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Kapitel 3 – Der Kommissar übernimmt

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Hubert sperrt den Wellnessbereich, so steht es protzig an der Tür, für sie auf. Marlies lässt Joe den Vortritt beim Duschen. Sie ist in Gedanken versunken und will Zeit gewinnen. Wo ist eigentlich das Gepäck von Anke? Das muss Kurt mitgenommen haben. Ist sie mit dem eigenen Auto gekommen? Dann müsste das doch noch am Parkplatz stehen. Oder Kurt hat es weggebracht, samt dem Gepäck. Kurt ist mehr als verdächtig. Er muss schamlos gelogen haben, um das Verschwinden seiner Geliebten zu vertuschen. Andererseits, warum ist er im Hotel geblieben? Klar, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen. Vielleicht hat es sogar erzählt, dass Anke krank ist. Hat ihn niemand gesehen, wie er alleine abgereist ist?

„Dusche ist frei“, ruft Joe und trocknet sich mit einem von Hubert bereitgelegten Handtuch ab.

„Oh, ein nackter Mann.“ Marlies geht auf Joe zu und greift ihm ans Glied. „Heute Abend müssen wir den Jahrestagsex nachholen.“

Joe lacht und bleibt mit vorgestrecktem Becken stehen.

„Dusch dich jetzt auch, bitte.“

Sie treffen Hubert bei der Rezeption.

„Sind Bram und Ana schon zurück?“

„Sie haben grad angerufen. Wird noch a halbe Stund dauern.“

Marlies stellt sich ganz nahe zu Hubert und lächelt ihn an.

„Eine kleine Frage, Hubert.“

„Das kenn ich schon. Gibt man einer Frau den kleinen Finger, ist man schon verloren.“

„Im Ernst. Hat die Anke, ich meine die Frau, mit der Kurt da war, kein Gepäck zurückgelassen?“

„Warum denn? Sie ist ja abgereist.“

„Hubert. Jetzt ganz im Vertrauen. Die Tote vom Lawinenstein ist Anke. Das wissen wir jetzt zweifelsfrei.“

Hubert runzelt die Stirn und schürzt die Oberlippe. Er kratzt sich am Kopf und bewegt ihn leicht hin und her.

„Aha. Aber ich hab nichts damit zu tun. Und von einem Gepäckstück weiß ich auch nichts.“ Er dreht sich weg und geht Richtung Schiraum.

Marlies holt ihr Ladegerät aus der Handtasche und steckt das Smartphone von Anke an.

„Muss das sein?“, fragt Joe eher beiläufig. Er dürfte sich damit abgefunden haben, Marlies nicht bremsen zu können. Wie eine Ermittlerin hat sie sich dünne Handschuhe übergezogen.

„Du, die letzten fünf Anrufe sind von diesem Kurt. Alle nicht angenommen. Der erste war nach fünfzehn Uhr am Unfalltag. Da konnte sie nicht mehr abheben, weil sie vermutlich schon tot war. Aber warum hat er sie dann angerufen? Zuletzt dann am Freitagmorgen. Vielleicht nur ein weiterer Versuch zur Vertuschung seiner Tat.“

„Bleiben wir bitten bei den Fakten, Marlies. Gibt es auch Nachrichten?“

„Moment mal.“ Marlies schaut gebannt aufs Display.

„Ja, jede Menge von Kurt. Die letzte von vorgestern am späten Abend.“

„Und was schreibt er?“

„Wo bist du? Hör auf mit dem Blödsinn.“

„Klingt ziemlich normal.“

„Ja, ja. Was würdest du tun, wenn du deine Geliebte umgebracht hast?“

„Ich würde es dir beichten.“

Joe schaut Marlies verschmitzt an. Sie ignoriert seinen Blick und öffnet weitere Nachrichten.

