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Ein schrecklicher Zwischenfall

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»Au!« Laura starrte auf ihre Hand. Blut tropfte von ihrem Finger herunter. Sie hatte sich beim Kartoffelschälen geschnitten.

»Lass mal sehen!« Shirin war sofort an Lauras Seite. »Wir brauchen ein Pflaster für dich.« Suchend sah sie sich um und seufzte tief.

Laura kramte ein unbenutztes Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche und wickelte es um ihre Hand. Der Schnitt tat nicht sonderlich weh, aber vom Küchendienst war sie jetzt hoffentlich befreit. Nicht, dass sie sich extra geschnitten hätte!

In der Feenküche herrschte Chaos pur. Der Raum war so niedrig, dass die Mädchen die Köpfe einziehen mussten. Die runden Schränke bestanden aus ausgehöhlten Baumstämmen und hatten keine Tür. Innen stapelte sich das Geschirr, aber ohne jegliche Ordnung. Die kleinen Feen schienen jedoch genau zu wissen, wo ein bestimmter Teller oder Topf stand.

Im Moment befanden sich neun dieser magischen Wesen in der Küche. Sie waren ungefähr so groß wie Babypuppen, und um die Arbeitsplatte zu erreichen, mussten sie sich auf einen Hocker stellen. Es machte Laura total nervös, wenn eine Fee neben ihr oder hinter ihr herumwuselte. Manche Feen flogen auch durch die Küche, um Sachen herein- oder hinauszubringen, und es hatte schon fast zwei Beinahe-Crashs gegeben. Die Feen stießen beim Fliegen oft einen schrillen Warnton aus, der Trommelfelle und Nerven zum Flattern brachte. Laura hatte sich den Küchendienst angenehmer vorgestellt. Leider war sie von Magistra Elisa dazu verdonnert worden, den Feen einen ganzen Vormittag lang zu helfen. Zum Glück standen Anouk und Shirin Laura zur Seite, während sich Merle vor der Arbeit gedrückt hatte.

»Jetzt könnten wir Merle gut gebrauchen«, murmelte Laura und presste die Hand auf das Papiertaschentuch. Merle könnte in Windeseile ihre Verletzung heilen. Sie hatte das Talent dazu. Shirins Begabung dagegen war, das Wetter zu beeinflussen. Anouk konnte schweben. Laura war schon ein wenig neidisch auf ihre Zimmergenossinnen gewesen, weil jede von ihnen eine besondere Begabung hatte. Aber seit wenigen Stunden wusste Laura, dass sie auch ein Talent besaß: Sie konnte Gedanken lesen! Bisher nur manchmal und auch noch nicht perfekt, aber immerhin!

»Hier gibt es wahrscheinlich nirgendwo ein Pflaster«, meinte Shirin, die schon in etliche Schränke gesehen hatte. »Die Feen heilen ihre Schnittwunden vielleicht mit ihrer grünen Spucke, wer weiß.«

»Igitt!« Laura schielte nach links, wo eine Fee in einem Affentempo mit einem viel zu großen Messer Kräuter zerhackte. Dabei hatte sie eine so grimmige Miene aufgesetzt, als würde sie einen Feind zerstückeln.

Die Feen waren geheimnisvolle Geschöpfe mit weißer, fast durchsichtig wirkender Haut. Jede Fee hatte leuchtend blaue Augen und eine niedliche Stupsnase. Ihre Gesichtchen hätten wunderschön sein können, wären da nicht die Zornfalten und zusammengekniffenen Lippen gewesen. Schlechte Laune schien bei ihnen an der Tagesordnung zu sein. Außerdem wirbelten die Feen ständig hektisch herum. Sie schienen dabei keinerlei System zu haben, trotzdem wurden die Mahlzeiten immer pünktlich fertig.

»Also mir reicht’s jetzt!« Shirin knallte den Spülschwamm in eine Schüssel. »Ich habe sowieso das Gefühl, dass wir hier mehr stören als helfen. Laura und Anouk – kommt ihr mit?«

In diesem Moment begann der Küchenboden unter ihnen, leicht zu vibrieren. Laura klammerte sich automatisch an eine Tischplatte. Sie ahnte, was das Beben zu bedeuten hatte: Die magische Welt, in der sie sich gerade befand, wurde für einige Sekunden instabil!

Und so war es auch. Das Beben nahm zu, und die Wände wurden für einen Moment durchsichtig. Die Küchenfeen kreischten noch lauter als sonst. Geschirr fiel zu Boden, ein Kürbis kullerte über den Tisch, Pfannkuchen flogen umher, und von der Decke bröselte der Putz.

