Читать книгу Magic Maila - Marliese Arold - Страница 6
ОглавлениеDie weiße Plastikfigur sah aus wie ein Produkt aus einem 3-D-Durcker. Wenn man eine Lupe zu Hilfe nahm, konnte man Luzians Gesichtszüge erkennen. Seine Miene war wutverzerrt. Ansonsten wirkte die Figur wie ein harmloses Kinderspielzeug. Ein zugegebenermaßen nicht sehr attraktives Männchen, das man in ein Puppenhaus oder auf ein Brettspiel setzen konnte. Einer der mächtigsten Magier war auf wenige Zentimeter Kunststoff zusammengeschrumpft.
»Luzian war zuletzt der Leiter unserer Schule«, sagte Maila. »Er nannte sich allerdings Lukas Blätterpilz. Außerdem behauptete er, für den Magischen Kontrolldienst zu arbeiten. Er kam sich deshalb ziemlich wichtig vor. Meine Oma hat ihm schließlich geglaubt.« Ihr wurde ganz heiß bei der Erinnerung. »Wenn der Magische Kontrolldienst erfährt, dass ich einen wichtigen Mitarbeiter in ein Stück Plastik verwandelt habe, dann … dann … Ich glaube, eine lebenslängliche Gefängnisstrafe reicht da gar nicht. Der MKD denkt sich sicher eine schlimmere Strafe für mich aus.« Sie begann, am ganzen Körper zu zittern.
»Jetzt mach dich mal nicht verrückt«, versuchte Ophelia sie zu beruhigen. »Du hast es ja nicht absichtlich getan. Außerdem hast du mich gerettet. Er hätte mich getötet – und selbst wenn er dann seinen Irrtum bemerkt hätte, wäre für mich jede Hilfe zu spät gekommen.«
Maila nickte langsam. Ophelia hatte in jedem Punkt recht. Aber würde der Magische Kontrolldienst das genauso sehen? Schließlich war da ja auch noch die Sache mit den ausgebüxten Maglings, die aus Versehen in die Menschenwelt geraten waren. Familie Espenlaub hatte schwer gegen die Gesetze verstoßen, und auch Ophelia Mondfink hatte sich schuldig gemacht, indem sie Robins Ohrenschwinger ausprobiert hatte in der Absicht, in die Menschenwelt zu gelangen. Es sah nicht gut für die beiden Mädchen aus …
Maila wünschte sich zum wiederholten Mal, dass Oma Luna bei ihr wäre. Sie und Ophelia konnten den Rat einer erfahrenen Hexe wahrhaftig gebrauchen. Maila musste ihrer Großmutter unbedingt eine Nachricht zukommen lassen.
»Ich werde meiner Oma ein Wiesel schicken«, murmelte sie. »Vielleicht weiß sie einen Rat oder kommt sogar hierher.«
Ophelias Gesicht hellte sich auf. »Oh ja, tu das!«
Maila stand auf, um Papier und Stift zu suchen. In der Küchenschublade wurde sie fündig. Sie setzte sich wieder an den Tisch und begann zu schreiben.
Liebe Oma Luna,
ich habe Ophelia gefunden, ihr geht es gut. Komm bitte in Tante Junas Haus, so schnell Du kannst. Ich brauche Dich DRINGEND!!!
Liebe Grüße
deine Maila
Maila rollte den Papierbogen zu einer Röhre zusammen und wickelte ein Band darum. Dann kritzelte sie etwas mühsam die Adresse auf die Außenseite.
Luna Espenlaub
Wünschelweg 7
Großhexenfurt
Jetzt musste sie nur noch ein Wiesel herbeirufen, das die Nachricht abholte und an ihre Oma überbrachte. Wiesel konnten problemlos die Grenze zwischen der Hexen- und der Menschenwelt passieren, deswegen benutzten die Hexen sie als Postboten.
Maila malte mit dem Finger einen Stern in die Luft und sprach dabei die Worte:
»Wiesel, Wiesel,
flink wie ein Ziesel,
komm bitte, bitte schnell heran,
weil mein Brief nicht warten kann.«
»Und das soll funktionieren?«, zweifelte Ophelia.
Maila nickte. »In spätestens einer halben Stunde wird der Brief abgeholt.« So hoffte sie wenigstens.