„Der hat sich ganz schön Mühe gegeben. Insgesamt hat er zwölf Nachrichten am Abend des Unfalltages an sie geschrieben. Mal ungehalten, mal bittend. Alles nur Tarnung, sag ich.“

„Wahrscheinlicher ist, dass er wirklich keine Ahnung gehabt hat, wo sie steckt.“

„Das gibt’s doch nicht. Joe, hör bitte zu. ‚Du wirst sterben, du Schlampe‘, steht da. Die Nummer schaut komisch aus. Die Vorwahl kenn ich nicht.“

Joe will ihr das Handy aus der Hand nehmen.

„Stopp. Nicht ohne Handschuhe. Schau, ich zeig’s dir.“

„Das ist jetzt wirklich verdächtig“, murmelt Joe. Er legt den Zeigefinger an seinen Mund. „Von wann ist diese Drohung?“

„Moment mal. Vom Unfalltag um sieben in der Früh. Siehst du, meine Ahnung war richtig. Das ist ein Verbrechen, Joe, und kein Unfall.“

„Bewiesen ist damit noch nichts. Aber eine Fremdeinwirkung ist jetzt nicht mehr auszuschließen.“

„Bitte übernehmen Sie, Herr Kommissar.“

„Pack bitte das Handy wieder ein. Und schalte es vorher ab. Ich werde mich mal erkundigen, wo sie die Leiche hingebracht haben und ob eine Obduktion angeordnet worden ist.“

Joe geht während des Telefonierens im Raum auf und ab. Er redet ruhig, seine Stimme hebt sich kaum. Marlies sieht ihn erwartungsvoll an, als er mit dem Gespräch fertig ist.

„Also, die Leiche liegt im Diakonissen-Krankenhaus in Schladming. Der Totenschein ist schon ausgestellt. Genickbruch. Fremdverschulden wurde auf Grund der Angaben der Bergrettung ausgeschlossen. Der Arzt hat daher keinen Anlass für eine Obduktion gesehen.“

„Ja und? Da muss man doch eingreifen.“

„Hab ich ja. Die Leiche wird nach Graz in die Gerichtsmedizin überstellt. Ich kenn den Peter dort sehr gut. Muss ihn nur noch anrufen und auf das Präsent vorbereiten. Dann werden wir weitersehen.“

„Ja, aber wenn die nichts finden?“

„Das kann leicht sein. Genickbruch ist eben Genickbruch. Wie es zum Absturz gekommen ist, können wir daraus nicht rekonstruieren. Aber ich werde mir jetzt die Herrschaften vorknöpfen. Ein eigenartiges Verhalten ist das schon.“

Marlies umarmt ihren Joe: „Ich unterstütze dich voll und ganz. Schließlich ist es ja auch mein Fall.“

Joe lacht: „Jetzt nicht mehr. Du kannst dich ganz dem Malen hingeben. Das hattest du doch vor für deine Sabbatical-Zeit.“

Sie sehen durch das Fenster einen großen SUV vor dem Hotel halten. Bram und Antonia steigen aus. Ana dürfte gefahren sein. Jedenfalls fährt sie das Auto zum Parkplatz.

Als ihr Bram am ersten Abend erzählt hat, dass er das Hotel schon vor zehn Jahren gepachtet und davor als Schilehrer bei den Grimmlers gearbeitet hat, ist das Marlies mehr als ungewöhnlich, fast schon unglaubwürdig, erschienen. Ein Belgier als Schilehrer in der Steiermark und dann auch noch als Hotelier im Trachtenjanker. Später ist Ana, die großgewachsene Norwegerin mit ihrem langen blonden Zopf dazu gestoßen und Bram hat sie als seine Frau vorgestellt. „Wir sind schon international hier“, hat er mit stolzer Stimme gesagt. Gespielt oder ernst, wer weiß das schon? Mit Ana hat sich Marlies schnell angefreundet. Sie geht leidenschaftlich gerne Schitouren und hat Marlies eingeladen, mit auf eine Tour zu kommen. „Gerne. Warum nicht?“, hat Marlies geantwortet. Tauplitz ist von Graz aus in eineinhalb Stunden zu erreichen und Marlies hat Zeit. Ihr Sabbatical geht noch bis Ende Juni.

