Читать книгу Der magische achte Tag - Marliese Arold - Страница 8
Die Gefahr wächst
ОглавлениеDer Aufzug sah aus wie immer. Er war kein altmodischer Lift mit schmiedeeisernen Türen wie an den magischen achten Tagen. Laura beschloss, sich nicht zu wundern. Heute war ja auch ein ganz gewöhnlicher Montag. Sie drückte den Knopf für das Erdgeschoss und fuhr nach unten.
Auch die Eingangshalle wirkte ganz normal. Als Laura jedoch die Ufo-Pflanze erblickte, gab es ihr einen Stich: Die Pflanze stand zwar an ihrem Platz und war auch noch genauso groß, aber die runden Blätter waren feuerrot!
»Oje«, entfuhr es Laura. War das ein Zeichen? Am Ende gar eine Warnung?
Mit einem mulmigen Gefühl verließ sie das Haus und lief zur Bushaltestelle. Sie musste gar nicht lange warten, schon eine Minute später kam der Bus. Es war eines der neuen, fahrerlosen Modelle. Die Türen öffneten sich automatisch. Laura hielt ihren Rucksack hoch, damit die automatische Erkennung den Button scannen konnte, der als Monatsfahrkarte diente. Die Lampe über der Eingangstür sprang kurz auf Grün, dann leuchtete sie wieder rot. In einem Feld daneben blinkte eine Schrift:
Bitte eine Hundefahrkarte lösen!
Einen Augenblick lang war Laura verwirrt.
Der Kalong, schoss ihr dann durch den Kopf. Eilig suchte sie in ihrem Portemonnaie nach ihrer Geldkarte, hielt sie gegen das Viereck neben der Tür und vernahm den Pieps, als das elektronische Zahlungssystem den Betrag abbuchte. Dann konnte sie endlich einsteigen. Sie suchte sich einen Platz und sank erleichtert auf einen Sitz am Fenster.
Während der Fahrt schmiegte sich der Kalong an ihren Hals. Sie konnte seinen Herzschlag spüren. Ungefähr nach der halben Strecke begann das Tier, leise zu wispern. Es waren eindeutig geflüsterte Worte, doch Laura verstand kein einziges davon. Der Kalong schien in einer fremden Sprache zu sprechen. Laura wühlte in ihrem Rucksack, zog ihr Smartphone hervor und rief eine Übersetzungs-App auf. Sie hielt das Gerät an ihre Schulter, in der Hoffnung, dass das Handy Jonathans Geflüster übersetzen konnte. Als sie kurz darauf wieder auf das Display schaute, stand dort:
Gesprochene Sprache: Gayo.
Aktuell kein kostenloses Wörterbuch verfügbar.
Wollen Sie die kostenpflichtige Ergänzung (19 $) kaufen? Ja/Nein?
Laura ärgerte sich, tippte auf Nein und steckte das Smartphone wieder ein. Jonathan hatte sein Gequassel ohnehin inzwischen eingestellt. Außerdem würde sie gleich aussteigen. Sie musste unbedingt Severin fragen, wie er sich mit seinem Flughund verständigte.
Der Bus hielt. Laura verließ ihn als Einzige und marschierte mit großen Schritten die Straße entlang. Bis zu Severins Adresse waren es zehn Minuten, wenn man flott ging, schaffte man es in sieben.
Außer Atem läutete Laura bei den Süßkinds. Severins Mutter öffnete.
»Hallo, Laura«, begrüßte sie das Mädchen. »Du kommst bestimmt wegen Severin. Leider muss ich dich enttäuschen, er ist nicht da. Vor einer halben Stunde hat er das Haus verlassen. Er hat mir auch nicht gesagt, wohin er will. Tut mir leid, wirklich.«
Laura schluckte. »Danke«, erwiderte sie und deutet auf den Kalong. »Jonathan saß plötzlich auf meiner Fensterbank, und ich wollte ihn Severin zurückbringen.«
»Er hat ihn schon vermisst«, sagte Frau Süßkind und streckte ihre Hände nach dem Flughund aus. »Severin wird froh sein, dass du ihn gefunden hast.«
Der Kalong fiepte so laut, dass Lauras Trommelfell vibrierte. Er versteckte sich hinter Lauras Rücken. Ganz offensichtlich wollte er nicht zu Severins Mutter. Laura stand einen Moment lang unschlüssig da.
