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Kapitel 8

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Die wärmenden Strahlen der Septembersonne hatten nochmals viele Menschen auf die Promenade und in die Gastgärten gelockt, und so waren die Bänke und Tische des »Wirtshaus am See« fast alle besetzt. Isabel und Timo hielten Ausschau nach einem freien Tisch. Kaum hatten sie Platz genommen, eilte schon eine Kellnerin in grünem Dirndl und Bluse mit großzügigem Oktoberfestausschnitt auf sie zu. Ihre braunen Haare ruhten, zu einem dicken Zopf geflochten, auf ihrer linken Brust. Sie baute ihre stattliche Erscheinung vor Timo auf, zückte erwartungsvoll Stift und Orderman und fragte mit gewinnendem Lächeln: »Was darf’s denn sein?«

Als sie nicht sofort eine Antwort erhielt, zwinkerte sie Timo zu und fügte keck an: »Da haben Sie sich aber eine schöne Frau ausgesucht.«

Augenblicklich zog in Timos Gesicht dunkelrote Farbe auf. Seine Augen begannen zu leuchten. Vollkommen perplex schaute er Isabel an und blickte dann zur Kellnerin auf. Er war viel zu verdattert, um auch nur einen Ton herausbringen zu können, und fuhr sich verlegen über seine Stoppelhaare. Zwar stotterte er ein paar Silben, doch keine der beiden Frauen konnte diese verstehen.

Isabel grinste und antwortete an seiner Stelle: »Ein Weizenbier, alkoholfrei, bitte.« Mit Blick auf Timo, der nun nickte, fügte sie hinzu: »Und für meinen Kollegen auch.«

Die Kellnerin bewegte ihren Stift über das kleine Display und schien kein bisschen verunsichert. Sie bestätigte, machte auf dem Absatz kehrt und eilte mit fliegenden Röcken zum Tresen.

Isabel raunte Timo zu: »Nimm das nicht so ernst, Timo. Den Spruch sagt sie bestimmt zu jedem. Dann freuen sich die Männer und geben großzügig Trinkgeld.«

Hüftschwingend näherte sich die Bedienung wieder und stellte zwei Krüge auf den Tisch. Gebannt starrte Timo auf die dunkle Ritze zwischen ihren Brüsten. Sie schenkte Timo einen weiteren Blick und wünschte mit samtiger Stimme: »Zum Wohl.«

Isabel registrierte belustigt das Geschehen, bedankte sich und beschloss, auf den angeschlagenen Ton einzusteigen. Sie schaute zu der Kellnerin auf und sagte: »Mit dieser Stimme sollten Sie beim Radio arbeiten.«

Schlagfertig antwortete die Angesprochene: »Das hab ich schon probiert, aber da wird man nicht braun bei der Arbeit!«

Ihre beiden Gäste grinsten. Timo beobachtete sie, als sie weitere Gäste bediente. Bald hatte er seine Sprache wiedergefunden und bekannte: »So redegewandt möchte ich mal sein. Prost, Isabel.«

»Prost, Timo«, sagte Isabel, und lächelnd fügte sie hinzu: »Bist du wieder im Lot?«

Timo fühlte sich ertappt. Das Rot in seinem Gesicht leuchtete erneut auf, doch er lächelte zurück.

»Vorhin, bei Markus’ Reaktion, blieb dir mal kurz die Spucke weg, stimmt’s?«, fragte Isabel.

»Ja, wenn der Markus auch anfängt, mich zu mobben, bin ich die längste Zeit hier gewesen. Das lass ich mir nicht noch mal gefallen, auch von ihm nicht!«, antwortete Timo in einem Ton, den Isabel noch nie von ihm gehört hatte.

