Читать книгу Naturrituale zur Lebensbegleitung - Marlies Bader - Страница 6
ОглавлениеDieses Buch ist vier Orten gewidmet:
Dem Fluss namens Ammer, der meine Wurzel ist.
Der Gärtnerei »Blumenschule« in Schongau, bei der alles begann und die mich begleitet.
Dem Waldgrundstück namens »Baderberg«, das ich seit Jahren hüten darf.
Der Gärtnerei Artemisia, bei der ich immer wieder zu Gast sein darf und wo ich mich verfeinern durfte.
Einleitung
Ich gehe vornweg und bin der Kopf der Schlange aus Menschen, Sabine am Ende der Reihe ist der Schwanz, die fünfzehn Frauen zwischen uns bilden den Körper. Die Gruppe hat ein Seminar gebucht, in dem es um Naturrituale und Räucherpflanzen geht. Sabine von der Gärtnerei »Blumenschule« und ich leiten den Kurs. Wir alle haben uns oben auf dem Parkplatz mit der Absicht getroffen, zum Fluss hinabzusteigen und auf der anderen Flussseite am Drachenfelsen ein Ritual zu gestalten. Und so zogen wir los, alle in einer Reihe.
Den Weg kenne ich wie meine Westentasche, schon als Kind bin ich barfuß den schmalen Pfad durch den Wald runter zum Fluss gelaufen. Vorbei an Polstern aus blau blühendem Immergrün, weißen Buschwindröschen und leuchtend blauen Leberblümchen, hin zur sprudelnden Quelle. Deren Wasserlauf überqueren und dem Pfad weiter bergab folgen zur dunklen Weggabelung, wo die Tollkirschen dicht an dicht stehen. Durch die Dunkelheit hindurch, den Pfad nach unten nehmen. Bei der Biegung, bei der der Weg um die große Buche herumführt, aufpassen! Ja nicht auf ihre Wurzeln treten! Schon bei unserer ersten Begegnung in meiner Kindheit hatte die Buche mir mitgeteilt, dass sie es nicht ausstehen kann, wenn die Wanderer ihr auf die Wurzeln treten. Immer wieder, bis heute, teilt die Buche mir dies mürrisch mit. Dann weiter, ein Stück unterhalb, auf der rechten Seite des Weges, kommt eine meiner Lieblingsstellen: die »Elfentreppe«, wie ich den Platz für mich nenne. Eine mit grünem Moos überwucherte natürliche Tuffsteintreppe, über deren Arkaden Quellwasser fließt. Über Jahrtausende haben sich aus dem Kalk des Wassers Treppen aus Tuffstein geformt. Wie Kristalle funkeln Wassertropfen in dem durchtränkten Moos, das über den Steinen liegt. Im stillen Betrachten dieses Ortes, wenn man ihn ganz in sich hineinsinken lässt, kann man die domartige Kuppel aus flimmernder Luft über den moosgrünen Stufen wahrnehmen. Eine Nymphenspielwiese, an der selbst erwachsene Augen staunend wirklich zu sehen beginnen. In der Ruhe und der Leichtigkeit des Ortes möchte ich verweilen. Mich wieder aufzuraffen, um weiterzugehen, fällt mir jedes Mal schwer.
Schon bald nach der »Elfentreppe« kommt dann der erste Blick auf den Fluss, der wild und ungebremst dahinfließt. Er kommt von Süden, von den nicht weit entfernten Bergen und macht genau hier unten eine scharfe Kurve Richtung Osten, um dann dreißig Kilometer weiter nordöstlich in den großen See zu münden. Nun ist es nicht mehr weit zum Steg. Der Fluss, mein Herzensfluss, hat immer Ja gesagt, wenn ich allein oder mit einer kleinen Gruppe zu ihm kam, um in die »Anderswelt« einzutauchen. Für mich ist dieser Fluss ein mystischer Fluss, weiblich, wild und zumindest in diesem Abschnitt ungebremst.
Diesmal ist es anders. Diesmal können wir, Sabine, meine Kollegin und Freundin, und die Teilnehmerinnen des Seminars, die Schönheit der Gegend nicht sehen. Es ist spätabends, Neumond. Mit anderen Worten: Es ist stockdunkel. Dazu nieselt es leicht.