»Ich fürchte, er mag mich nicht besonders«, meinte Frau Süßkind lächelnd. »Anfangs war ich dagegen, dass Severin ihn behält. Ich fürchte, das nimmt er mir immer noch übel.«
Laura lächelte zurück. Sie hatte das Gefühl, dass es einen anderen Grund gab, warum der Kalong bei ihr bleiben wollte. »Dann nehme ich ihn eben wieder mit, kein Problem. Severin wird mir bestimmt bald eine Nachricht schicken.« Hoffentlich, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Alles klar«, erwiderte Frau Süßkind. »Du kannst auch gerne bei uns warten, wenn du willst.«
Laura dachte kurz an den schönen Garten. Genau wie sie selbst liebte Severin es, in einer Hängematte zwischen den Bäumen zu liegen. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Ich glaube, ich besuche lieber meine Freundin Olivia. Sie wohnt gleich gegenüber.«
»Ganz wie du willst«, meinte Severins Mutter freundlich. »Auf Wiedersehen!«
Und die Tür schloss sich vor Laura.
Laura machte kehrt und überquerte die Straße, um bei ihrer Freundin zu klingeln. Olivia machte große Augen, als Laura vor der Tür stand.
»Kein Praktikum mehr bei TEMP?«, fragte sie verblüfft. »Hast du deine Mutter überzeugen können, dass Asshoff ein Asshole ist?«
Laura schüttelte den Kopf. »Leider noch immer nicht. Kann ich reinkommen?«
»Klar.« Olivia trat zur Seite und entdeckte den Kalong. »Och, ist der süß! Hat Severin dich gebeten, eine Weile auf ihn aufzupassen? Darf ich ihn auch mal haben?«
Olivia hatte die nervige Angewohnheit, bereits die nächste Frage zu stellen, bevor Laura die erste beantwortet hatte. Trotzdem war Olivia ihre allerbeste Freundin, mit der sie alles besprechen konnte. Oder zumindest fast alles. Olivia war schwer verliebt in Severin, und Laura hatte ihr verschwiegen, dass es zwischen ihr und Severin manchmal knisterte. Solange sie für dieses neue Gefühl keine eindeutige Erklärung fand, wollte sie nicht darüber reden. Außerdem gab es momentan Dinge, die viel wichtiger waren.
»Samson konnte heute früh sprechen«, erzählte Laura. »Obwohl kein Achttag ist. Und Jonathan saß plötzlich auf meiner Fensterbank. Keine Ahnung, ob Severin ihn mir geschickt hat und ob Jonathan mir vielleicht eine Botschaft ausrichten soll. Im Bus hat er dauernd geflüstert, aber leider verstehe ich kein Gayo.«
»Gayo?«, Olivia zog die Augenbrauen hoch.
»Das spricht man auf Sumatra, woher Jonathan stammt«, antwortete Laura.
Am Ende des Flurs tauchte Frau Maurer auf, Olivias Mutter.
»Hallo, Laura«, begrüßte sie das Mädchen. »Praktikum schon zu Ende? Olivia hat mir erzählt, dass du in den Ferien bei TEMP arbeiten darfst.« Sie lächelte Laura an. »Respekt!«
»Stimmt, aber heute habe ich frei«, erwiderte Laura und spürte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. Die Firma TEMP war bei den meisten Leuten sehr angesehen. Auch Laura hatte sich zunächst gefreut, dass ihre Mutter dort einen tollen Job hatte. Inzwischen hatte Laura ihre Meinung über TEMP geändert, und das lag nicht nur daran, dass sie Bernd Asshoff so unsympathisch fand. Experimente mit der Zeit, wie sie die Firma durchführte, waren höchst gefährlich. Wenn die Zeit beherrschbar wurde, war es klar, dass reiche Menschen bald mehr davon haben würden als andere – beispielsweise einen achten oder sogar einen neunten Wochentag. Die Ungerechtigkeit auf der Welt würde dadurch noch größer werden …
»Oh, was ist denn das?« Frau Maurer entdeckte den Flughund und zuckte erschrocken zurück.
