Читать книгу Die Frau des Kommissars - Mart Schreiber - Страница 3
Kapitel 1 – Kopfweh
ОглавлениеMarlies öffnet vorsichtig die Augen und schließt sie gleich wieder. Sie hat keine Ahnung, wo sie sich befindet. Ja, sie liegt in einem Bett, aber in welchem? Und wo ist eigentlich Joe? Sie tastet nach ihm. Er liegt doch immer links von ihr. Sie spürt nur eine zerwühlte Bettdecke. Das dumpfe Gefühl in ihrem Kopf wird von einem stechenden Schmerz überdeckt. Und gleich von noch einem. Es ist, als würde der Blitz einschlagen. Die Erinnerung an gestern Abend kehrt in Bruchstücken zurück. Schnaps, einen Zirbenen. Sie weiß nicht mehr, wie viele Stamperl sie getrunken hat. Bram, der Hotelier aus Belgien, hat immer gleich nachgeschenkt. Marlies wagt einen neuen Versuch, die Augen zu öffnen. Die Sonne schimmert durch die zugezogenen Vorhänge. Den Kopf zu drehen ist keine gute Idee. Jede Bewegung löst den durchdringend stechenden Schmerz erneut aus. Sie muß aber ins Bad, weil ihr speiübel ist.
Nach einigen Minuten über der Kloschüssel gibt sie auf. Es kommt nichts. Sie wäscht sich das Gesicht mit kaltem Wasser und trinkt direkt vom Wasserhahn. Aspirin, das braucht sie jetzt. Ob zwei reichen werden?
Joe blättert mit gelangweilter Miene in einer Zeitung. Wie habe ich es nur in den Frühstücksraum geschafft, denkt Marlies. Joe hebt den Kopf und grinst Marlies an. Freude drückt das nicht aus, eher Spott, denkt Marlies.
„Einen wunderschönen guten Morgen. Auch schon da?“
„Sei bitte lieb. Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.“
„Ich will jetzt nicht fragen, woher das kommt. Vermutlich vom Föhn. Schau doch raus, keine Wolke am Himmel. Alle Gipfel sind frei.“
Marlies mag vieles an Joe, manchmal sogar seine Ironie. Aber nur, wenn sie imstande ist zu kontern.
„Kaffee. Vorher brauchst gar nicht mit mir zu reden.“
Eine Stunde später gleiten sie mit dem Sessellift von Tauplitz über den leicht ansteigenden Talboden. Zur rechten Hand liegen noch einzelne Häuser, bevor der Wald beginnt und es kurz danach steil Richtung Tauplitzalm hinaufgeht. Links zeigt die leicht kupierte, sehr breite Piste ihr schon durchfurchtes Weiß.
Marlies spürt die Wirkung der Tablette. Sie mag diesen flachen Teil. Er wirkt so friedlich und beschaulich. Sie hat ihren Kopf an Joes Schulter gelehnt und die Augen geschlossen. Wenn sie etwas ganz besonders an ihm mag, dann ist es seine Ruhe und Gelassenheit. Und seine Gutmütigkeit, wenigstens ihr gegenüber. Marlies weiß, dass sie das glatte Gegenteil ist. Lebhaft, quirlig, leicht exaltiert. Und schon mal auch ungeduldig.
„Warum hast du nicht auf mich aufgepasst?“, sagt sie gespielt vorwurfsvoll.
„Ich dachte immer, du kannst gut auf dich selbst aufpassen.“
„Red dich nicht aus. Du weißt doch, dass ich eine schwache Frau bin.“
„Heute abend lasse ich dich nicht aus den Augen, mein Schatz.“
Marlies ist eine hervorragende Schifahrerin, die ihre Spur gerne durch den jungfräulichen Schnee abseits der Piste zieht. Noch lieber sind ihr Schitouren, weit weg von Schiliften und Pisten. Sie bedauert es sehr, dass Joe unpräparierte Abfahrten meidet. Selten fährt er bei frischem Pulverschnee neben der Piste ab. Nur, wie oft gibt es schon frischen Pulverschnee? Nach zwei gemeinsamen Schitouren, bei denen er zwar gut hinauf, jedoch wegen der vielen Stürze total entkräftet wieder nach unten gekommen ist, hat er auf weitere Versuche verzichtet. „Wozu gibt es Pisten und Lifte?“, hat er gesagt.