„Das ist alles ein großes Missverständnis, Herr Kommissar.“ Bram stürzt auf Joe zu und schüttelt ihm die Hand. Er ist groß und schwarzhaarig. Sein linkes Bein zieht er etwas nach. Die Folgen eines schweren Unfalls mit dem Mountainbike, hat ihr Ana erzählt.

„Gut, dass Sie kommen. Da brauche ich Sie nicht nach Graz vorladen.“

„Vorladen? Warum?“

„Wo können wir ungestört reden?“

„Kommen Sie mit in mein Büro.“

Marlies geht wie selbstverständlich hinter den beiden Männern her. Vor der Bürotür will Joe sie wegschicken.

„Lassen Sie nur. Die Marlies kann ruhig dabei sein. Ich habe ja nichts zu verbergen.“

Marlies grinst Joe triumphierend an und setzt sich im Büro neben ihn, als wäre sie seine Assistentin.

„Fangen wir der Reihe nach an. Zeigen Sie mir zuerst die Gästeanmeldung für diesen Kurt und seiner Begleitung.“

„So leid es mir tut, aber das waren keine zahlenden Gäste. Der Kurt wartet ja unsere Software. Da ist es selbstverständlich, dass er gratis hier wohnt.“

„Aber Sie haben doch sicher Adresse und Telefonnummer. Marlies, kannst du bitte mitschreiben.“

„Ich habe leider nichts zum Schreiben dabei, Joe.“

„Kein Problem. Ich mach das schon. Von seiner Begleitung habe ich aber rein gar nichts, außer ihren Vornamen. Die war zum ersten Mal da.“

Bram reißt das Blatt vom Notizblock und gibt es Joe. Aus den Augenwinkeln kann Marlies den Namen Hankler und eine Adresse in Leoben entziffern.

„Also, die Polizei hat doch hier angerufen und nach einer abgängigen Frau gefragt. Was haben Sie denen erzählt?“

„Der Kurt hat mir schon am Donnerstag aufgeregt berichtet, dass seine Begleitung auf und davon ist. Sie hatten Streit beim Schifahren. Genaueres weiß ich leider nicht. Der Kurt war total fertig, als er ins Hotel gekommen ist. Ihr Gepäck war nicht mehr im Zimmer. Also sind wir alle davon ausgegangen, dass sie Hals über Kopf abgereist ist.“

„Das mit dem Gepäck hat dir der Kurt erzählt, oder?“, fragt Marlies.

„Hallo, hallo“, fährt Joe dazwischen. „Ich stelle hier die Fragen.“ Er schaut Marlies kopfschüttelnd an.

„Kein Problem für mich.“ Bram lächelt Marlies zu.

„Ja, das hat der Kurt erzählt. Ich hab doch keinen Grund gehabt, das zu überprüfen.“

„Haben Sie oder jemand anders sie abreisen gesehen?“

„Ich nicht. Ana und das Personal kann ich gerne fragen.“

„Was mich so wundert. Beim Anruf der Polizei haben Sie nicht an Frau Oswalt gedacht?“

„Nein, überhaupt nicht! Die Anke war ja schon am Vortag weg.“

„Und woher weißt du, dass die Anke mit Nachnamen Oswalt geheißen hat?“ Schon wieder Marlies.

Bram runzelt die Stirn.

„Ach so, das habe ich jetzt aus dem Zusammenhang geschlossen.“

„Noch eine Frage. Ist Frau Oswalt mit dem eigenen Auto hier gewesen?“

„Sorry. Nicht einmal das weiß ich.“

Es entsteht eine kleine Pause. Joe wischt einige Male über seine Glatze, ganz so, als wolle er sein Gehirn stimuliere. Marlies würde gerne weitere Fragen stellen, aber sie fürchtet, dass Joe dann ärgerlich werden könnte.