Es kam Laura wie eine Ewigkeit vor, dabei hatte der Spuk höchstens zehn Sekunden gedauert. Danach war alles wie zuvor – oder auch nicht. Die Wände in der Küche waren wieder massiv, aber im Mauerwerk waren einige deutliche Risse zu sehen.

Die Feen schienen wenig beeindruckt zu sein. Sie begannen schon mit den Aufräumarbeiten. Eine Fee flog sogar schon mit einem Gipsbecher durch die Gegend, um die Risse zuzuspachteln.

Anouk presste die Hände auf die Brust. »Ich habe mich so erschrocken! Was passiert hier? Wir hatten das in der letzten Zeit schon ein paar Mal, aber so schlimm wie heute war es noch nie!«

Shirin rannte schon aus der Feenküche. Laura folgte ihr, obwohl sie spürte, dass die rosa Pantoffeln an ihren Füßen Widerstand leisteten. Klar, sie waren »magisch programmiert«, damit Laura in der Feenküche blieb und ihre Strafe abarbeitete.

Es war, als klebten die Pantoffeln auf dem Boden. Als Laura einmal fast stürzte, wurde es ihr zu bunt. Sie schlüpfte aus den Schuhen und nahm sie in die Hand. Anouk hinter ihr machte es ihr nach.

Shirin blieb so plötzlich stehen, dass Laura in sie hineinlief.

»Oje!«, stöhnte Shirin laut.

»Was ist los?«, fragte Laura.

»Da … liegt … Mäxchen!« Shirin bückte sich.

»Mäxchen?«, schrie Anouk voller Panik. Mäxchen war ihr kleines zahmes Seidenäffchen. Es war neugierig und frech und hatte die Mädchen schon oft zum Lachen gebracht.

Shirin drehte sich um. In der Hand hielt sie ein goldgelbes Fellbüschel. Laura sog vor Schreck die Luft ein. Sie sah, dass Mäxchens Kopf unnatürlich zur Seite hing. Das seidige Fell war voller Blut …

»O nein!« Anouk presste die Hände auf den Mund. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Shirin schluckte. »Ich fürchte … es ist … Ich habe nichts gemacht, es lag einfach so auf der Treppe! Es tut mir so leid!«

Anouk streckte die Hände aus, und Shirin legte das leblose Äffchen hinein. Anouk schluchzte laut. Tränen rannen ihr über die Wangen. Auch Laura begann zu weinen. Das süße kleine Äffchen! Hoffentlich war Samson nichts zugestoßen! Der schwarze Kater strolchte sicher wieder irgendwo im Schloss herum.

Anouk sprach keinen Ton, bis die Mädchen ihr Zimmer erreichten. Merle war nicht da. Shirin schaute gleich unter ihr Bett, um sich zu vergewissern, dass es ihrer Schildkröte Euphemia gut ging. Der Kater Samson rekelte sich faul auf Lauras Bett. Laura fiel ein Stein vom Herzen.

Anouk hatte auf einem Stuhl Platz genommen. Unaufhörlich streichelte sie das tote Äffchen, als könnte sie es so ins Leben zurückbringen. Shirin wollte tröstend den Arm um sie legen, aber Anouk schüttelte ihn ab.

»Warum ausgerechnet Mäxchen? Warum? Er war doch noch so jung. Warum habe ich ihn nur mit in den Keller genommen? Wäre er hier im Zimmer geblieben, wäre er jetzt noch am Leben …«

»Du darfst dir keine Vorwürfe machen«, sagte Laura. »Du weißt doch so gut wie ich, dass sich Mäxchen nicht hat einsperren lassen. Er wollte nichts verpassen! Und wenn du ihn nicht mitgenommen hättest, dann wäre er dir trotzdem gefolgt.«

Anouk nickte und schluchzte lautlos. Shirin hielt ihr hilflos eine Schachtel Papiertaschentücher hin. Anouk langte hinein, holte ein Tuch heraus und putzte sich die Nase.

»Wir müssen Mäxchen begraben«, sagte sie dann mit tonloser Stimme. »Ich … ich habe überlegt, ob ich ihn dazu in die reale Welt zurückbringe. Aber er ist hier gestorben … und vielleicht … vielleicht ist seine Seele noch hier. Und deswegen …«

Laura spürte einen Druck auf der Brust. Es war so traurig, mit ansehen zu müssen, wie Anouk litt. Vielleicht würde es Anouk tatsächlich helfen, Mäxchen zu begraben. Dann konnte sie das Grab immer besuchen und sich daran erinnern, was für ein fröhliches Äffchen Mäxchen gewesen war.

»Hast du schon einen Platz im Sinn?«, fragte Shirin behutsam.