Sie beruhigte ihn: »Timo, du weißt doch, der Markus ist sonst nicht so. Der ist gerade nur total gestresst und urlaubsreif. Er hat ja auch den ganzen Sommer über keinen Tag freinehmen können.«

»Wir auch nicht! Das gibt ihm nicht das Recht, mich so runterlaufen zu lassen.«

Isabel und Timo erhoben nochmals ihre Krüge. Drei lange Signaltöne drangen an ihre Ohren, und sie schauten zur »MS Baden« hinüber. Das älteste Fahrgastschiff der Weißen Flotte passierte gerade die Hafeneinfahrt und steuerte auf den Anlegesteg zu.

»Guck mal, wie viele Radfahrer und Touristen die »Baden« ausspuckt. Unglaublich, was in so einen Schiffsbauch alles reinpasst«, wunderte sich Isabel, während sie das bunte Völkchen beobachtete, das sich über die Gangway zum Steg schob. Ihre Blicke wanderten weiter zum Aussichtsturm nebenan. Die Strahlen der Abendsonne brachen sich an dem dunklen Stahlgerippe. Die Menschen, die die Treppen hoch- und herunterstiegen, wirkten auf die Entfernung winzig wie Ameisen ebenso wie die vielen Besucher, die von der Aussichtsplattform oben den Sonnenuntergang betrachten wollten.

Timo beobachtete an einem der Nebentische ein junges asiatisches Paar. Er gab Isabel ein Zeichen, und gemeinsam verfolgten sie amüsiert die Szene: Vor dem Paar standen zwei Teller mit Schweinshaxen und Sauerkraut, dazu zwei Maß Bier. Isabel schmunzelte, als die zierliche Frau den mächtigen Knochen aus der Hand legte und den Krug aus schwerem Steingut anheben wollte. Es gelang ihr nicht. Sie musste den Maßkrug mit beiden Händen umfassen, um ihn überhaupt zum Mund führen zu können.

Auch Timo griente, doch ihn beschäftigte mittlerweile etwas anderes: Er zerbrach sich den Kopf, wie er es anstellen könnte, Isabel zu einem Segelausflug auf dem Boot seiner Eltern zu gewinnen. Er wusste seit ihrem Törn im Sommer, dass Isabel genauso gut und auch genauso gern segelte wie er. Ob sie wohl nach allem, was vorgefallen war, noch genug Vertrauen zu ihm haben würde, um mitzukommen? Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte: »Isabel, mein Vater hat sich schon einen Kran­termin geben lassen, um sein Segelboot aus dem Wasser zu nehmen. Bevor die ›Xie‹ ins Winterlager kommt, könnten wir beide nochmals segeln gehen. Was meinst du? Hast du Lust?«

Isabel zögerte. Seit dem Unglück hatte sie außer dem Katamaran kein Boot mehr betreten, nicht einmal ein Polizeiboot. Was, wenn sie von einer weiteren Panikattacke überfallen würde? Auf Wasser reagierten ihr Körper und ihr Kopf nach wie vor unberechenbar. Auf jeden Fall müsste sie mit Lena die Situation vorher durchspielen. Mit Unterstützung der erfahrenen Psychotherapeutin würde sie sich eher auf schwankende Schiffsplanken trauen.

Timos Finger wanderten unruhig den Bierkrug auf und ab, während er auf Isabels Antwort wartete. Endlich sagte sie: »Grundsätzlich gern, du weißt, wie sehr ich segeln liebe, aber … und das hat nichts mit dir zu tun …«, sie machte eine Pause und ihr Blick wanderte auf die Wasserfläche, »ich hab’s seit dem Unglück nicht mehr so mit Booten. Ich war auch nicht mehr auf Bootsstreife. Das einzige Boot, auf das ich inzwischen einen Fuß gesetzt hab, ist der Katamaran.« Isabel sah die Enttäuschung in Timos Gesicht und fügte hinzu: »Wann ist denn der Termin?«

»In ein paar Wochen, hab gar nicht so richtig zugehört«, antwortete Timo, »um den 20. Oktober herum.«

»Dann haben wir ja noch etwas Zeit. Darf ich das kurzfristig entscheiden, wenn mal eine leichte Brise lockt so wie heute?«, fragte Isabel.