„Kommen wir mal zu Herrn Hankler. Wie häufig ist der bei Ihnen im Hotel?“

„Meinen Sie privat oder geschäftlich?“

Marlies lacht: „Das dürfte er nicht so eng sehen, oder?“

Sie schaut zu Joe, aber der tut so, als hätte er sie nicht gehört.

„Na ja, er ist manchmal auch mit seiner Familie da. In den letzten Jahren aber kaum mehr. Der Basti ist ja schon ein junger Mann.“

„Und beruflich?“

„Ich schätze, einmal im Monat.“

„Finden Sie das nicht ungewöhnlich, dass Ihr Abrechnungssystem monatlich gewartet werden muss?“

„Es gibt immer wieder Updates und Korrekturen. Heutzutage könnte man das auch übers Internet erledigen. Es hat sich bei uns halt so eingebürgert, dass der Kurt persönlich vorbeikommt. Er ist ja auch ein guter Freund.“

„Und wie steht Ihre Frau zu Herrn Hankler?“

„Wie meinen Sie das? Sie hat nicht viel mit ihm zu tun, weil ich mich um die Abrechnung kümmere.“

„Und Antonia?“, fragt Marlies dazwischen.

„Natürlich kennen sich die gut. Antonia arbeitet seit fast zehn Jahren hier.“

„Ich würde jetzt noch gerne mit Ihrer Frau und Antonia, wie ist gleich ihr Nachname, reden.“

„Kanczler, Antonia Kanczler. Sie ist Ungarin.“

„Ich hätte ohnehin gerne alle Namen, Adressen und Telefonnummern Ihrer Bediensteten, auch von Ihrer Frau.“

Bram ruft Ana an. Die kommt kurz danach zur Tür herein.

Sie umarmt Marlies.

„Schade, dass wir uns so wiedersehen“, sagt sie.

„Nicht vergessen. Ich bin nur die Frau des Kommissars.“ Marlies lacht. „Ich hoffe, die Einladung zu einer Schitour gilt trotzdem noch.“

„Selbstverständlich.“

Joe verzieht das Gesicht.

„Ich geh ja schon“, sagt Marlies und winkt Ana zu, die sich auf den Platz von Bram gesetzt hat. „Auf bald“, sagt Ana hinter Marlies her, die die Türe hinter sich schließt. Enttäuscht, von der weiteren Befragung ausgeschlossen zu sein, blickt sie den Gang in Richtung Speisesaal hinunter und sieht gerade noch Antonia im Speisesaal verschwinden. Marlies folgt ihr mit leisen Schritten. Warum schleiche ich so, wundert sie sich.

„Hallo Antonia“, spricht Marlies in deren Rücken. Antonia dreht sich mit weit geöffnetem Mund um und hält die rechte Hand aufs Herz.

„Jesus Maria, jetzt haben Sie mich erschreckt.“

„Tschuldigung. Das Sie könnten wir doch weglassen, oder? Ich bin die Marlies.“

Sie streckt ihr die Hand hin.

„Aber Sie gehören doch auch zur Polizei.“

„Nein, ich bin nur die Frau des Kommissars. Von Beruf bin ich Lehrerin, Zeichenlehrerin.“

„Ach so. Es ist nur, dass ich jetzt verhört werden soll. Hat mir die Ana gesagt.“

„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Mit der Sache hast du ja nichts zu tun.“

„Nein, gar nichts. Warum werde ich dann befragt?“

„Du weißt vielleicht Details, die dir gar nicht wichtig zu sein scheinen. Ich meine zum Kurt und seiner Begleitung.“

„Die Frau habe ich zum ersten Mal gesehen.“

„Und Kurt?“

„Natürlich kenne ich ihn schon lange. Er ist ja oft da.“

„Und was denkst du über ihn?“

„Was soll ich denken? Ich komme gut aus mit ihm.“

Gut auskommen, denkt Marlies. Sie erinnert sich an den ersten Abend, als Antonia Kurt und Anke auffällig unfreundlich bedient hat. Sie hat nicht einmal die Tischkerze angezündet, als Anke danach gefragt hat. Antonias Blick war hasserfüllt. Warum nur?

