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Schlechte Aussichten für die Ferien

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Den ganzen Nachmittag musste Laura an das Gespräch mit Merle denken. Sie war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Abscheu. In einem Moment fand sie es toll, was Merle konnte, im anderen packte sie das blanke Entsetzen. Sie hätte so gern mit jemandem darüber gesprochen, um eine zweite Meinung zu der Sache zu bekommen. Aber sie musste ja schweigen …

Kein Wunder, dass sich Laura beim Unterricht kaum konzentrieren konnte. Anouk schwebte im Flugunterricht bis unter die Decke und stieß sich schmerzhaft den Kopf.

»Wo hast du nur deine Gedanken, Anouk!«, schimpfte Magistra Elisa, die sonst sehr geduldig war. Aber anscheinend hatte sie einen schlechten Tag. »Beim Fliegen muss man schon aufpassen! Und die Decke ist ja nicht erst seit heute da.«

»Entschuldigung!«, murmelte Anouk. Nach einer schnellen und ungeschickten Landung saß sie mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Matte und betastete vorsichtig ihre Beule.

»Nun lauf schon und hol dir aus der Feenküche Eiszapfen, damit du deine Verletzung kühlen kannst«, forderte Magistra Elisa sie auf.

»Danke«, sagte Anouk leise und ging etwas schwankend zur Tür.

»Ich geh mal lieber mit.« Shirin schloss sich ihr an. »Nicht, dass sie noch ohnmächtig wird – falls es eine Gehirnerschütterung ist.«

Magistra Elisa klatschte in die Hände. »Hallo, ihr anderen! Genug pausiert! Wir versuchen es noch einmal. Stellt euch gerade auf die Matten und breitet eure Arme nach der Seite aus. Und jetzt stellt euch vor, dass ihr schwerelos seid! Die Füße heben vom Boden ab …«

Von den restlichen sechs Schülerinnen gelang es nur Catronia zu schweben. Ihre Füße hingen ungefähr einen halben Meter in der Luft.

»Du warst schon besser, Catronia!«, rief die Magistra. »Was ist heute los mit dir?«

Catronia knallte unsanft auf der Matte auf und rieb sich das Schienbein. »Mir geht’s nicht so gut.«

Magistra Elisa schüttelte den Kopf. »Ich kenne eure Welt auch, und ich weiß, dass viele Mädchen nicht am Sportunterricht teilnehmen, weil sie Bauchweh, Kopfweh oder irgendwelche Allergien haben. In dieser Welt gibt es kein Attest, das euch von der Teilnahme am Unterricht befreit.«

Jetzt klingt sie ganz nach meiner Mutter, dachte Laura befremdet. Die Ähnlichkeit, die Magistra Elisa mit Valerie Lilienstedt hatte, war ohnehin irritierend. Sie sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Lauras Mutter. Im Verhalten war sie bisher allerdings ganz anders gewesen – verständnisvoll, geduldig und einfühlsam. Sie hatte auch immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Mädchen gehabt.

Laura hob den Arm. Als Magistra Elisa ihr zunickte, begann sie zu reden: »Warum müssen wir anderen hier noch immer üben? Außer bei Anouk und Catronia zeigt sich doch bei niemandem Talent zum Fliegen. Meiner Meinung nach ist der Unterricht für uns andere völlig sinnlos!«

O weh, hatte sie das wirklich gesagt! Aber das war eine Frage, die Laura beschäftigte – und wahrscheinlich nicht nur sie.

Magistra Elisa funkelte Laura leicht verärgert an.