Erleichtert nickte Timo. »Klar! Sag’s mir dann eben. Ich hab nach Dienstschluss selten etwas vor. Wir können auch jederzeit abbrechen und in den Hafen zurückfahren, wenn’s dir nicht gutgeht.«

In diesem Moment vernahmen sie einen lauten, anhaltenden Schrei. Gleichzeitig mit den anderen Gästen und den Spaziergängern auf der Promenade wandten auch Isabel und Timo ihre Köpfe in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Sie sahen gerade noch, wie ein Mensch aus über 20 Metern vom Moleturm ins Wasser stürzte. Bei seinem Aufprall spritzte es meterhoch. Ein Raunen ging durch die Menschenmenge.

»Ach du Scheiße, ist der lebensmüde?«, schrie Timo. Zwei der massiven Holzbänke kippten krachend um, als Timo und Isabel gleichzeitig aufsprangen und auf die Mole hinausrannten. Dort angekommen, kämpften sie sich durch die Gaffenden zum Geländer vor und sahen den Körper eines Mannes, der nun mit dem Gesicht nach unten auf der Wasserfläche trieb. Ohne lange zu überlegen, drückte Timo Isabel sein Handy in die Hand, schwang sich über das Geländer und sprang ins Wasser.

Rund um den Turm war es nur wenige Meter tief. Isabel hielt die Luft an, fror und schwitzte gleichzeitig. Im Moment hätte sie es nicht über sich gebracht, in den See zu springen. Vielmehr stand sie wie angewurzelt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Es gelang ihr gerade noch, die Nummer 112 anzurufen. Dann krallte sie sich mit beiden Händen am Geländer fest, um nicht umzukippen.

Timo hatte inzwischen den Mann im Wasser erreicht, drehte ihn auf den Rücken und griff mit einem Arm um seinen Oberkörper. Suchend blickte er um sich, entdeckte aber rund um den Turm keine Möglichkeit, hochzuklettern. Dort wo Uferpromenade und Mole im rechten Winkel aufeinandertrafen, hatte sich eine kleine Sand- und Kiesbank gebildet. Es würde ihm nichts anderes übrigbleiben, er musste den Mann dorthin schleppen. Er griff fester zu und schwamm los. Dutzende von Schaulustigen, die sich am Geländer der Mole und entlang der Uferpromenade drängten, erwarteten die beiden, um das Geschehen aus nächster Nähe beobachten zu können. Unter Schubsen und Drängen richteten sie ihre Handys auf die beiden Männer. Keuchend kam Timo an und versuchte sofort, den Mann wiederzubeleben.

Isabel war ebenfalls zur Promenade zurückgeeilt. Sie schaute zu den beiden hinunter, traute sich aber nicht, über das Geländer zu steigen. Was sollte sie da unten auch tun? Sie atmete erleichtert auf, als sie das immer lauter werdende Martinshorn vernahm. Ein Rettungswagen näherte sich mit Blaulicht, gefolgt vom Wagen mit dem Notarzt. Zwei Rettungssanitäter stiegen aus. Isabel winkte ihnen zu und erklärte in knappen Worten, was vorgefallen war. Arzt und Sanitäter bahnten sich einen Weg durch die zwischenzeitlich beachtlich angewachsene Menschenmenge und schlüpften unter dem Geländer hindurch hinunter ans Ufer.

Einer der Sanitäter gab Timo ein Zeichen und setzte an seiner Stelle die Beatmung fort. Froh, die Hilfe den Fachleuten überlassen zu können, ließ sich Timo erschöpft an die Mauer sinken. Bereits wenige Minuten später konnte der Gerettete auf einer Liege abtransportiert werden. Sein Zustand war stabil, aber er hatte das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.

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