Читать книгу Der magische achte Tag - Marliese Arold - Страница 6
Ein Gast auf der Fensterbank
ОглавлениеLaura rannte die Wendeltreppe hinauf und verlor dabei ihre pinkfarbenen Pantoffel. Sie achtete nicht darauf. Sie musste unbedingt in ihr Zimmer zurück, das sie mit Anouk, Shirin und Merle teilte. Die magische Welt des achten Tages war in größter Gefahr!
Ich kriege dich!
Am liebsten hätte Laura die Hände auf ihre Ohren gepresst. Aber das hätte auch nichts genützt. Die fremde Stimme war in ihrem Kopf. Genauer: Die Gedanken von Magister Darius, der sie verfolgte.
Dieser Verräter! Er hatte den Schlüssel, der diese Welt im Gleichgewicht hielt, an Bernd Asshoff verkauft, einem der Geschäftsführer der Firma TEMP. Diese Firma versuchte, hinter das Geheimnis der Zeit zu kommen. Denn wer die Macht über die Zeit besaß, dem standen alle Möglichkeiten offen – sogar der Sieg über den Tod.
Gleich hab ich dich!
Laura konnte schon die Schritte hinter sich hören. Der Schweiß brach ihr aus. Die Angst nahm ihr den Atem. Die Beine wollten ihr nicht mehr gehorchen. Warum war die Treppe so lang? Hätte sie nicht schon längst ihr Stockwerk erreichen müssen?
Du hast keine Chance!
Sie warf einen hektischen Blick über die Schulter.
Magister Darius, der kleine rundliche Lehrer mit der seltsamen Brille, hatte sie fast erreicht. Er streckte seine klauenartigen Hände nach ihr aus, erwischte ihre Jacke und zog. Laura klammerte sich an das Geländer, aber ihr rechter Fuß fand keinen Halt mehr und trat ins Leere. Sie stürzte …
… und erwachte.
Der Schlafanzug klebte an ihrem Körper. Ihr Atem ging so heftig, als wäre sie tatsächlich viel zu schnell eine Treppe hinaufgelaufen. Gleichzeitig hatte sie fürchterliche Kopfschmerzen.
Laura setzte sich auf und versuchte, sich zu orientieren. Nur langsam konnte sie den Albtraum abschütteln. Er war so real gewesen. Sie konnte noch ganz genau das kühle Metall des Treppengeländers spüren. Sie fühlte noch, wie Darius an ihr zerrte und der Halsausschnitt ihrer Jacke sie am Hals würgte …
Am ganzen Körper zitternd und mit klopfendem Herzen schwang Laura ihre Beine über die Bettkante. Sie war zu Hause, im Akeleiweg 8, es war Montagmorgen, sechs Uhr.
Laura stand schwankend auf. Ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Wie benommen tappte sie aus ihrem Zimmer und in die Küche. Sie brauchte jetzt dringend ein Glas Wasser!
Laura nahm sich ein Glas und ließ Wasser aus der Leitung laufen. Erschöpft setzte sie sich an den kleinen Tisch und trank das Glas in großen Zügen leer. Danach fühlte sie sich ein bisschen besser.
Im Flur ertönte ein Geräusch, und gleich darauf rollte Amy, die Haushaltsroboterin, in die Küche. Ihre grünen Augen blinkten Laura fragend an.
»Alles gut«, murmelte Laura. »Ich hatte nur Durst.«
Amy streckte ihre Teleskoparme aus und einer ihrer metallenen Finger berührte Lauras Stirn.
»Sssiebenunddreißsssig Komma ssssieben Grad Celsssiuss«, schnarrte Amy. »Du hassst erhöhte Tämperatur. Heute besser ssu Haussse bleiben?«
»Nichts lieber als das«, antwortete Laura. Vielleicht war sie tatsächlich ein bisschen krank. Dann musste sie auch nicht in die Firma TEMP, bei der sie gerade – unfreiwillig und nur auf Druck ihrer Mutter – ein Praktikum machte.
Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gebracht, als Valerie Lilienstedt in der Tür erschien.
»Was ist los, Laura?«, fragte sie besorgt.