»Nichts ist sinnlos, was ich anordne, Laura. Konzentrationsübungen könnt ihr alle gebrauchen! Außerdem kann es sein, dass sich eine Begabung erst ziemlich spät zeigt, weil zunächst eine innere Blockade überwunden werden muss. Es kann auch passieren, dass ein Talent wieder verloren geht. In dieser Welt ist alles möglich. Deswegen quäle ich euch mit diesen Übungen. Ich werde euch rechtzeitig Bescheid geben, wenn ihr nicht mehr zu meinem Unterricht kommen müsst.«

Im Saal setzte leises Gemurmel ein. Bis auf Catronia dachten alle genauso wie Laura. Warum sollte man etwas üben, was man niemals beherrschen würde? Kein Mädchen glaubte wirklich daran, eine »Spätzünderin« zu sein, was die Flugkunst betraf.

»Na gut, da heute offenbar niemand besonders gut in Form ist, beenden wir vorzeitig den Unterricht«, sagte Magistra Elisa, jetzt wieder in der gewohnten Sanftheit. »Ihr habt Freizeit bis zum Abendessen.«

Als Laura zurück ins Zimmer kam, saß Anouk auf ihrem Bett und hielt ein Handtuch gegen ihren Kopf. In dem Tuch waren Eiszapfen. Mäxchen fand das toll und zerrte immer wieder an dem Tuch, sodass einzelne Eiszapfen herausfielen. Er schnappte sich einen, flüchtete damit auf den Schrank und begann, begeistert zu lutschen.

»Tut es arg weh?«, fragte Laura.

»Es geht so«, antwortete Anouk.

»Ich kann ja mal mein Glück versuchen.« Merle, die mit Laura zurückgekommen war, trat auf Anouk zu.

Zögernd nahm Anouk das Handtuch von ihrem Kopf und ließ zu, dass Merle die Hand auf ihre Haare legte.

»Mächtige Beule«, sagte Merle. »So groß wie ein Hühnerei.«

Anouk verdrehte die Augen. »Jetzt fang schon an.«

Merle konzentrierte sich. Ihre Hand lag jetzt nicht direkt auf Anouks Kopf, sondern schwebte einige Zentimeter darüber.

Zwei blaue Falter flatterten durch das geöffnete Fenster herein und umkreisten die beiden Mädchen. Laura sah gespannt zu. Sie war innerlich völlig verkrampft, denn inzwischen hatte sie mächtigen Respekt vor Merles Fähigkeit.

Sie könnte Anouk auch schaden!, schoss es ihr durch den Kopf. Merle könnte ihre Schmerzen noch verstärken …

Sofort schämte sich Laura für ihre Gedanken. Merle war kein böser Mensch!

Anouk traut mir seit heute Vormittag auch nicht mehr, obwohl ich ihr Äffchen gerettet habe. Und Laura guckt auch wieder ganz komisch …

Huch! Laura zuckte zusammen. Die Stimme in ihrem Kopf hatte ganz klar gesprochen. So deutlich hatte sie noch nie die Gedanken eines anderen Menschen wahrgenommen! Offenbar stimmte es, dass sich die Fähigkeiten nach und nach verstärkten – natürlich nur, wenn man seine Gabe akzeptierte und sie auch trainierte.

»Ist es jetzt besser?«, fragte Merle.

Anouk schien einen Moment lang zu überlegen und schüttelte den Kopf.

»Dann kann ich dir auch nicht helfen«, sagte Merle mürrisch und zog sich auf ihr Bett zurück.

»Danke trotzdem für den Versuch«, sagte Anouk.

Von Merle kam keine Antwort mehr. Sie spielte mit Brutus, ihrer weißen Ratte. Diese schnupperte zuerst an Merles Bauch, dann kletterte sie hoch und kroch in den Kragen. Nur der rosa Schwanz hing noch heraus.

Der schwarze Kater Samson machte Stielaugen. Er sprang mit einem großen Satz vom oberen Stockbett und näherte sich Merle.

»Scher dich bloß zum Teufel«, knurrte diese. »Meinen Brutus kriegst du nicht! Lauf lieber in die Feenküche, dort liegt genug Zeug herum, das du fressen kannst.«

Aber Samson kletterte lieber wieder in Lauras Bett, rollte sich auf dem Kissen zusammen und schnurrte.