„Darf ich dich ganz ehrlich fragen, warum du ihn vor zwei, drei Tagen so böse angesehen hast?“

Marlies fällt auf, dass Antonia ihrem Blick nicht standhält. Auch schon vorher nicht. Ihre Augen wandern unruhig zur Seite und dann wieder zur Decke. Gleich darauf senkt sie den Kopf.

„Kann mich nicht erinnern. Aber wenn, dann war das eher wegen der Frau. Die hat mir die ganze Zeit giftige Blicke zugeworfen.“

„Hm, ist ja nicht so wichtig. Eine Sache noch. Gehst du auch Schifahren?“

„Ich?“ Antonia zeigt mit dem Finger auf sich.

„Ich und Schifahren? Wirklich nicht. Ich hasse Kälte und Schnee. Und, ich hab’s nie gelernt.“

„Ist dir sonst etwas aufgefallen an Kurt und seiner Begleitung?“

„Ich weiß nicht, ob ich das sagen soll. Es war am Mittwoch, da hat man laute Stimmen aus Kurts Zimmer gehört. Ich glaube, die haben sich heftig gestritten. Kurt ist gegen Mitternacht noch heruntergekommen. Zufällig war ich noch auf. Er hat dann einen Cognac bestellt.“

„Du bist dran, Antonia.“ Ana steht im Eingang und winkt Antonia zu sich.

Frische Luft! Marlies hat sich ihre Schijacke übergezogen und geht vor dem Hotel auf und ab. Einzelne Schifahrer kehren ins Hotel zurück. Sie wirken in ihren dicken, bunten Anoraks und mit ihren schwerfälligen Bewegungen wie Wesen von einem anderen Stern. Wegen der klobigen Schischuhe drehen sie den Oberkörper bei jedem Schritt als eine Art Schwungmasse mit. Marlies erkennt niemanden. Vielleicht sind die meisten erst heute angekommen. Ihre Gedanken wandern aber schnell wieder zum Fall, zu ihrem Fall. Mit der Antonia stimmt was nicht. Sie hat nicht einmal bedauert, dass Anke zu Tode gekommen ist oder gebracht wurde. Und sie hat Marlies nicht angesehen, vor allem, wenn die Sprache auf Kurt gekommen ist. Vielleicht ist sie wegen Kurts Frau, die sie sicher kennt, so sauer. Frauen neigen zur Solidarität, wenn es gegen Männer geht, die ihre Ehefrau betrügen. Antonia muss ja auch die Kinder gut kennen. Ein Grund mehr, Kurts Verhalten zu verurteilen. Und dieser Streit? Warum hat sie davon erzählt? Marlies ärgert sich. Sie hätte Antonia noch fragen sollen, ob Kurt etwas darüber gesagt hat. Schließlich sind sie um Mitternacht gemeinsam an der Bar gewesen.

„Abfahrt. Ich hol noch schnell das Auto vom Parkplatz.“

Joes Stimme lässt Marlies zusammenzucken.

Komisch, dass Joe beharrlich schweigt und noch komischer, dass ich nichts frage, denkt Marlies. Sie versucht, all die Details zum Fall ‚Anke‘ in ihrem Kopf zu ordnen. Und vielleicht ergeht es Kurt auch so.

Liezen, die Bezirksstadt mit ihrem ausladenden Gewerbegebiet entlang der Bundesstraße, haben sie längst hinter sich gelassen, als Kurt ansatzlos zu Marlies sagt: „Jetzt ist aber Schluss mit deinen Ermittlungen.“

„Ja, okay. Ich hab’s ja versprochen.“

„Genau.“

Wieder ist nur das Fahrgeräusch zu hören. Sogar das Autoradio, das sonst immer läuft, bleibt ausgeschaltet.