Die Mädchen warteten. Jede Minute wirkte unendlich. Immer wieder warf Maila einen Blick auf die Küchenuhr, aber die Zeiger schienen beinahe stillzustehen. Hatte Onkel Justus ihnen ein unangenehmes Andenken hinterlassen, indem er das Haus verhext hatte?
Schließlich war die halbe Stunde um. Zehn weitere Minuten vergingen, ohne dass ein Wiesel auftauchte.
»Vielleicht hast du den falschen Spruch aufgesagt«, vermutete Ophelia.
Maila wusste inzwischen auch nicht mehr, ob sie die richtigen Worte benutzt hatte. Unruhig lief sie von Fenster zu Fenster, in der Hoffnung, das Wiesel zu erspähen. Doch statt des Tiers sah sie nur den Nachbarn, Ferdinand Hagedorn, der in seinem Garten herumlief. Er verbrachte dort die meiste Zeit des Tages, denn fast immer gab es Unkraut zu jäten oder die Rosen hochzubinden, Blattläuse mit Brennnesselbrühe zu bekämpfen oder was auch immer. Außerdem betreute er mehrere Bienenvölker. Doch jetzt schlich Ferdinand Hagedorn mit grimmiger Miene und leicht geduckt zwischen den Bäumen umher. Maila biss sich auf die Lippe. Warum benahm er sich so merkwürdig? Das war doch sonst nicht seine Art! Maila hatte ihn als freundlichen, hilfsbereiten Menschen kennengelernt.
Plötzlich riss Ferdinand Hagedorn ein Luftgewehr hoch und feuerte durch den Garten. Maila zuckte so erschrocken zusammen, als wäre sie selbst von der kleinen Kugel getroffen worden.
»Dieses verdammte Wiesel!«, hörte sie den Nachbarn zornig brüllen. »Es ist mir wieder entwischt!«
Maila zögerte keine Sekunde, sondern lief durch die Terrassentür nach draußen und an die Hecke, die die beiden Grundstücke voneinander trennte.
»Sie dürfen nicht schießen!«, rief sie dem Nachbarn zu.
Ferdinand Hagedorn wandte den Kopf und erkannte Maila. »Ach, hallo, Maila!« Er lächelte ihr zu.
»Sie dürfen nicht schießen!«, wiederholte Maila mit Nachdruck.
Der Nachbar kam auf sie zu. »Keine Sorge, das Wiesel ist sowieso schon weg«, antwortete er. »Hoffentlich hat es einen ordentlichen Schrecken bekommen und sucht sich ein anderes Revier! Das freche Biest hat nämlich schon zweimal die Benzinleitung meines Autos angenagt.«
»Das … das war bestimmt ein anderes Wiesel«, meinte Maila.
»Und was macht dich da so sicher?«, wollte Ferdinand Hagedorn wissen.
Maila konnte ihm schlecht sagen, dass es sich um ein Postwiesel handelte, das sie mittels ihrer magischen Kräfte herbeigerufen hatte. Deswegen zuckte sie nur mit den Schultern und sah Ferdinand Hagedorn mit einem herzzerreißenden Blick an. Dieser Blick wirkte bei ihrem Vater und ihrem Großvater immer, wenn sie einen großen Wunsch hatte.
Ferdinand Hagedorn seufzte und stellte sein Gewehr zur Seite. »Na gut. Wahrscheinlich bist du eines dieser Mädchen, die jedes Tier beschützen und am liebsten mit ihm kuscheln wollen. Das Mauswiesel hat einen großen Schaden angerichtet, deswegen ist es auch zum Abschuss freigegeben. Aber ich verspreche dir, dass ich es nicht mehr jagen werde und stattdessen mein Auto immer in die Garage stelle. Bist du jetzt zufrieden?«
Maila nickte. »Danke«, wisperte sie.
»Wem gehört übrigens dieser Klepper, der bei euch im Garten herumläuft?«, fragte Ferdinand Hagedorn. »Hast du den auch vom Schlachter gerettet?«
Er meinte den Pegasus.