»Nichts.« Laura schüttelte den Kopf, was keine besonders gute Idee war. »Ich habe nur schlecht geträumt.«
»Die Wochenenden bei deinem Vater bekommen dir einfach nicht«, schlussfolgerte ihre Mutter. »Dein normaler Tagesablauf kommt ganz durcheinander. Und bestimmt hast du auch wieder zu schwer gegessen. Dein Vater hat ja offenbar noch nichts von leichter, gesunder Küche gehört.«
Laura hielt es nicht mehr aus. »Hör auf, ständig auf Papa herumzuhacken!«, schrie sie ihre Mutter an. »Du hast keine Ahnung, was wirklich passiert ist. Und du willst auch nicht wahrhaben, dass dein blöder Bernd eine ganze Welt in Gefahr bringt.«
Ups. Das war ihr so rausgerutscht. Nicht gerade geschickt, weil Bernd Asshoff ihre Wohnung abhören ließ. Auf heimtückische Art hatte er Spionagetools bei ihnen eingeschleust – unter dem Vorwand, Lauras Bruder Elias ein neues cooles Spiel zu schenken, das noch gar nicht auf dem Markt war.
Valerie verschränkte die Arme. Ihr Mund war ein schmaler Strich. »Was willst du damit sagen?«, presste sie zwischen ihren Lippen hervor.
»Ich werde überhaupt nichts mehr sagen, weil du Bernd sofort alles weitererzählst«, erwiderte Laura und wollte die Küche verlassen. Doch ihre Mutter trat ihr in den Weg.
»Warum bringt er die Welt in Gefahr?«, hakte Valerie nach.
Laura blieb stumm und sah ihrer Mutter feindlich in die Augen. Es war ein Duell aus Blicken. Schließlich gab Valerie den Weg frei. Laura rannte in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett.
Ihr war zum Heulen zumute. Bis vor wenigen Wochen war noch alles in Ordnung gewesen. Nein, nicht ganz. Ihre Eltern hatten sich schon vorher getrennt, was für Laura eine mittlere Katastrophe bedeutete. Aber seit ungefähr einem Monat war ihr Leben völlig aus den Fugen geraten. Seit sie die goldene Taschenuhr gefunden und mit ihr die Welt des achten Tages entdeckt hatte.
Zeit war kein absoluter Maßstab mehr. Für bestimmte Menschen gab es einen achten Tag in der Woche, aber an diesem Achttag war alles anders. Es existierte Magie. Und Laura musste in die Schule der Ewigkeit gehen, in der Jugendliche ihre besonderen Fähigkeiten trainierten. Alles war möglich geworden, und die Regeln, die vorher ihren Alltag bestimmt hatten, galten nicht mehr.
Natürlich kam Valerie ihr nach. Sie setzte sich auf die Bettkante und fragte mit ihrer Therapeutinnen-Stimme: »Willst du mir nicht erzählen, was dich bedrückt?«
Wie gerne hätte Laura sich alles von der Seele geredet. Vielleicht hätte ihre Mutter sogar einen Rat gewusst oder sie zumindest getröstet. Aber Valerie stand auf der Seite des Gegners. Hätte sie doch diesen blöden Bernd Asshoff nie kennengelernt! Hätte sie nie den Job bei TEMP angenommen und sich in ihren Chef verliebt!
Laura schluchzte auf. Verdammt, auch das noch! Sie presste ihr Gesicht in das Kissen, um jedes Geräusch zu ersticken.
»Liebes, du weißt doch, dass du mit all deinen Problemen zu mir kommen kannst«, redete Valerie sanft auf sie ein. »Vielleicht habe ich mich in der letzten Zeit zu viel um Elias gekümmert und dich dabei etwas vernachlässigt. Das tut mir leid. Wirklich. Aber das heißt nicht, dass du mir egal bist. Ganz im Gegenteil. Du bist meine große Tochter, und ich bin sehr stolz auf dich.«
Es klang gut. Zu gut. Das waren völlig neue Töne von ihrer Mutter. Laura wurde selten gelobt. Und jetzt hörten sich Valeries Worte beinahe wie Schmeicheleien an. Hatte sie von Asshoff gelernt, wie man andere Menschen mit Worten manipulierte?