»Aber Mama, das ist der Kalong, von dem ich dir erzählt habe.« Olivia verdrehte die Augen. »Wahrscheinlich hast du mir wieder einmal nicht zugehört.«
Frau Maurer fühlte sich in Jonathans Gegenwart sichtlich unwohl. Laura konnte es ihr nicht verübeln. Viele Menschen mochten keine Fledermäuse, und der Flughund Jonathan war ja so eine Art Maxi-Ausgabe davon. Sicher hatten die Gerüchte dazu beigetragen, manche Fledermaus-Arten würden sich von Säugetierblut ernähren. Laura wusste inzwischen, dass Jonathan am liebsten Früchte und Blüten fraß.
»Wollt ihr mit dem Tier hierbleiben?«, fragte Frau Maurer. »Aber dann bitte draußen im Garten.«
Laura überlegte kurz. »Ich glaube, wir fahren besser zu meinem Vater«, meinte sie. »Er freut sich sicher, wenn ich ihn besuche.«
Sie hatte zwar das Wochenende bei ihm verbracht, aber das erschien ihr bereits eine Ewigkeit her. Dazwischen hatte der Achttag gelegen, und der Schreck über die Dinge, die sich in der magischen Welt ereignet hatten, saß Laura noch immer in den Gliedern. Es drängte sie, Olivia alles zu erzählen.
»Gut.« Frau Maurer nickte. Sie wirkte erleichtert, dass Laura wieder mit dem Kalong abzog. »Aber bleib nicht zu lange, Olivia!«
»Ich hole nur schnell meine Sachen«, sagte Olivia. Sie lief in ihr Zimmer und kam kurz darauf mit ihrem Rucksack zurück. »Es kann losgehen!« Sie winkte ihrer Mutter kurz zu, dann machten sich die Mädchen auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Unterwegs berichtete Laura in Kurzfassung, was passiert war. Olivia wurde blass, als sie hörte, dass Severin in der Zeitlosigkeit gefangen gewesen war. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
»Ich hasse diesen Darius! Er tut so, als würde er seine Tat bereuen! Dabei ist er ein Verräter!«
»Und ein Dieb«, ergänzte Laura. »Jetzt hat er eines von Magister Horatius’ Notizbüchern gestohlen – und das ist vielleicht noch viel schlimmer als der gestohlene Schlüssel. Es könnte sein, dass sich unter den geheimen Aufzeichnungen auch Hinweise darauf finden, wie man die Zeit beherrscht. Und dann besitzt TEMP bald die Macht über die Zeit!«
»Glaubst du, er wird das Notizbuch an TEMP verkaufen?«, fragte Olivia bang.
»Darauf kannst du Gift nehmen«, sagte Laura. »Meine einzige Hoffnung ist, dass Darius sich noch immer in der magischen Welt aufhält.« Sie erinnerte sich, wie Darius über die Brücke des schwarzen Sees gerannt war. Nicht nur gerannt. Er war regelrecht geflohen, dieser Mistkerl!
Die beiden Mädchen hatten die Bushaltestelle erreicht. Bis der Bus kam, hatte Olivia eine Reihe Verwünschungen losgelassen und sich ganz genau ausgemalt, welche Strafe ihrer Meinung nach Magister Darius verdiente.
»Du sagst, dass es in dem schwarzen See unheimliche Wesen gibt! Ich würde diesen Darius ins Wasser werfen und verhindern, dass er ans Ufer schwimmt. Sollen diese Ungeheuer mit ihm doch machen, was sie wollen!«
Laura seufzte tief. »Komm, es nützt ja alles nichts. Lass uns einsteigen.«
Eine halbe Stunde später hatten sie die alte Villa erreicht, in der Peter Lilienstedt wohnte und seine Werkstatt hatte. Am liebsten restaurierte er alte Möbel, aber er konnte auch Schränke und Regale schreinern. Vor Kurzem hatte er die Kulisse für ein Theaterstück gebaut.