»Das … das Pferd gehört meiner Freundin«, log Maila. »Sie hat es nur mal hier abgestellt.«
»Pass auf, dass es keine giftigen Pflanzen aus eurem Garten frisst«, sagte der Nachbar. »Die meisten Pferde von heute haben keine natürlichen Instinkte mehr; leider muss dann der Tierarzt kommen, und das wird teuer.«
Maila nickte wieder automatisch, während sich Panik in ihr ausbreitete. Dass sich der Pegasus an irgendwelchen Pflanzen vergiftete, fehlte gerade noch. Aber schließlich war er ein magisches Geschöpf und kein gewöhnliches Pferd. Vielleicht funktionierten seine Instinkte noch.
»Na, dann noch einen schönen Tag«, murmelte Ferdinand Hagedorn und hob die Hand. »Und grüß mir deine Oma und deine Tante.«
»Mach ich, danke«, erwiderte Maila und ging ins Haus zurück.
Ophelia wartete schon auf sie. »Hat er das Wiesel erwischt?«
»Zum Glück nicht«, sagte Maila. »Aber es kommt jetzt bestimmt nicht mehr her, selbst wenn ich den Zauberspruch wiederhole.« Sie nagte an ihrer Lippe. Es war nötig, sich einen anderen Plan auszudenken, und zwar schnell. Ihr Blick fiel auf den Pegasus, der gerade bei den Apfelbäumen stand und einen Apfel nach dem anderen vom Baum zupfte.
»Traust du es dir zu, auf dem Rücken des Pegasus in die Hexenwelt zurückzufliegen?«, fragte Maila.
Ophelia riss die Augen auf. »Meinst du, das geht? Was passiert, wenn wir an die Grenze kommen? Ich kann doch nicht mit den Ohren wackeln!«
»Auf dem Herflug habe ich keine Grenze bemerkt«, erinnerte sich Maila. Sie hoffte inständig, dass der Pegasus auch auf dem Rückflug die Grenze zwischen den Welten ohne Schwierigkeiten passieren konnte. Sie mussten es einfach versuchen, denn Maila fiel kein anderer Weg ein. Und die Zeit drängte. Wer weiß, vielleicht wuchs in der weißen Plastikfigur schon eine unheimliche Macht, und Luzian Morchelstiel würde sich in seine wirkliche Gestalt zurückverwandeln? Nicht auszudenken, wenn die beiden Mädchen dann mit ihm allein waren! Luzians Rache würde entsetzlich sein …
»Lass es uns versuchen«, bat Ophelia. »Meine Eltern sind bestimmt schon verrückt vor Sorge um mich. Echt schade, dass man nicht einfach in die Hexenwelt telefonieren kann.«
»Ich muss Emily eine Nachricht hinterlassen«, sagte Maila. »Unbedingt. Sie weiß sonst nicht, wo wir sind.«
Sie ging zum Telefon und rief Emilys Festnetznummer an. Ihre Mutter, Frau Steigerwald, nahm den Hörer ab.
»Ja, hallo?«
»Hier ist Maila.«
»Ah, hallo, Maila, du willst sicher Emily sprechen, aber die ist in der Schule. Äh … überhaupt, warum bist du denn nicht im Unterricht? Schreibt ihr heute nicht eine Englischarbeit?«
Verflixt! Frau Steigerwald hatte keine Ahnung, was gerade los war und dass die Englischarbeit im Moment Mailas geringste Sorge war.
»Ich … ich … habe eine Magen- und Darmgrippe«, schwindelte Maila schnell. »Und deswegen muss ich mit meiner Oma heute noch zum Arzt. Bitte richten Sie das Emily aus. Nicht vergessen. Mit meiner Oma. Das ist wichtig. Damit sie die Grippe nicht auch bekommt.«
»Oh, meinst du, Emily könnte sich auch angesteckt haben?«, hörte Maila Frau Steigerwald noch sagen, aber da drückte sie schon auf den roten Aus-Knopf.
»Alles klar«, sagte Maila zu Ophelia. »Wir können los.«
»Vergiss mich nicht!«, zwitscherte da ein Stimmchen. Es gehörte Wilbur, Mailas kleinem Zaubervogel. Er stürzte sich vom Küchenschrank herunter. Dorthin hatte er sich nach dem aufregenden Abenteuer in der Schulbibliothek verzogen und den Kopf unter die Flügel gesteckt.
Maila streckte den Arm aus, und Wilbur landete federleicht darauf. Er trippelte hoch zu ihrer Schulter und schmiegte sich kurz an ihre Wange. Maila hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie gar nicht mehr an den kleinen Vogel gedacht hatte. Zu viele andere Dinge waren in ihrem Kopf herumgewirbelt. Aber zum Glück hatte sich Wilbur ja bemerkbar gemacht.
