, den er von unserem Haus besaß, der war, der an seinem Schlüsselbund hing, musste er sich irgendetwas ausdenken, um ihn mir nicht aushändigen zu müssen. Endlich war ihm ein schlagendes Argument eingefallen. “Und was ist, wenn du ohnmächtig wirst oder deine Krücken verlierst? Nee, lass mal, ich bringe ihn doch lieber zurück. Sicher ist sicher.” Um jede weitere Diskussion zu vermeiden, verabschiedete er sich so schnell wie es die Höflichkeit erlaubte, und ging.
Kaum hatte er das Haus verlassen, humpelte ich zum Telefon und rief im Studio an. Es war besetzt und ich ahnte, dass Markus mir mit seinem Handy zuvor gekommen war und Franziska gerade von seinem unangenehmen Zusammentreffen erzählte. Trotzdem probierte ich es weiterhin, bis ich durchkam. Allerdings meldete sich am anderen Ende nach mehrmaligem Klingeln nur der Anrufbeantworter und nicht meine Frau. Normalerweise hatte das nichts zu bedeuten, weil sie häufig nicht ans Telefon ging, wenn sie zum Beispiel gerade ein Beratungsgespräch hatte oder eine Portraitserie aufnahm. Aber dieses Mal konnte es genauso möglich sein, dass sie durch Markus vorgewarnt war und es vorzog, dem Gespräch mit mir auf elegante Art und Weise aus dem Weg zu gehen. Nachdem ich um einen Rückruf gebeten hatte, probierte ich es auf ihrem Handy, aber auch hier Fehlanzeige. Ich legte auf und schleppte mich erneut in die Küche. Mir war zwar die Lust zum Kochen vergangen, aber Hunger hatte ich zugegebenermaßen trotzdem.