Olivia und Laura gingen durch den Garten zum Hintereingang der Villa. Schon von Weitem roch Laura den Duft nach Holz und Bienenwachs, den sie so liebte. Ihr Vater saß gerade auf der Terrasse und machte eine kleine Arbeitspause, eine Kanne Tee vor sich. Als er die Mädchen bemerkte, ging ein Strahlen über sein Gesicht.
»Hallo! Was für eine Überraschung! Mit Besuch habe ich heute überhaupt nicht gerechnet!«
»Hoffentlich stören wir nicht«, sagte Olivia höflich.
»Überhaupt nicht.« Peter Lilienstedt schüttelte den Kopf. »Ich freue mich! Wenn ich gewusst hätte, dass ihr kommt, hätte ich Kuchen besorgt.« Er rückte zur Seite, damit Laura auf der Bank neben ihm Platz nehmen konnte. Olivia zog für sich einen Gartenstuhl heran und setzte sich.
»Wen hast du denn da mitgebracht?« Lauras Vater betrachtete interessiert den Flughund, der sich in Lauras Shirt festgekrallt hatte. Jonathan fiepte leise und wandte ihm den Kopf zu. Zwischen den beiden herrschte Sympathie auf den ersten Blick.
»Das ist Jonathan«, sagte Laura. »Er gehört einem … Freund.«
»Ein Kalong«, sagte Peter Lilienstedt. »Sehr hübsches Tier und gut gepflegt. Dein Freund scheint sich gut um ihn zu kümmern, obwohl man solche Kalongs eigentlich nicht als Haustier halten sollte.«
»Severin hat ihn gefunden«, sagte Laura. »Ich glaube, es hat mit ihm eine besondere Bewandtnis.«
Peter zog die Augenbrauen hoch. »Jetzt machst du mich aber neugierig. Möchtest du mir darüber mehr erzählen?«
Laura und Olivia wechselten einen Blick.
»Er spricht Gayo«, platzte Olivia dann heraus.
Laura trat ihr unterm Tisch gegen das Bein. Olivia war manchmal wirklich ein Plappermaul!
Die Freundin sah sie fragend an. Laura versuchte, ihr durch Mienenspiel zu signalisieren, dass sie die Klappe halten sollte. Bevor sich Olivia noch mehr verquatschen konnte, sprang Laura auf und zog sie in den Garten.
»Komm, ich zeig dir meine Hängematte!«
»Die kenne ich doch schon!« Olivia kapierte nichts!
»Was ist?«, fauchte Olivia, als sie bei der Hängematte angekommen waren. Ein paar trockene Blätter lagen darin. Laura wischte sie mit einer Handbewegung weg.
»Hast du nicht gemerkt, dass du drauf und dran warst, meinem Vater alles zu verraten?«
Olivia runzelte die Stirn. »Ich dachte, du willst ihn um Rat fragen. Du vertraust ihm doch, oder? Jedenfalls mehr als deiner Mutter, stimmt’s?«
Laura atmete tief durch. »Ja, das schon, aber das heißt ja nicht, dass ich gleich mit der Tür ins Haus fallen muss. Natürlich hätte ich gerne einen Rat, aber ich muss erst Severin fragen, wie viel ich meinem Vater erzählen darf.«
Olivia schnaubte ein bisschen. »Severin. Ja, natürlich.«
Laura zog ihr altes Handy hervor und rief Severin an. Leider ging nur die Mailbox dran.
»Severin, ich muss wirklich dringend mit dir reden. Es ist wichtig. Melde dich. Oder komm besser gleich zu meinem Vater.« Sie nannte die Adresse. »Ach, übrigens, Jonathan ist bei mir. Er saß auf meiner Fensterbank. Bis dann.« Sie drückte auf den roten Knopf.
In diesem Moment schien sich der Boden zu heben und zu senken. Die Welt ringsum verlor ihre Farbe. Alles wurde für ein paar Sekunden durchsichtig und sah aus wie aus Glas. Olivia quietschte laut auf und klammerte sich an Lauras Arm. Der Kalong riss sich los und flatterte kopflos durch den Garten, bis er schließlich einen Apfelbaum fand und sich dort festkrallte.
