Читать книгу Der magische achte Tag - Marliese Arold - Страница 10

Die Grenzen schwinden

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Darius Vollenweider wusste, dass sein Blutdruck längst eine ungesunde Höhe erreicht hatte. Doch mit etwas Glück würde er in einigen Stunden in Sicherheit sein, und dann begann für ihn ein neues, besseres Leben. Ohne Handicap.

Das Taxi hielt vor dem Flughafen. Darius bezahlte den Fahrer und stieg aus. Als er die Halle betrat, wurde seine Brust eng. So groß, so viele Leute. Er versuchte, sich zu orientieren. Die Ansagen dröhnten in seinen Ohren. Panik stieg in ihm hoch. Am liebsten wäre er umgekehrt. Doch jetzt war es zu spät, um alles rückgängig zu machen. Er musste seinen Plan durchführen, sonst würde er nie mehr unbeschwert leben können.

»Unbeschwert«, wiederholte er keuchend, wie um sich selbst zu überzeugen. Eine Frau, die gerade an ihm vorbeiging, sah ihn befremdet an. Na super, jetzt fing er auch noch an, mit sich selbst zu reden!

Der Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er befahl sich, ruhig zu bleiben – ohne viel Erfolg.

»Das Schlimmste liegt hinter mir«, flüsterte er. »Jetzt geht es aufwärts.«

Nach einigem Herumsuchen entdeckte er den Schalter. Zum Glück war eine Dame gerade frei. Er näherte sich ihr mit hastigen Schritten, während ihm das Herz bis zum Hals schlug.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und lächelte ihn freundlich an.

Eine Frage, verdammt! Am liebsten hätte er sich die Ohren zugehalten. Er ertrug keine Fragen, verflixt noch mal! Sie machten ihn wahnsinnig. Je mehr Fragen, desto schlimmer. Sie begannen in seinem Kopf umherzuschwirren, wiederholten sich immer wieder, sodass zum Schluss unzählige Stimmen durcheinanderklangen.

Darius atmete hastig.

»Einen Flug nach Los Angeles«, stieß er hastig aus, während die ersten schwarzen Punkte vor seinen Augen tanzten. »So bald wie möglich.«

Die Angestellte sah in ihrem Computer nach. »Ein Flieger startet gerade, das Boarding ist leider schon beendet. Ich kann Ihnen einen Flug in zwei Stunden anbieten, aber es ist kein Direktflug, sie müssten in Oslo umsteigen.« Sie sah ihn an.

Umsteigen. Das klang nicht gut. Darius zögerte. Wenn er sich beim Umsteigen verlief und in das falsche Flugzeug einstieg … Er musste unbedingt nach Los Angeles. Nur dort gab es diesen Therapeuten, der ihn heilen konnte.

»Ich will einen Direktflug«, verlangte er. Es hörte sich sehr unfreundlich an, das fiel ihm selbst auf. Der Mund der Angestellten wurde ein schmaler Strich. Sicher war sie jetzt sauer. Egal. Darius zog ein Tuch aus der Tasche seines zerknitterten Trenchcoats und wischte sich über die Stirn. Der Schweiß lief mittlerweile in Strömen, und das lag nicht nur daran, dass er zweihunderttausend Euro in seinem Koffer herumschleppte.

»Der nächste Direktflug geht morgen früh um fünf Uhr dreißig«, sagte die Angestellte. »Wollen Sie so lange warten?«

Wieder eine Frage. Die schwarzen Punkte vermehrten sich. Die Luft wurde knapp. Darius zerrte an seinem Kragen. Der oberste Hemdknopf sprang ab und prallte gegen die Rückseite des Computers.

»Oder wollen Sie jetzt doch lieber den Flug über Oslo?«

Noch eine Frage. Darius stöhnte auf. Die Angestellte starrte ihn an und wartete auf seine Antwort. Wie böse sie ihn ansah. Ihre Mundwinkel waren nach unten gerutscht, und ihre dunklen Augen wollten Darius durchbohren. Ihre Lippen waren so blutrot wie die eines Vampirs. Gleich würde sie ihre spitzen Zähne zeigen …

Darius taumelte zurück. Er musste weg! Weg von diesem Schalter! Jetzt erhob sich die Frau. Streckte den Arm aus und deutete anklagend auf ihn, sodass alle es sehen konnten. Er drehte sich um und rannte durch die Halle, prallte gegen eine Reisegruppe. Sein Koffer sprang auf, die Geldscheine wirbelten heraus, tanzten wie riesige Schneeflocken in der Luft und sanken dann auf den spiegelnden Marmorboden.