Laura hatte sich vorgenommen, bis Mitternacht wach zu bleiben, um den Switch in die reale Welt nicht zu verpassen. Aber eine halbe Stunde vorher fielen ihr die Augen zu, und sie träumte lauter wirre Sachen, bis sie von Amys Roboterstimme geweckt wurde.

»Auf-s-tehen, bitte!« Die Teleskoparme zogen ihr die Bettdecke weg.

»Das ist fies, Amy!«, beschwerte sich Laura. »Man sollte dich umprogrammieren. Du solltest mich ganz sanft wecken und sagen: Heute ist ein wunderschöner Tag, Laura! Du könntest aufstehen, aber es macht mir auch nichts aus, wenn du liegen bleibst

»Nix umprogrammieren!«, brummte Amy und surrte zur Tür hinaus.

Es war ungewöhnlich ruhig in der Wohnung. Laura brauchte einen Moment, bis sie wusste, was fehlte: Elias’ Geschrei. Ihr neunjähriger Bruder war noch im Krankenhaus. Er litt an ADHS und hatte sich beim Herumtoben verletzt. In dieser Woche würde er entlassen werden.

Als Laura aus dem Bad kam, telefonierte ihre Mutter bereits wieder mit dem 3-D-Telefon. Laura erhaschte einen Blick auf das Hologramm und unterdrückte ein Stöhnen. Doktor Bernd Asshoff, Mamas Chef und seit Kurzem ihr Freund. Laura mochte ihn nicht, und das nicht nur, weil sie insgeheim hoffte, dass Mama und Papa wieder zusammenkamen. Laura fand Asshoff schleimig und unsympathisch, außerdem hatte sie den starken Verdacht, dass dieser Mann zwei Gesichter besaß: nach außen hin nett und freundlich, aber in Wahrheit berechnend und eiskalt. Warum sich ihre Mutter ausgerechnet in ihn verliebt hatte, war Laura ein Rätsel. Asshoff war das krasse Gegenteil von Papa.

»Hi, Laura, möchtest du Bernd nicht kurz Hallo sagen?«, flötete Mama und hielt das Telefon in Lauras Richtung. Holo-Asshoff verzog seinen Mund zu einem süßlichen Lächeln.

»Hallo, Laura, wie geht es dir?«

»Danke, sehr gut!«, schleimte Laura im selben falschen Tonfall zurück. »Hab nur keine Zeit, ich muss zur Schule!«

»Hab einen schönen Tag und bis bald«, säuselte Asshole, wie Laura ihn insgeheim nannte.

Wenn man einen Dartpfeil mitten in das Hologramm warf, was würde dann wohl passieren? Vielleicht funktionierte das wie beim Voodoo, und Asshole würde ordentlich Kopfschmerzen bekommen.

In der Küche hatte Amy schon das Lunchpaket für Laura vorbereitet. Sie frühstückte fast immer im Auto, weil morgens fast nie genug Zeit war. Auch für Elias lag ein Lunchpaket bereit.

»O Amy, Elias ist doch noch im Krankenhaus«, sagte Laura, woraufhin Amy das überzählige Paket schnappte und mit Wucht in den Mülleimer warf. Konnten sich Roboter ärgern? Es hatte jedenfalls so ausgesehen.

»Laura, wir müssen los«, drängte ihre Mutter, die endlich aufgehört hatte, zu telefonieren.

»Vergiss nicht, Samson zu füttern«, sagte Laura zu Amy, dann verließ sie mit ihrer Mutter die Wohnung.

Kurz darauf saßen sie in dem selbstfahrenden Auto, das Laura zur Schule und Mama in die Firma TEMP brachte. Laura packte ihr Lunchpaket aus, und Valerie Lilienstedt trank ihren unvermeidlichen Kaffee, ohne den sie offenbar nicht leben konnte.