»Mein Lieber«, flüsterte Maila und strich zärtlich über sein Gefieder. »Wir fliegen mit dem Pegasus nach Hause, ist es dir recht? Deine Kuckucksuhr ist leider noch bei Emily, aber du kannst dich ja in meinen Haaren verstecken.«
»Mach ich.« Und schon kroch Wilbur in Mailas üppige Locken. Seine kleinen Krallen kitzelten ein wenig an ihrem Hals.
Maila griff nach der Luzian-Plastikfigur und steckte sie mit einem unguten Gefühl in ihre Jackentasche. Hoffentlich wurde das Ding nicht unterwegs lebendig! Dann verließen die beiden Mädchen das Haus, und Maila verschloss die Tür mit einem Zauber. Sie gingen nach hinten in den Garten, wo der Pegasus gerade den letzten Apfel verzehrte und den Mädchen freundlich entgegenwieherte.
Maila warf einen prüfenden Blick zum strahlend blauen Himmel. Es war heller Tag und damit riskant, mit einem fliegenden Pferd aufzusteigen. Nicht einmal hinter Wolken konnten sie sich verstecken! Es blieb Maila nur übrig, einen Blendzauber zu wirken, der dafür sorgte, dass das geflügelte Pferd für einen großen Vogel gehalten wurde. Es fiel ihr an diesem Vormittag schwer, sich zu konzentrieren. Sie war von den Erlebnissen müde und erschöpft. Verzweifelt suchte sie in ihrem Kopf nach dem richtigen Zauberspruch. Dann holte sie tief Luft, streckte ihren Arm aus, malte die Umrisse eines Vogels in die Luft und sprach:
»Zauber täuscht die Menschenwelt!
Sei wie ein Storch am Himmelszelt!«
Wie von Zauberhand glitt die alte Decke vom Rücken des Pegasus. Sein weißes Fell glänzte wie Silber in der Sonne. Probeweise dehnte er seine mächtigen Flügel.
»Wie … wie herrlich er aussieht, Maila!«, sagte Ophelia bewundernd. »Als ich ihn in dem dunklen Gang sah, dachte ich, er würde höchstens noch ein paar Stunden leben.«
»Rucola Rau hat sich gut um ihn gekümmert«, sagte Maila. »Sie ist eine ganz ausgezeichnete Hexe.«
»Ich weiß«, murmelte Ophelia.
Rucola Rau führte einen Laden für magische Tiere, gleich neben dem kleinen Zauberladen der Espenlaubs. Sie hatte ein wunderbares Geschick für alle Geschöpfe, und selbst aussichtslose Fälle bekamen bei ihr eine Chance. Maila bewunderte Rucola sehr. Sie wollte gerne eine genauso gute Hexe werden wie sie. Und wie Oma Luna. Aber bis dahin würde es noch ein weiter Weg sein.
»Lass uns aufsteigen«, meinte Maila. Sie rieb dem Pegasus den Hals. »Du bringst uns doch wieder heil nach Hause, oder?«
Der Pegasus wieherte zutraulich.
Ophelia kletterte als Erste auf seinen Rücken. Hinter ihr nahm Maila Platz. Kaum saßen die beiden Mädchen, begann der Pegasus zu traben und breitete seine großen Flügel auf. Sanft erhob er sich in die Luft. Es war ein wunderbares Gefühl. Maila hätte am liebsten laut gejubelt. Sie fühlte sich frei und sicher und hatte nicht die geringste Angst, obwohl der Pegasus höher und höher flog. Die Häuser unter ihnen wurden kleiner und kleiner und sahen zuletzt aus wie Spielzeug. Blau wölbte sich der Himmel über ihnen. Der Wind zauste die Haare der Mädchen und ließ Mähne und Schweif des Pegasus wehen. Maila hoffte, dass sich Wilbur gut festhielt.
Gab es etwas Schöneres als so einen Ritt auf einem fliegenden Pferd? Wäre da nur nicht das mulmige Gefühl in Mailas Bauch! Was würde Oma Luna sagen? Und wie würde der Magische Kontrolldienst darauf reagieren, dass einer seiner wichtigen Mitarbeiter in eine Plastikfigur verwandelt worden war?