Darius hörte erschrockene und überraschte Schreie. Die ersten Leute bückten sich. Seine Panik hatte den Höhepunkt erreicht. Er ließ den Koffer fallen und rannte auf die Toiletten zu, stieß die Tür auf und sperrte sich in der Kabine ein. Dort blieb er zitternd und schwitzend sitzen, während eine große Welle Übelkeit über ihn hinwegschwappte.

Das war die Strafe! Niemals hätte er den Schlüssel und das Notizbuch stehlen dürfen. Das Geld, das man ihm dafür geboten hatte – jetzt war es verloren. Es nützte ihm nichts. Er hatte gehofft, damit nach Amerika zu fliegen und sich einer Therapie zu unterziehen, die ihn von seinem unerträglichen Schicksal erlösen würde. Sein größter Wunsch war es gewesen, wieder ein normales Leben zu führen. Keine einzige Frage sollte ihn mehr in Verwirrung oder gar in Panik versetzen, sondern er würde in der Lage sein, einfach darauf zu antworten. Genau, wie es andere Leute auch taten. Ohne dass ihnen der Schweiß ausbrach. Ohne dass ihnen die Knie zitterten. Und ohne, dass sie dabei Magenkrämpfe bekamen.

Deswegen hatte er die Welt des achten Tages verraten.

Aus egoistischen Gründen.

Alles war schiefgegangen.

Erschöpft lehnte Darius seinen Kopf gegen die Kabinenwand.

In diesem Moment begann der Boden zu beben. Alles wurde durchsichtig. Darius konnte von seinem Sitz aus die Eingangshalle sehen, in der sich die Reisenden um die Geldscheine prügelten.

Dann gab der Sitz unter ihm plötzlich nach. Darius wurde seitlich weggerissen und einem gewaltigen Sog ausgeliefert, der ihn durch Raum und Zeit zerrte.

Eine Reise ins Nirgendwo.

Oder gar in die Hölle?

War das der Tod?

»Nein, das eben war kein Erdbeben«, sagte Laura und blickte ihren Vater prüfend an. Sie legte ihr Smartphone weg. »Sonst wäre auf meiner Nachrichten-App schon eine Meldung gekommen.«

Olivia sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben. Jonathan turnte auf ihrer Schulter herum. Ihn schien der Zwischenfall am wenigsten geängstigt zu haben.

Peter Lilienstedt versuchte, gefasst zu wirken, doch seine blasse Haut verriet Laura, dass er zutiefst betroffen war. Er konnte ihr nichts vormachen, dafür kannte sie ihn zu gut.

»Papa«, sagte Laura, »kannst du dir denken, was es war?«

Peter Lilienstedt wusste nicht, wohin mit seinen Händen. Er vermied Lauras Blick und starrte auf die Tischkante, während er nervös mit den Fingern die Holzmaserung nachfuhr.

»Die Welt des achten Tages«, begann Laura mit heiserer Stimme, »sie ist in großer Gefahr.«

Ihr Vater blickte auf. Er sah ihr direkt ins Gesicht – endlich. In seinen Augen stand Besorgnis. Er schluckte.

»O ja«, antwortete er. »Ich fürchte, wir haben auf ganzer Linie versagt.«

Laura blieb der Mund offen stehen. Sie hatte erwartet, ihr Vater würde nachfragen, was sie mit dem achten Tag meinte. Aber seine Antwort ließ darauf schließen, dass er bestens Bescheid wusste.

»Du … du … kennst diese Welt?«, stammelte Laura.

»Nicht wirklich«, erwiderte ihr Vater leise. »Ich bin nie dort gewesen. Aber ich weiß, dass es sie gibt.«

In Lauras Kopf wirbelte alles durcheinander. Dann war es alles kein Zufall. Dass die alte Villa, in der ihr Vater lebte, einst einem Uhrmacher gehört hatte. Und dass sie, Laura, die goldene Taschenuhr in einem alten Schreibtisch gefunden hatte, den ihr Vater restauriert hatte.

»Und du weißt auch … Mama und Asshoff … die Firma TEMP …« Laura wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Jetzt konnte sie endlich offen reden, und alles wollte auf einmal heraus.

»Du fragst dich, warum deine Mutter ausgerechnet mit ihrem Chef befreundet ist«, fasste Peter ihre Worte zusammen.