Gerade das macht den Reiz aus, zu gehen, schweigend, hintereinander, ohne sich zu berühren, auf einem Waldpfad bergab. Welche Sinne brauchen wir dafür? Wenn das Auge ruht, dann müssen andere Fühler ausgestreckt werden. Spüre ich meine Vorderfrau, meine Hinterfrau? Hat die Schlange aus tastenden Menschen ein Loch bekommen? Ist ihr Leib an einer Stelle dünn geworden, da eine Frau nicht nachkommt? Entfernungen verändern sich. Ich, die ich geglaubt habe, den Weg so gut zu kennen, kenne nichts mehr. Wie weit sind wir? Sind wir schon bei den ersten alten morschen Holzstufen angelangt, oder war der Widerstand, über den ich stolperte, eine der unzähligen Baumwurzeln, die sich knorpelig über den Weg ziehen? Als Schlangenkopf bin ich die Führung der Gruppe. Bin ich zu schnell, kommen die Menschen weiter hinten mit? Die einzige Möglichkeit, eine zusammenhängende Schlange zu bleiben, ist, im »Feld«, das heißt in Wahrnehmungsnähe der jeweiligen Vorderfrau und Hinterfrau zu sein. Solange man ihren Atem hört, ihre Wärme spürt, ihre Ausstrahlung empfindet, solange ist die Schlange ganz.
Dünne Äste streifen mein Gesicht, Schreck, ich muss den Weg verlassen haben! Aber wo ist er, rechts von mir oder links? Was bleibt, ist das vorsichtige Tasten mit dem Fuß. Wo fühlt sich der Boden glatter, begangener an? Um unsere selbstgestellte Aufgabe noch zu erschweren, gibt es einige eisglatte Flächen unter dem am Boden liegenden Laub. Das Eis ist dort in der Dunkelheit des Waldes noch nicht getaut. Nach einigen sehr unsicheren Momenten, in denen ich an meiner Orientierung und an unserem Vorhaben zweifle, erahne ich den Weg wieder unter mir. Es funktioniert, alle Sinne außer dem Sehsinn sind wach. Ich fange an, den Raum um mich her augenlos wahrzunehmen, gleichsam als ob meine Haut Fühler bekommen hätte. Ähnlich einer Katze, die mit ihrem Schnurrbart Engpässe erfühlt, erspüre ich die Bäume links und rechts von mir.
Dann sind wir am Wasser, so schnell ging das plötzlich. Das Stampfen unserer Schritte auf den Holzdielen der Brücke hört sich in der Stille der Nacht lustig an. Ein lebendiger Rhythmus, der der anderen Flussseite unsere Ankunft mitteilt. Nun ist es nicht mehr weit zum Drachenfels. Dort angekommen entzünden wir die mitgebrachten Fackeln. Wir begrüßen den Platz, den Felsen und bilden einen Kreis um ihn. Ich habe Geschenke mitgebracht: Mehl, um zu nähren, Kräuter zum Räuchern, um zu segnen. Nachdem die Geschenke dem Ort geweiht sind und wir uns ebenfalls abgeräuchert haben, bitte ich den Genius loci, den Geist des Ortes, um die Erlaubnis, für unsere Gruppe dort ein Ritual gestalten zu dürfen. Ich frage nach, ob etwas dagegenspricht, und horche genau hin, ob wir willkommen sind. Erst als ich sicher bin, dass wir wohlwollend aufgenommen sind, beginnen wir mit der Zeremonie.
Im Schein der Fackeln wirkt der Fels sehr lebendig, so als ob er sich bewegen würde. Er hat die Form einer auf den Hinterbeinen sitzenden Echse. Auf seinem Rücken, hinter seinem Kopf ist eine Mulde, die wie ein Sattel aussieht, dort platzieren wir eine Decke. Es ist ein alter Ort, ein mystischer Fels auf einem kraftvollen Platz. Der Ort ist lebendig. Wenn er erwacht, kann man Phytia, die Erdschlange, unter sich spüren, die sich vom Erdinneren hochwindet, um sich als Drachenkraft in die Lüfte zu erheben und zu fliegen. Erdenergien und Himmelenergien umtanzen sich hier spiralförmig. Sie durchdringen den Stein.
Seit Jahrhunderten kommen Menschen hierher, um Zeremonien durchzuführen, vor allem Frauen, denn er ist ein »Kindchenstein«, ein Fruchtbarkeitsfels. Auf ihm zu reiten, durch seine aufsteigende Energie einen Orgasmus zu erleben, verspricht Fruchtbarkeit, körperliche oder geistige. Ich muss an die Mythen der australischen Aborigines denken, in denen nach der körperlichen Befruchtung durch den Mann noch die geistige Befruchtung durch einen Kraftort erfolgen muss, damit ein Kind geboren werden kann. Im süddeutschen Raum, in der Schweiz und in Österreich gibt es zahlreiche Kindchensteine. Unsere Altvorderen, unsere vorchristlichen Ahnen, nahmen diese Plätze als Tor in die Anderswelt wahr. Von dort kamen die Kinderseelen, aber auch die Verstorbenen schlüpften durch diese Tore von der diesseitigen Welt zurück in die jenseitige. Kein Wunder, dass sich viele alte Mythen um diese Gegend mit den vielen alten Ritualplätzen ranken.