Der liebe Petrus entschuldigt sich mit Sonnenschein pur und kaum Wind für den dichten Nebel und nachfolgenden Schlechtwettereinbruch am gestrigen Nachmittag. Wenn man vom leicht pappigen Schnee absieht, sind die Bedingungen heute ideal. Trotzdem fährt sie in der ersten Stunde nur auf der Piste, gemeinsam mit Joe. Nicht einmal Lust zu akrobatischen Einlagen wie Rückwärtsfahren und Drehungen hat sie. Wenn es zu schnell wird, überkommt sie ein mulmiges Gefühl und der stumpfe Schmerz im Kopf erinnert sie an gestern abend. Sie schwingt hinter Joe den Schneiderkogel hinunter und schlägt lange vor Mittag vor, beim Hotel Hierzegger, das am Fuß des Schneiderkogels liegt, eine Kaffeepause auf der Terrasse einzulegen.
Der Kaffee ist ausgetrunken und Joe hat bereits bezahlt. Marlies sitzt mit geschlossenen Augen weit zurückgelehnt in ihrem Sessel. Sie drängt nicht darauf, wieder in die Schi zu steigen, sie braucht Ruhe. In ihrem Kopf wird ein wummerndes Geräusch immer lauter. Wie wird sie das nur wieder los? Sie hofft auf die Wirkung des dritten Aspirins. Als sie die Augen öffnet, sieht sie einen Hubschrauber in Richtung Lawinenstein fliegen. Marlies schaut ihm nach, bis er hinter dem Kamm verschwunden ist.
„Da hat’s sicher jemand erwischt. Manche rasen ja, als wären sie alleine auf der Piste“, sagt Joe.
Marlies nickt: „Es muss ja kein Zusammenstoß sein. Manchmal ist es nur ein einfacher Sturz, und schon hast du einen komplizierten Beinbruch.“
„Oder eine Kopfverletzung. Du solltest auch einen Helm tragen.“
Das Rotorgeräusch wird wieder lauter, der Hubschrauber taucht hinter dem Bergrücken auf und fliegt in südwestliche Richtung davon.
Die Pause hat ihr gutgetan. Ihr Kopf ist fast klar, auch der Druck auf die Augen hat deutlich nachgelassen. Sie beschließen, zum Lawinenstein zu queren. Wie auch gestern fährt Marlies nun ihre Varianten im Gelände. Erst um drei machen sie eine Pause in der Kriemandlhütte. Selbst um diese Zeit ist sie überfüllt. Vor der Hütte ist sowieso alles besetzt, also bleibt nur das Innere, was bei Sonnenschein nicht die erste Wahl ist. Eine Gruppe von Bergrettern sitzt in einer Ecke der Hütte beisammen, gut zu erkennen an den roten Jacken, die sie über die Sessel gehängt haben. Marlies zieht es förmlich zu ihnen hin. Vielleicht haben die mit dem Hubschraubereinsatz zu tun, denkt sie.
„Habt’s eine Übung ghabt?“
„Nein, einen Einsatz. Aber das war schon kurz vor Mittag.“
„Aha, habt ihr den Hubschrauber angefordert?“
Einer der Bergretter dreht sich zu ihr: „Ganz schön neugierig bist. Wie eine Journalistin.“
„Nein, ich bin Lehrerin.“
„Na, da haben wir’s. Von mir wollten die Lehrer auch immer so viel wissen. Aber eine Antwort haben’s nur selten kriegt.“
Alle lachen und heben die Bierkrüge. Marlies legt den Kopf leicht zur Seite und zeigt einen Schmollmund.
„Nichts für ungut. Is ja nur Spaß“, sagt der große Bergretter mit dem Bubengesicht.
„Und habt ihr jetzt?“
Sie lachen wieder und klopfen sich auf die Schenkel.
„Sie lasst net locker. Ja, haben wir. Aber mehr sagen wir dir jetzt nimmer.“
„Und wo war’s?“ Sie sieht den Wortführer bittend an.