Laura nickte hastig.

»Lass mich dir so viel sagen: Es ist nicht alles so, wie es auf den ersten Blick scheint«, sagte ihr Vater, und nun war seine Antwort wieder sehr rätselhaft.

In diesem Moment läutete das Telefon. Peter Lilienstedt erhob sich von seiner Bank, um ins Haus zu gehen.

Laura und Olivia wechselten einen Blick.

»Ausgerechnet jetzt«, zischte Olivia.

Laura nickte. Sie platzte beinahe vor Ungeduld. Was war nicht so, wie es auf den ersten Blick schien? Wollte ihr Vater sie etwa davon überzeugen, dass Bernd Asshoff ein sympathischer Mensch war, dem man bedenkenlos vertrauen konnte?

Das Telefonat schien sich hinzuziehen. Oder kam es Laura nur so vor? Immer wieder blickte sie auf die Zeitanzeige ihres Smartphones.

Bling! Eine neue Nachricht war eingegangen.

»Von Severin«, teilte Laura ihrer Freundin mit. »Er kommt bald.«

Olivias Wangen röteten sich, und ihre Augen begannen zu glänzen. Laura bekam wieder ein schlechtes Gewissen. Sie wusste, dass Olivia in Severin verknallt war – und zwar vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Laura hätte ihr längst sagen müssen, dass … ja, was eigentlich? Dass sie selbst Severin ganz gut fand?

Nur ganz gut?

Sie erinnerte sich, wie schlimm es gewesen war, als Severin in der Zeitlosigkeit gefangen war. Sie hatte befürchtet, dass er für immer verloren war. Ein schreckliches Gefühl.

Unsinn, ich bin nicht in ihn verliebt, dachte Laura.

Sie und Severin waren durch die magische Welt verbunden. Gemeinsam hofften sie, eine Katastrophe zu verhindern und die Welt des achten Tages zu retten. So etwas Wichtiges schweißte zwei Menschen zusammen, ohne dass man gleich verliebt sein musste.

»Mit wem telefoniert dein Vater?«, riss Olivia sie aus ihren Gedanken und machte eine Kopfbewegung zur Terrassentür hin.

»Keine Ahnung«, sagte Laura. »Ich kann schließlich nicht hellsehen.«

»Und was ist mit deiner Gabe?« Olivia grinste.

»Das Gedankenlesen funktioniert nur in der magischen Welt«, meinte Laura schulterzuckend.

»Weil du es hier nicht probierst«, sagte Olivia. »Versuch es doch mal.«

»Ich spioniere meinem Vater doch nicht hinterher«, erwiderte Laura empört.

Fünf Minuten später telefonierte Peter Lilienstedt immer noch.

»Vielleicht drückt er sich vor dem, was er uns sagen wollte«, vermutete Olivia. »Wahrscheinlich bereut er schon, dass er etwas angedeutet hat.«

Laura schnitt eine Grimasse. Genau dasselbe hatte sie gerade gedacht. »Ich glaube, du bist die Gedankenleserin von uns beiden.« Entschlossen stand sie auf. »Ich gehe jetzt rein.«

»Ich komme mit.« Olivia folgte ihr.

Sie fanden Lauras Vater vor der großen Pinnwand. Obwohl das Gespräch offenbar beendet war, hielt er das Telefon immer noch in der Hand. Er starrte auf die Einträge auf dem Kalender. Dort notierte er sich immer seine Aufträge. Manche Felder waren bunt markiert, damit er einen besseren Überblick hatte.

»Was ist nicht so, wie es scheint?«, hakte Laura nach.

Ihr Vater zuckte zusammen und drehte sich um. Sein Blick war gequält, und seine Augen wirkten so, als hätte Laura ihn gerade aus einer anderen Welt geholt.

»Deine Mutter hat angerufen«, sagte er tonlos. »Sie bringt nachher Elias vorbei.«

»Ist … ist ihm etwas passiert?«, fragte Laura erschrocken. Ihr kleiner Bruder hatte häufiger Unfälle, weil er ungeheuer lebhaft war und manchmal keine Grenzen kannte. Erst kürzlich hatte er sich den Arm gebrochen und einige Tage im Krankenhaus verbracht.

»Nein, alles in Ordnung«, brummte Peter Lilienstedt. Dann seufzte er tief. »Nein, nichts ist in Ordnung, aber das hat nichts mit Elias zu tun. Valerie muss …« Er zögerte.