»Am Ufer des Sees«, murmelte Anouk. »Da haben wir zuletzt gespielt, Mäxchen und ich. Ich hab einen kleinen Ball geworfen, und den hat mir Mäxchen immer wieder zurückgebracht.« Ihre Lippe zitterte bei dieser Erinnerung. Laura sah, wie Anouk erneut gegen eine Tränenflut kämpfte. Sie streichelte mitfühlend ihren Arm.

Anouk stand auf. »Am besten machen wir es gleich.« Sie ging zu ihrem Teil des Schranks, öffnete die Tür und nahm einen türkisfarbenen Schal heraus, in den sie das tote Seidenäffchen wickelte.

Wenig später standen die drei Mädchen am Ufer des Sees, der das Schloss der Ewigkeit umgab. Wie immer sah das Wasser dunkel und gefährlich aus. Am Grunde des Sees lebten unheimlich Kreaturen, mit denen man besser keine Bekanntschaft machte.

Shirin hatte einen kleinen Spaten dabei, den sie sich von einem der Feenmänner ausgeliehen hatte. Sie lief am Ufer hin und her und stieß den Spaten immer wieder probeweise in die Erde.

»Ziemlich hart hier. Alles voller Wurzeln. Vielleicht sollten wir uns doch lieber einen anderen Platz suchen«, meinte sie.

»Was macht ihr hier?«, fragte eine Stimme hinter Anouk und Laura.

Es war Merle.

»Mäxchen ist tot«, sagte Anouk. »Er ist ums Leben gekommen, als es vorhin wieder diese … Turbulenz gab.«

Merle zog die Augenbrauen zusammen. Sie streckte die Arme aus.

»Gib mir das Äffchen.«

Anouk zögerte. »Warum?«

»Ich will es mir ansehen.«

»Na gut.« Anouk schien Merle das tote Äffchen nur ungern zu überlassen. »Aber nur kurz.«

Merle schlug den Schal zurück. Vorsichtig berührte sie mit dem Zeigefinger das tote Tier. Anouk wurde ganz unruhig.

»Merle hat heilende Hände«, sagte Laura, obwohl ihr klar war, dass man das Äffchen nicht mehr heilen konnte. Es war mausetot. Der kleine Körper wurde bereits kalt.

Merle drehte sich um und entfernte sich ein Stück.

»Wo will sie mit Mäxchen hin?« Anouk wurde fast hysterisch.

»Bestimmt will sie sich nur in Ruhe von ihm verabschieden«, meinte Shirin. »Sie hat Mäxchen ja auch gerngehabt.« Sie legte den Arm um Anouk, die jetzt wieder furchtbar schluchzte.

»Er wird nie mehr auf meiner Schulter sitzen … Nie mehr aus meiner Hand fressen … Nie mehr in meinen Haaren wühlen …«

Während Shirin damit beschäftigt war, Anouk zu trösten, folgte Laura Merle. Sie versuchte, Merles Gedanken zu lesen, um zu wissen, was sie vorhatte. Aber es klappte nicht.

Vielleicht bin ich jetzt zu aufgewühlt, dachte Laura. Ich muss ruhig und konzentriert sein, sonst funktioniert es nicht.

Merle war stehen geblieben. Laura näherte sich ihr in einem großen Bogen. Merle malte mit der freien Hand merkwürdige Zeichen in die Luft. Sie murmelte leise vor sich hin. Ihre Miene war ernst, der Blick auf das Äffchen fokussiert. Ein dunkler Falter tanzte um ihren Kopf und schien unschlüssig zu sein, ob er sich auf ihrer Schulter niederlassen sollte oder nicht.

Plötzlich glaubte Laura, eine Bewegung zu sehen. Aber das konnte nicht sein! Oder doch? Mäxchen hob den Kopf! Seine dünnen Arme fassten nach Merles Kragen. Jetzt richtete sich das Äffchen auf und blickte in Lauras Richtung.

Laura hatte die Luft angehalten. Sie traute ihren Augen nicht. Mäxchen lebte!

Merle setzte ein zufriedenes Lächeln auf, wickelte den kleinen Kerl wieder in den Schal ein und ging so zu Anouk und Shirin zurück.

»Es war nur eine Art Schockstarre«, behauptete Merle, während sie Anouk das Äffchen vorsichtig in die Hände drückte. Mäxchen schien wieder ganz der Alte zu sein; er schaute neugierig umher, knabberte vergnügt an dem Schal – war quietschlebendig. »Wahrscheinlich hat er sich vorhin furchtbar erschreckt und sich dann lieber tot gestellt.«

»Aber … da war doch Blut … und sein Genick …«, stammelte Shirin, woraufhin ihr Merle einen so eisigen Blick zuwarf, dass sie einfach den Mund zuklappte.