Laura bebte am ganzen Körper. Sie wusste nicht, ob sie ihrer Mutter vertrauen konnte. Sie sehnte sich so sehr danach, mit jemandem über die Gefahr zu sprechen, die der Welt des achten Tages drohte. Und nicht nur dieser magischen Welt, sondern auch der realen. Denn wenn die Firma TEMP erst einmal an der Zeit drehen konnte, dann würden sich Vergangenheit und Zukunft vermischen. Das totale Chaos. Und Vorteile für jene, die reich und mächtig waren …
»Warum hast du vorhin gesagt, dass Bernd die Welt in Gefahr bringt?«, bohrte Valerie nach. Diesmal klang ihre Stimme härter.
Sie ließ nicht locker. Laura beschloss, zu lügen. Wenn die Erwachsenen ihr nicht die Wahrheit sagten, sondern sich immer hinter Ausreden versteckten und nie richtige Antworten gaben, dann war es Lauras gutes Recht, ihnen auch das Blaue vom Himmel zu erzählen.
Sie hob den Kopf. »Bernd zerstört unsere Welt«, brachte sie mühsam hervor. »Meine und die von Elias. Er mag Elias mit Geschenken bestechen, trotzdem wird er es nie schaffen, dass Elias ihn lieber mag als Papa.« Sie richtete sich halb auf und spielte ihren Trumpf aus: »Du hättest ihn am Wochenende sehen sollen, wie geduldig er ein Uhrwerk zusammengesetzt hat, an dem sogar Papa gescheitert ist. Elias war so fasziniert. Das hat ihm viel besser gefallen als dieses blöde Moskito-Spiel.« Sie reckte trotzig das Kinn. »Elias würde viel lieber bei Papa wohnen. Genau wie ich. Auch wenn Papa nicht so viel Geld hat. Das ist uns egal. Dafür nimmt er sich Zeit für uns. Zeit, die du nie hast!«
Valerie wurde blass. »Das wird wieder besser«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich verspreche es dir. Unsere Firma hat im Moment dieses wichtige Forschungsprojekt. Dorthin fließen all unsere Energien. Wenn wir nicht in absehbarer Zeit Ergebnisse vorweisen können, dann springt ein wichtiger Investor ab, und das wäre das Aus für die Firma.«
»Das ist mir so was von egal«, schnaubte Laura. »Selbst wenn euer Projekt gelingen sollte, dann kommt sofort das nächste – und du wirst wieder keine Zeit haben. Das hatten wir doch schon ein paar Mal. Du machst immer nur Versprechungen und hältst sie nie. Elias hast du bisher noch täuschen können, aber er fällt bestimmt nicht mehr lange auf dich rein.«
Valerie schluckte. »Siehst du das wirklich so?«
Laura blickte ihre Mutter nur vorwurfsvoll an. Valerie blieb noch einen Moment lang sitzen, dann stand sie wortlos auf und verließ das Zimmer.
Trotz ihrer Sorgen schlief Laura noch einmal ein, und als sie wieder erwachte, war es fast zehn Uhr. Amy saugte die Wohnung. Laura hörte, wie der Staubsauger im Flur röhrte. Der schwarze Kater Samson hatte es sich wieder auf Lauras Bett bequem gemacht. Als Laura sich streckte und ihre Beine über die Bettkante schwang, fragte er:
»Und was gedenkst du jetzt zu tun?«
Laura zuckte zusammen und starrte das Tier an. Hatte sie eben wieder Samsons Gedanken gelesen, oder hatte er tatsächlich zu ihr gesprochen, wie er es an dem magischen Achttag konnte?
»Wir brauchen schleunigst einen funktionierenden Plan, sonst geht alles den Bach runter«, sagte Samson. Er setzte sich auf und begann, seine Pfoten zu lecken.
Laura schluckte die Überraschung hinunter. Nein, sie wurde nicht verrückt. Es gab eine Erklärung dafür, dass Samson sprechen konnte. Die Grenzen zwischen der realen und der magischen Welt wurden dünner. Die magische Welt verlor zunehmend ihr Gleichgewicht, weil ein wichtiger Schlüssel fehlte, mit dem Magister Horatius regelmäßig das wunderbare Uhrwerk – das Herz der magischen Welt – aufziehen musste. Der Ersatzschlüssel funktionierte nicht hundertprozentig, dadurch wurde die magische Welt immer instabiler.