Während wir um den Felsen stehen, singen oder schweigen, frage ich die Frauen, ob sie sich zum Stein hingezogen und gerufen fühlen. Nur die Frauen, die diesen inneren Ruf hören, sind aufgefordert, den Drachenfelsen zu erklimmen, um sich von ihm emporheben zu lassen. Die anderen würden in der Zeit für die reitende Frau die Energie und den Raum halten. Nur eine der Frauen ersteigt den Felsen. Es folgt eine dichte und intensive Begegnung zwischen Raum, Fels und Frau.
Anschließend beenden wir das Ritual und bedanken uns beim Fels, dem Ort, den wohlwollenden geistigen Wesenheiten und den Himmelskräften. Auf dem Rückweg beleuchten die Fackeln in unserer Hand den vom leichten Nieselregen feuchten Weg. Die Frauen sind sehr erstaunt, als sie in deren Schein den holprigen Waldpfad sehen, auf dem sie zuvor in kompletter Dunkelheit hinuntergegangen waren. Kaum können sie glauben, dass dies möglich war!
Ein Jahr nach dem Seminar erhielten Sabine und ich einen Brief von jener Frau, die als Einzige den Felsen bestiegen hatte. Darin heißt es unter anderem: »Dieses intensive Wochenende hat bis zum heutigen Tag große Auswirkung auf mein Leben genommen! Also, an diesem besagten Samstag waren wir mit euch am Abend an diesem besonderen Drachenfelsen. Im Dunkeln und bei Regen sind wir da schweigend hinuntergegangen. Wir stellten uns im Kreis um den Stein und ihr habt gesagt, wer das innere Bedürfnis hat hochzuklettern, solle das tun. Ich war die Einzige, die auf den vom Regen glitschigen Felsen hochgeklettert ist. So viel Manneskraft habe ich in meinem Leben zuvor noch nicht gespürt … Schweigend und mit Fackeln sind wir den ganzen Weg zurückgegangen. Erst am nächsten Tag haben wir über das Erlebte gesprochen. Ich erzählte von mir, dass ich einen sehr starken Wunsch nach einem Kind verspüre. Da habt ihr gesagt, der Drachenfels sei ein ›Kindles-Stoa‹. Ich verstand erst gar nicht, was das bedeutet. Als ihr es mir dann erklärt habt, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass die erlebte Männerkraft am Felsen mit meinem Wunsch nach einem Kind zu tun hat.
Vielleicht haltet ihr mich für ein bisschen plemplem, aber ich bin überzeugt davon, dass genau an diesem Stein eine Menschenseele bei mir ›ange- klopft‹ hat. Nein, keine göttliche Empfängnis, aber vier Wochen später haben mein Partner und ich tatsächlich ein Kind gezeugt. Unsere Tochter wurde zu Hause geboren, ich lege euch ein Foto bei. Mich rührt das alles so, wie ein Puzzle haben sich die Ereignisse ineinander gefügt. Deshalb war es mir so ein großes Bedürfnis, euch diese Erfahrungen mitzuteilen .«
Es ist die Absicht dieses Buches, das Ritual als wunderbares, unterstützendes »Werkzeug« wieder stärker in das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Vor allem Rituale in der Natur und mithilfe der Pflanzen möchte ich Ihnen ans Herz legen und Ihnen einige Anregungen geben, diesen heilsamen Schatz für sich zu entdecken und zu nutzen. Seien Sie dabei kreativ und erfinderisch. Jeder Mensch macht seine Rituale in eigener Verantwortung, als mündige und selbstständige Person. Sie können sie nach den Grundlagen, die ich Ihnen im Folgenden vorstelle, frei für sich gestalten.
Rituale wirken, auch und vor allem in das Unterbewusste hinein. Deswegen spreche ich hiermit eine Warnung an labile oder seelisch kranke Menschen aus. Sie sollten jede Ritualarbeit ausschließlich mit ihrem professionellen Therapeuten gemeinsam machen. Dann kann sie ebenfalls heilsam und unterstützend sein.
Was ich Ihnen in den folgenden Kapiteln vorstelle, sind unterschiedliche Zugänge zur Kraft der Rituale. Immer bedienen sie sich der Qualitäten aus der Natur, der Kraft der Pflanzen beispielsweise, die zum Räuchern verwendet werden, oder der Plätze »draußen«, der reinigenden Kraft des Wassers in einem Fluss und vieles mehr. Andere Rituale werden zu Hause durchgeführt, nutzen dabei aber ebenfalls Pflanzenkräfte oder wecken innere Naturkräfte im Menschen. Gemeinsam ist den Vorschlägen hier ebenso wie den Beispielgeschichten, die ich erzählen möchte, dass sie vom großen Heilpotenzial der Zeremonien und Riten künden. Und so wünsche ich Ihnen viel Freude bei den unerschöpflichen Möglichkeiten, rituelle Heil- und Wandlungserfahrungen für sich und andere zu kreieren.