Ich weiß nicht, ob ich ihr alles erzählen soll. Vielleicht ist es zu früh.

Laura starrte ihren Vater an. Sie hatte gerade seine Gedanken gelesen!

»Es ist nicht zu früh, Papa!«

»Wie … was?« Er geriet ins Stottern, hob erstaunt die Augenbrauen und schüttelte dann den Kopf. »Das habe ich doch gar nicht gesagt!«

Laura ging nicht darauf ein. »Du kannst mir alles erzählen. Ich muss endlich wissen, was los ist!«, verlangte sie. Ihre Ungeduld war inzwischen so groß, dass sie am liebsten mit dem Fuß aufgestampft hätte.

»Ich brauche jetzt unbedingt noch eine Tasse Kaffee.« Lauras Vater ging in die Küche. Laura lief hinter ihm her wie ein Hündchen. Olivia verdrehte nur die Augen.

»Was ist mit Mama, und warum ist es nicht so, wie es scheint?«, fragte Laura zum dritten Mal. Sie hatte das Gefühl, gleich platzen zu müssen, wenn ihr Vater nicht endlich redete.

»Du weißt ja, dass wir uns vor einiger Zeit getrennt haben«, sagte Peter, während er Wasser in die altmodische Kaffeemaschine goss und Kaffeepulver in den Filter löffelte. »Es ist aber nicht so, dass sich Valerie und ich nicht mehr verstehen. Im Gegenteil.« Er wandte den Kopf und lächelte Laura an. »Wir ziehen am selben Strang!«

Was hieß das denn schon wieder? Laura blies die Backen auf. Die Eltern verstanden sich auf einmal? Und was war mit den ganzen Streitereien? Mit Valeries Vorwürfen, dass Peter ein Träumer war und sein Leben nicht auf die Reihe bekam? Dass er nicht für eine Familie sorgen konnte? Laura hatte den Eindruck, dass die Beine unter ihr wegknickten – ohne dass es eine weitere Erschütterung gegeben hatte.

»Kannst du dir nicht denken, warum Valerie den Job bei TEMP angenommen hat?«, fragte Lauras Vater.

»Um mehr Geld zu verdienen?«, antwortete Laura. »Viel mehr Geld?« Ihre Mutter hatte sich früher immer beklagt, dass sie sich so einschränken mussten, weil Peter Lilienstedt oft Möbelstücke zu Freundschaftspreisen restaurierte.

Ihr Vater schüttelte den Kopf. »So könnte man meinen, ja. Vor allem, weil ihr in dieses teure Hochhaus gezogen seid und euch den Haushaltsroboter und das selbstfahrende Auto angeschafft habt.«

»Aber was war es dann, wenn es nicht ums Geld ging?«, bohrte Laura nach.

In diesem Moment ertönte draußen auf der Terrasse eine Jungenstimme: »Hallo, ist jemand da?«

»Severin!«, quietschte Olivia freudig und wollte ihm entgegenstürmen.

Der Kalong war noch schneller. Er schoss quer durch die Küche, durch die offene Terrassentür und flog dann auf seinen Herrn zu.

Severin streckte Jonathan den Arm entgegen, damit er landen konnte.

»Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht«, verkündete er, als er die beiden Mädchen sah. »Ich habe Darius Vollenweider leider nicht mehr angetroffen, aber ich habe eine Kopie des Notizbuchs!«

Er nahm den Rucksack ab und holte einen Stapel Papiere heraus.

Da geschah es wieder. Der Boden bebte, diesmal noch heftiger als zuvor. Hinter Laura fiel Geschirr aus dem Küchenschrank. Während die Welt um sie herum durchsichtig wurde und die Farben schwanden, sah sie im Glas der Terrassentür das Schloss der Ewigkeit mit seinen acht Türmen. Der Kalong flog kreischend auf und kreiste über Olivia, die völlig die Orientierung zu verlieren schien. Sie wollte sich an Severin klammern, verfehlte ihn und hielt sich stöhnend an einem Gartenstuhl fest. Laura wollte ihr helfen und stolperte über die Türschwelle auf die Terrasse. Sie ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu wahren, und bekam Olivia zu fassen. Gleichzeitig klatschte der Kalong gegen ihre Brust, dann wurde alles dunkel, und Laura fiel in einem schwarzen Wirbel ins Nichts.

Der magische achte Tag

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