»Ist dir schon eine Idee gekommen?«, fragte Samson. Und dann fügte er ein wenig vorwurfsvoll hinzu: »Oder redest du nicht mehr mit Tieren?«
»O doch«, sagte Laura schnell. »Ich bin nur nicht gewohnt, dass du an ganz normalen Tagen …«
»Das ist kein normaler Tag«, unterbrach Samson sie. »Von jetzt an ist kein Tag mehr normal, das müsste dir klar sein. Wenn du mir nicht glaubst, musst du nur dein Fenster öffnen. Draußen auf der Fensterbank sitzt jemand, der auf dich wartet!«
Laura runzelte die Stirn. Dann trat sie ans Fenster und betätigte den automatischen Rollladen. Seitlich auf der Fensterbank kauerte ein unförmiges schwarzes Etwas, das Laura erst auf den zweiten Blick erkannte. Es war Jonathan, Severins Kalong. Eine Gänsehaut kroch über Lauras Rücken. Obwohl sie den Flughund mittlerweile kannte, hatte er immer noch etwas Unheimliches an sich.
»Willst du nicht das Fenster öffnen und unseren Freund hereinlassen?«, sagte Samson ungeduldig.
Laura musste erst die komplizierte Verriegelung entsperren. Da die Wohnung eine Klimaanlage besaß, waren die Fenster nicht zum Öffnen gedacht. Laura vermisste das oft. Sie liebte es, wenn in der Villa ihres Vaters die duftende Gartenluft zum Fenster hereinströmte.
Mit einiger Mühe entriegelte Laura das Fenster, und es sprang auf. Der Kalong zuckte bei dem Ruck erschrocken zusammen. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er wegfliegen.
»Keine Angst, Kleiner, alles ist gut«, redete Laura mit sanfter Stimme auf ihn ein. »Ich weiß, dass Severin dich schickt. Komm rein.«
Der Kalong streckte ihr zwar den Kopf entgegen, traute sich aber nicht ins Zimmer. Behutsam griff Laura nach dem Flughund und hob ihn herein. Das Tier hielt still. Laura legte den Kalong auf ihrer Bettdecke ab. Ängstlich bedeckte er seinen Kopf mit den Flügeln. Laura setzte sich neben ihn und streichelte sanft die ledrige Haut.
»Was ist deine Mission?«, wandte sich Samson mit seiner schnarrenden Stimme an Jonathan.
Der Kalong fiepte leise.
»Kann er denn überhaupt sprechen?«, fragte Laura.
»Ich denke schon, dass er es kann, aber er scheint im Moment nicht zu wollen«, antwortete der schwarze Kater. »Vielleicht redet er ja nicht mit jedem.« Er setzte seelenruhig seine Katzenwäsche fort.
Es musste doch einen Grund haben, warum Jonathan an ihrem Fenster auftauchte. Laura griff nach ihrem Smartphone, um Severin anzurufen, doch dann zuckte sie zurück. Das Smartphone war ein großzügiges Geschenk von Asshoff, aber nach Lauras Entdeckung mit dem Spionage-Moskito-Spiel war sie sicher, dass er jedes Gespräch abhören konnte. Das durfte sie nicht riskieren. Deswegen schickte sie Severin eine Mail von ihrem Laptop aus.
Jonathan ist bei mir aufgetaucht. Hast du ihn geschickt? LG, Laura
Es kam keine Antwort. Lauras Besorgnis wuchs. War etwas passiert? Wollte der Kalong etwa Hilfe holen?
Sie warf wieder einen Blick auf ihr Bett. Zu dumm, dass sich das Tier offenbar entschlossen hatte, zu schweigen!
»Wir müssen zu Severin«, entschied sie, packte den Laptop und ihr altes – unverwanztes – Smartphone in ihren Rucksack, setzte den Kalong auf ihre Schulter und ging zur Tür. Samson machte keine Anstalten, mitzukommen. Laura zuckte mit den Achseln. Wenn er wollte, dann würde er sie finden. Wenn die Magie auch hier wirkte (und das tat sie, sonst hätte Samson nicht sprechen können), dann konnte er durch Wände gehen. Jedenfalls hatte Laura den Eindruck.
Die Wohnung war bis auf Amy leer. Diese saugte, als hätte die Wohnung zwei Monate lang keinen Staubsauger mehr gesehen. Laura sah in den Kühlschrank und entdeckte zu ihrer Freude ein fertig gepacktes Lunchpaket. Sie nahm sich ein Sandwich heraus und steckte den Rest in ihren Rucksack.
»Danke, Amy!«, rief sie dem Haushaltsroboter zu, dann verließ sie die Wohnung.