Nach wenigen Augenblicken war der Spuk vorbei. Olivia war blass wie ein Bettlaken.
»Was, in aller Welt, war das?«
Laura schluckte. »Ich fürchte, es geht früher los, als wir alle gedacht haben.«
Severin hatte sein Smartphone auf lautlos gestellt. Da es in seinem Rucksack steckte, merkte er nicht, wie es vibrierte und dass Laura mit ihm sprechen wollte. Severin war voller Wut. Am Morgen war er mit einem riesigen Groll auf Magister Darius aufgewacht. Dieser Verräter! Ein paar Stunden zuvor hatte er noch während des Achttags Reue geheuchelt – und Severin mit einem Vorwand in den Raum der Ewigkeit gelockt. Angeblich wollte er ihm zeigen, wie sich das Uhrwerk auch ohne den richtigen Schlüssel perfekt aufziehen ließ, wenn man gleichzeitig ein bestimmtes Zahnrad anhielt.
Severin machte sich jetzt noch Vorwürfe, dass er so naiv gewesen war und auf Darius’ Trick hereingefallen war. Im Grunde hatte er gar nicht gemerkt, dass er in der Ewigkeit gefangen gewesen war, denn bis zu seiner Befreiung verging nicht mal ein Wimpernschlag Zeit. Für Laura musste es ein schrecklicher Anblick gewesen sein.
Du hast ausgesehen wie versteinert!
Noch immer hatte er ihren panischen Satz in den Ohren.
Aber fast noch schlimmer als seine Gefangenschaft in der Zeitlosigkeit fand Severin den Diebstahl des Notizbuchs. Er war überzeugt, dass Darius das Buch so schnell wie möglich an TEMP verkaufen wollte. Deswegen war Severin ohne Frühstück aufgebrochen, um den ehemaligen Gymnasiallehrer in seiner Wohnung aufzusuchen und ihn zur Rede zu stellen.
Leider begann der Morgen wie verhext. Als Severin für Jonathan eine Schüssel mit Früchten hingestellt hatte, war der Kalong – entgegen seiner sonstigen Angewohnheit – nicht sofort aufgetaucht. Selbst als Severin nach ihm gerufen hatte, war er nicht erschienen. Das war ungewöhnlich. Severin machte sich Sorgen. Hoffentlich war Jonathan auf seinem nächtlichen Ausflug nichts zugestoßen. Severin hatte immer Angst, dass Jonathan zu fremden Leuten gelangen könnte, die das ungewöhnliche Tier einfingen und einsperrten … Am liebsten hätte Severin nach Jonathan gesucht, aber er musste sich entscheiden. Und das gestohlene Notizbuch war wichtiger. Das Schicksal zweier Welten hing davon ab.
Severin fuhr mit dem Bus in die Innenstadt, aber unterwegs gab es eine Störung. Der Bus hielt zwanzig Minuten lang, ohne dass es weiterging. Severin wäre am liebsten ausgestiegen und zu Fuß weitergegangen, doch die automatischen Türen ließen sich nicht öffnen. Erst als ein Fahrgast eine Scheibe einschlagen wollte, fuhr der Bus wieder los.
Völlig verschwitzt erreichte Severin schließlich die Gartenstraße, in der Darius Vollenweider wohnte. Er drückte auf die Klingel und hörte es in der Wohnung läuten, aber niemand öffnete. Damit hatte Severin gerechnet. Jetzt kam ihm seine besondere Gabe zu Hilfe. Er war ein Meister darin, Schlösser und Codes zu knacken.
Die Wohnungstür besaß noch ein altmodisches Zylinderschloss. Severin griff in seinen Rucksack und holte sein Mäppchen mit dem Elektropick heraus. Mit ihm ließen sich die meisten Schlösser in kurzer Zeit öffnen. Zum Glück war der Akku geladen.
Severin konzentrierte sich. Jetzt bloß keinen Fehler machen! Er lauschte angestrengt auf ein bestimmtes Klicken, während er den Elektropick benutzte. Sein Nacken kribbelte, er spürte, dass dort der Schweiß perlte. Da! Geschafft!