Mäxchen war tot, dachte Laura. Ganz sicher. Er war ja schon kalt. Wie hat Merle das gemacht?

Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Konnte Merle nicht nur heilen, sondern auch den Tod besiegen? Laura schüttelte sich. Merle war ihr unheimlich.

Dagegen war Anouk überglücklich. Sie liebkoste das Äffchen, wiegte es im Arm und ließ es zu, dass Mäxchen auf ihren langen blonden Haaren herumkaute.

Shirin stand noch immer völlig verdattert da. Sie hielt den Spaten demonstrativ in die Höhe. »Den brauche ich jetzt wohl nicht mehr, oder?«

Erst am Nachmittag hatte Laura Gelegenheit, allein mit Merle zu reden. Diese war nicht besonders begeistert darüber.

»Was ist?«

»Wegen heute Vormittag. Mäxchen war tot, oder? Richtig tot, meine ich.«

Merle zuckte nur mit den Schultern.

»Ich will es wissen«, sagte Laura. »Du kannst nicht nur heilen. Du kannst noch mehr.«

Merle ließ sich Zeit mit der Antwort. »Und wenn?«, sagte sie dann.

»Aber Merle, das ist … das ist ja Wahnsinn!« Laura sprudelte mit einem Mal über. »Dann muss sich niemand mehr vor dem Tod fürchten! Das ist … großartig.«

Merle starrte auf ihre Hände. Ihre Miene war wieder düster, wie so oft. »Ich weiß nicht, ob das so großartig ist. Vielleicht ist es auch ein Fluch, diese Lazarus-Gabe.«

»Warum Lazarus-Gabe?«

»Kennst du nicht die Stelle in der Bibel, wo Jesus den toten Lazarus wieder zum Leben erweckt? Dabei war der schon vier Tage tot oder so.«

»Ach so, doch. Jetzt erinnere ich mich.« Ihr Vater hatte Laura die Geschichte vor einiger Zeit erzählt.

Merle hob ihre Hände hoch und sah sie so feindselig an, als gehörten sie nicht zu ihr.

»Anouk ist so froh, dass es Mäxchen wieder gut geht«, versuchte Laura, Merle aufzumuntern.

»Wenn sich das herumspricht, was glaubst du, was da los ist!«, sagte Merle leise. »Sie werden mir ihre toten Haustiere bringen. Und dann muss ich vielleicht auch Menschen …« Sie schlug die Hände vors Gesicht, ohne den Satz zu beenden. Laura hörte sie nur undeutlich murmeln. »Ich will das nicht, Laura! Diese Gabe belastet mich!«

Laura wusste nicht recht, was sie tun sollte. O ja, so eine Gabe war durchaus auch problematisch. Aber wie viel Gutes Merle damit bewirken konnte!

Merle nahm die Hände vom Gesicht. »Ich … fürchte, ich kann es auch andersherum.«

»Was meinst du damit?«, fragte Laura.

Merle sah sie nur an und sagte nichts.

Ich kann auch den Tod bringen …

»Du kannst …« Laura beendete den Satz nicht.

Merle nickte. »Allein mit der Kraft meiner Gedanken. Oder mit meinen Händen, ohne dass ich jemanden berühre.«

Laura schluckte schwer. »Das ist echt heftig.«

»Was glaubst du, Laura, wie große Angst ich habe, dass ich versehentlich jemanden umbringe? Ich trau mich gar nicht richtig, meine Gabe anzuwenden. Bisher habe ich es nur an Pflanzen ausprobiert. Es funktioniert. Sie verdorren, auch wenn ihnen sonst nichts fehlt.«

»Neulich … der Schmetterling auf deiner Hand …« Laura spürte wieder das kalte Gefühl, das sie damals gehabt hatte.

»Das ist mehr aus Versehen geschehen. Ich dachte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich war mir meiner Gabe nicht sicher. Glaub mir, ich bin selbst zu Tode erschrocken, als der Falter plötzlich reglos auf dem Rücken lag. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich daran schuld war. Ich dachte, die Lebenszeit des Schmetterlings sei eben abgelaufen gewesen. Passiert ja auch in der realen Welt. Ein Falter breitet noch einmal seine Flügel aus, dann ist er tot.«

Vielleicht funktionierte Merles Gabe ja überall, nicht nur hier. Laura hatte den Eindruck, dass jemand ihr die Luft abschnürte.

»Lass uns das Thema wechseln«, sagte sie mit gepresster Stimme.

»Nur zu gern. Und du musst mir versprechen, dass du die Klappe hältst. Verrate den anderen nichts von dem, worüber wir gerade geredet haben.«

»Versprochen!«

Der magische achte Tag

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