»Was hast du eigentlich gegen Bernd?«

»Nichts, Mama.«

»Dann könntest du ruhig ein wenig netter zu ihm sein. Er soll nicht denken, dass du so ein ekelhafter Teenager bist, wie man ihn in manchen Netstream-Serien sieht.«

Laura verschluckte sich fast an ihrer Mohrrübe. Im Vergleich zu Elias war sie ja wohl harmlos!

»Ich finde einfach, dass er nicht zu dir passt, Mama!«

»Woher willst du das wissen? Du kennst ihn ja kaum.«

Laura zuckte mit den Schultern.

»Du wirst ihn schon noch mögen«, sagte Valerie Lilienstedt zuversichtlich. »Damit ihr euch besser kennenlernt, habe ich Bernd gefragt, ob du ein Praktikum bei ihm machen kannst. Nächste Woche sind Pfingstferien, und du solltest deine freie Zeit nutzen. Man kann nie genug Praktika vorweisen.«

Laura schnappte empört nach Luft. Das war wieder mal typisch Mama! Sie arrangierte etwas, ohne Laura zu fragen! Dabei hatte sich Laura schon darauf gefreut, wieder einmal ein paar Tage bei ihrem Vater verbringen zu können.

»Zu einem Praktikum bei TEMP habe ich absolut keine Lust!«, erklärte sie.

»Nicht? Schade.« Mamas Stimme klang merklich kühler. »Ich dachte, du freust dich. Normalerweise bekommt man nicht so schnell die Chance zu so einem Praktikum. Der Name TEMP macht sich sicher mal gut in deinem Lebenslauf.«

Laura hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten und laut geschrien. Sie hasste es, wenn Mama über ihre Zukunft sprach. Ihre Mutter schien schon alles durchgeplant zu haben: Schulabschluss, natürlich möglichst mit Auszeichnung, danach ein Studium an einer der besten Universitäten. Und Ferien oder Urlaub dazwischen nutzen, um sich weiterzubilden, bis man es geschafft hatte. Geschafft hieß: genügend Knete verdienen. Jede Minute der Karriere oder seiner körperlichen Fitness widmen. Kein Platz mehr für Spaß und Spielereien, keine unsinnige Zeit verschwenden mit Träumen.

So wollte Laura niemals leben!

Sie dachte an die magische Welt des achten Tages und fühlte sich mit einem Mal leicht und frei. Der achte Tag war ihr Geheimnis. Ihre Insel. Ein Ort, an dem noch richtige Abenteuer passierten und alles möglich war …

»Hörst du mir überhaupt zu? Warum grinst du so?«

»Ich grinse nicht«, log Laura und bemühte sich, ein ernstes Gesicht zu machen.

»Denk wenigstens über das Praktikum nach«, fuhr ihre Mutter fort. »Natürlich kannst du in den Ferien auch gern auf Elias aufpassen, wenn dir das lieber ist. Ich kann mir nämlich keinen Urlaub nehmen, weißt du. Wir haben in der Firma gerade ein wichtiges Projekt.«

»Das ist Erpressung!«, knurrte Laura.

»Nenn es, wie du willst«, erwiderte ihre Mutter. »Du hast die Wahl.«

Vierzehn Tage mit Elias! Was für ein Albtraum! Laura nagte an ihrer Unterlippe. Vielleicht war das Praktikum dann doch die bessere Lösung, obwohl Laura keinerlei Wert darauf legte, mehr Zeit mit Bernd Asshoff zu verbringen. Schon bei dem Gedanken daran bekam sie Magenschmerzen.

»Du kannst es dir ja bis zum Ende der Woche überlegen«, sagte Valerie Lilienstedt. »Bernd freut sich sicher, wenn du dich für das Praktikum bei TEMP entscheidest.«

Zum Glück hatte das Auto inzwischen Lauras Schule erreicht und hielt an. Laura schnappte sich ihren Rucksack und ihren Sportbeutel und stieg aus.

»Tschüss, Mama!«

»Tschüss, Laura! Hab einen schönen Tag!«

Der magische achte Tag

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