„Zahlst a Runde Schnaps?“
Marlies wirft einen Blick zu Joe. Er schaut nicht her, spielt stattdessen mit seinem Handy herum.
Fünf Schnäpse wären das, mit mir ein sechster, denkt Marlies. Das kann ich mir schon leisten.
„Was wollt’s für einen?“
„An Zirbenen.“
Oh weh. Marlies erinnert sich erneut an den gestrigen Abend. Der Jahrestag mit Joe. Er war zu müde, um mit ihr noch an die Bar zu gehen. Das war ihr Verderben.
Sie geht zur Schank und bestellt fünf Zirbene.
„Könnten Sie mir in ein sechstes Stamperl nur Wasser geben“, flüstert sie zur Bedienung.“
„Aber zahlen müssen’s schon sechs.“
„Aber…“.
Die junge Frau mit dem Nasenpiercing und bis auf ein seitliches Schwänzchen kurzgeschorenem schwarzen Haar grinst sie an: „War eh nicht ernst gemeint.“
Marlies gibt ihr reichlich Trinkgeld. Beim Zurückgehen nimmt sie das Stamperl mit dem Wasser vom Tablett, das sie den Bergrettern mit einem „Bitteschön“ hinhält.
„Jetzt hätt i aber gern deines.“
Marlies stottert.
„War a Witz. Wird ja nix anders drin sein. Wie heißt denn eigentlich?“
„Marlies.“ Sie hebt ihr Schnapsglas mit einem „Prost“ und stürzt das Wasser hinunter.
„So. Jetzt sagt’s schon.“
„Wennst vom Lawinenstein zur Hütte hinüberfährst, kannst kurz vor dem Seillift rechts ins Gelände fahren.“
„Kenn ich. Da bin ich heute schon einige Male runter.“
„Du haltst dich aber sicher leicht rechts. Oder?“
„Na ja, am Anfang geradeaus und nach der ersten etwas steileren Stufe fahre ich dann eher rechts.“
„Genau. Der Unfall ist aber linkerhand passiert. Da kommt ein Abbruch, der von oben nicht einsehbar ist, erst wennst direkt an der Kante stehst.“
„Und was ist passiert?“
„Des kost noch a Runde.“ Die Männer grinsen.
„Marlies!“ Joe steht knapp hinter ihr.
„Hast mich vergessen? Komm, fahr ma. Sonst sperren’s uns noch den Verbindungslift zur Talabfahrt vor der Nase zu.“
„Tschüss, Burschen.“ Marlies winkt den Bergrettern zum Abschied zu und dreht sich zu Joe, der sie wider Erwarten anlächelt.
„Tschüss gibt’s net bei uns. Des hast Pfiati.“
Marlies ignoriert das erneute Auflachen der Gruppe. Sie hängt sich bei Joe unter und küsst ihn auf die Wange.
„Sorry, mein Schatz. Ich hab die ausfragen müssen. Du kennst mich ja.“
„Nur zu gut, du Neugierdsnase. Und was hast erfahren?“
Sie erzählt Joe vom Unfall im Gelände und dass der Hubschrauber deshalb gekommen ist. Als sie nachfragen wollte, was genau passiert ist, hat er sie gerufen.
„Na, wenn ich das gewusst hätte.“ Joe lacht und schaut auf die Uhr. „Kurz nach vier. Das wird knapp.“
Als sie unten am Almboden den Verbindungslift zur Talabfahrt erreichen, ein einfaches Seil, an dem man sich festhält, ist dieser bereits abgestellt. Sie sind aber nicht alleine beim Hinaufstapfen der paar Höhenmeter.
Vor zwei Tagen sind Marlies und Joe in Taulitz angekommen. Für drei gemeinsame Tage anläßlich ihres Jahrestages, den sie lieber feiern als ihren Hochzeitstag. Am ersten Abend haben sie schon sehr früh im Speisesaal des Hotels Grimmler Platz genommen. Marlies wollte unbedingt den Tisch in der Nische haben. Joe war aber dagegen, einfach die Tischkärtchen auszutauschen. Die Gäste könnten doch schon länger als einen Tag im Hotel sein, hat er gemeint.