Die Tür sprang auf, und Severin konnte die Wohnung betreten. Wie schon bei seinem ersten Besuch strömte ihm ein fast unerträglicher Geruch entgegen, so als wäre wochenlang nicht gelüftet worden. Schimmel, vergammelte Essensreste, fauliges Obst. Severin widerstand dem Impuls, die Hand auf den Mund zu pressen. Er bemühte sich, möglichst flach zu atmen.
Darius Vollenweider war ein Messie. Seine Wohnung war mit Dingen zugemüllt, die andere Leute wegwarfen, beispielsweise benutzte Pizzaschachteln. Im Flur war fast kein Durchkommen mehr, da sich dort Zeitungen und Zeitschriften vom Boden bis in Hüfthöhe stapelten. Obenauf lagen zahlreiche ungeöffnete Briefe – Rechnungen und Mahnungen, wie Severin vermutete.
Darius war nicht da. Er lag auch nicht schlafend oder ohnmächtig in seinem Schlafzimmer, in das Severin nur einen flüchtigen Blick warf und das er schnell wieder verließ. Auch hier herrschte das reinste Chaos: ein ungemachtes Doppelbett mit schmuddeligem Bettzeug, auf einer Seite ein Wäschekorb mit Schmutzwäsche. Der Teppichboden war abgenutzt und versifft. Eine Schar großer schwarzer Käfer krabbelte umher.
Severin kämpfte gegen den aufsteigenden Ekel an und ging schnell ins Wohnzimmer. Diesen Raum kannte er bereits, insofern war es für ihn keine Überraschung, wie chaotisch es auch hier aussah. Auf der Couch war kaum Platz zum Sitzen. Auf dem Tisch lagen Bücher und Prospekte, darauf standen mehrere benutzte Tassen. Severin scannte den Raum mit scharfem Blick. War hier irgendwo Magister Horatius’ Notizbuch? Das ganze Durcheinander zu durchsuchen, würde Wochen dauern – und danach hatte man vermutlich eine ansteckende Krankheit!
Auf der Couch lag ein Papierstapel, der relativ neu aussah. Er hatte noch keine Kaffeeflecken oder Eselsohren. Severin trat näher heran und hob das oberste Blatt an. Es war eine Kopie und erinnerte Severin an eine Seite aus seinem Geometrieheft. Er sah genauer hin und konnte es fast nicht glauben: Das mussten lauter Kopien aus Horatius’ Notizbuch sein!
Kurz entschlossen griff Severin nach dem Papierstapel, rollte die Blätter zusammen und schob sie in seinen Rucksack. Vermutlich befand sich das Original nicht mehr in der Wohnung.
Kaum hatte Severin den Reißverschluss zugezogen, begann der Boden zu schwanken. Für einen Augenblick schwanden die Farben, und Darius’ Wohnzimmer wurde schwarz-weiß. Severin musste sich am Schrank festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er war sich nicht sicher, ob er eine Sinnestäuschung hatte. Vielleicht befanden sich ja giftige Stoffe in der Zimmerluft?
Er musste schleunigst hier raus! Wahrscheinlich war Darius Vollenweider bereits bei TEMP, um Bernd Asshoff das Notizbuch anzubieten. Vielleicht geschah es gerade in diesem Moment. Immerhin besaß Severin die Kopien. Jetzt kam es darauf an, wie schnell die Experten von TEMP aus den Aufzeichnungen schlau wurden …
Severin tastete sich in Richtung Ausgang, bemüht, so wenig wie möglich anzufassen. Aber bereits im Flur kehrten die Farben zurück, und alles schien wieder normal.
Mit einem mulmigen Gefühl verließ Severin die Wohnung.
Im Freien atmete er tief durch. Er hatte den Wunsch, seine Hände gründlich zu waschen. Oder am besten gleich ganz unter die Dusche zu springen, denn der Mief aus der Wohnung schien regelrecht in seinen Haaren zu kleben.
Als er an der Bushaltestelle wartete, erinnerte er sich an sein Smartphone. Er zog es hervor und hörte die Nachricht ab, die Laura ihm auf die Mailbox gesprochen hatte. Ihre Stimme klang panisch.
Bin in einer Viertelstunde da!, schrieb er zurück.