Die, das ist dieses komische Liebespaar. Der Mann hat zuerst alleine in der Nische Platz genommen. Fünfzig plus, Halbglatze, mit seinem überdimensionalen Handy beschäftigt. Kaum gegrüßt hat er, obwohl ihn Marlies ein viel zu lautes „Einen schönen guten Abend“ entgegengeschmettert hat. Seine Begleitung, eine aufgetakelte Frau im kleinen Schwarzen und mit Netzstrümpfen ist etwas später in High Heels zum Tisch gestakst. Sie hat den Mann zu Begrüßung abgeschmust und ist mit ihren langen roten Fingernägeln seinem Arm entlanggefahren. „Nicht hier, Anke“, hat er geflüstert, sie aber nicht abgewehrt. Joe ist da anders. In der Öffentlichkeit gibt’s nur Bussis. Sobald Marlies mit ihrer Zunge an seinen Lippen ist, zieht er zurück. „Schau, da drüber sind Kinder“ oder „Wir fallen auf“, sagt er dann.
Heute sitzt ein junges Paar in der Nische. Marlies grüßt, aber sie schauen nicht einmal her. Vermutlich haben sie Marlies und Joe gar nicht bemerkt, denn sie reden laut miteinander, der – höflich ausgedrückt – gut genährte Mann mit vollem Mund. Marlies findet besonders den Mann unsympathisch. Sie beginnt laut mit Joe zu reden.
„Nimmst du das Huhn oder den Fisch?“
„Huhn. Warum schreist du so?“
„Weil du mich sonst nicht verstehst.“ Sie deutet zur Nische hinüber.
Das Paar hat die Anspielung mitbekommen und steckt jetzt die Köpfe beim Reden näher zusammen. Marlies ist zufrieden. „Man darf sich nicht alles gefallen lassen“, spricht die Stimme in ihrem Kopf.
„Schade, dass das Paar schon abgereist ist“, sagt Marlies.
„Warum?“
„Weil wir doch Spaß mit ihnen hatten.“
„Du meinst dein Ratespiel über die Art ihrer Beziehung.“
„Genau. Du warst ja nicht besonders einfallsreich. Und als Hauptkommissar der Mordkommission in Graz, hättest aufmerksamer beobachten können.“
„Ich hatte halt nur für dich Augen.“
„Paperlapapp. Darf ich dich daran erinnern, dass du der ungarischen Kellnerin mit ihren prallen Brüsten ganz schön dreist nachgesehen hast. So bin ich ja zu meinem freien Wunsch für das Ratespiel gekommen.“
„Ich habe dir doch erklärt, dass Männer den Reflex haben, sexy gekleideten Frauen nachzusehen. Das hat keinerlei Bedeutung.“
„Ja, ja. Ihr Männer könnt nichts dafür. Eure Triebe sind stärker als euer Verstand. Apropos Antonia. Wo bleibt die heute nur?“
„Wird schon kommen.“
„Hoffen wir’s. Ich habe schon einen Mordshunger.“
Kurz danach taucht Antonia auf und nimmt ihre Bestellung sehr kühl entgegen.
„Alles ok, Antonia?“, fragt Marlies.
Antonia ignoriert die Frage: „Also zwei Mineralwasser still, einmal Fisch und einmal Huhn.“
„Was ist der über die Leber gelaufen?“, fragt Marlies, als Antonia außer Hörweite ist.
„Liebling. Was soll sie schon haben? Sie wird halt nicht gut drauf sein.“
„Am ersten Abend war sie aber sehr freundlich zu uns. Nur zu unserem Liebespaar war sie fast feindselig. Diese Anke hat sie einfach ignoriert.“
„Was du dir alles merkst. Sie hat doch erzählt, dass der Mann, wie hieß er schnell?“
„Hier kommt Kurt, ohne Helm und ohne Gurt.“
„Sehr witzig. Also dieser Kurt ist öfter da, weil er sich um das Abrechnungssystem kümmert.“
„Und das ist ein Grund, so unfreundlich zu sein?“
Die Suppe wird serviert. Nicht von Antonia, sondern von ihrem ungarischen Kollegen. Antonia taucht an diesem Abend nicht mehr auf.