So fahren sie eine weitere halbe Stunde dahin.

Marlies erschrickt, als Joe zu sprechen beginnt.

„Ich muss kurz austreten. Fahren wir bei der Raststätte Kammern raus. Ein Kaffee wär auch nicht schlecht.“

„Wie du magst, Joe.“

Ohne mich würde es gar keinen Fall geben, denkt sie.

Die Raststätte mit ihrer Konstruktion aus hellem Holz und großen Glasflächen wirkt von außen großzügig und einladend. Über dem Eingang verspricht der große Schriftzug „Landzeit“ Bodenständiges. Kaum ist man durch die automatische Schiebetür getreten, stellt sich Ernüchterung ein. Die Ansammlung an Resopaltischen und Plastikstühlen erinnert Marlies an eine Mensa aus Studienzeiten. Auch der Lärmpegel ist abschreckend. Im linken hinteren Bereich grölt eine Gruppe Jugendlicher. Die Burschen heben die Bierflaschen und versuchen, die Mädchen zu begrapschen und zu küssen. Fünfzehn, sechzehn schätzt Marlies. Joe kommt von der Toilette zurück. Zwei Burschen beginnen zu raufen. Marlies glaubt, dass es um das hellblonde Mädchen mit langen, glatten Haaren geht, das einer der beiden bedrängt hat. Faustschläge, Schreie, Schlichtungsversuche. Einer geht zu Boden und der andere tritt ihn mit den Füßen. Zwei Burschen versuchen ihn zurückzuhalten, aber er schüttelt sie ab.

Joe ruft: „Sofort aufhören. Polizei.“

„Des kaun jeda sogn“, gibt einer zurück.

Joe holt den Dienstausweis aus seiner Geldbörse.

Er geht zur Gruppe hinüber und präsentiert mit vorgestreckter Hand den Ausweis.

„Da schaut’s und gebt’s a Ruh jetzt.“

Es wird sofort still. Die Gruppe drängt zum Ausgang. Den, der am Boden gelegen ist und ein wenig blutet, stützen sie dabei.

„So.“ Joe setzt sich sichtlich zufrieden hin.

„Du bist mein Held“, sagt Marlies mit spöttischem Unterton.

„Was hast du? Du warst im Auto schon so komisch.“

„Wieso? Nur weil ich einmal nichts rede? Du hast ja auch vor dich hin geschwiegen.“

„Ich hab nachgedacht.“

„Ich auch.“

„Worüber?“

„Über dasselbe wie du, nehme ich mal an.“

„Marlies. Du hast mir sehr geholfen, aber jetzt sollte Schluss sein. Haben wir ja schon im Auto geklärt, oder?“

„Ja, haben wir. Aber du vergisst, dass es diesen Fall ohne mich gar nicht gäbe.“

„Und das heißt?“

„Dass du auch ein wenig dankbar sein könntest. Und“, sie lächelt Joe an, „und ich mehr als einen Wunsch frei haben sollte.“

„Marlies, bitte versteh das. Ich kann dich bei den Ermittlungen nicht brauchen. Du bist keine Polizistin.“

„Aber gerade deshalb kann ich Dinge herausfinden, die du nie erfahren würdest. Besonders bei den Frauen.“

Joe schüttelt den Kopf und schaut in die noch halbvolle Kaffeetasse. „Ich mag nicht mehr. Fahren wir.“

Beim Knoten St. Michael biegt Joe auf die S6 Richtung Leoben ab.

„Du bist falsch, Joe.“

„Kleine Überraschung. Wir fahren noch bei Herrn Hankler in Leoben vorbei. Ich habe ihn angerufen und mich angekündigt. Er hat sich sehr überrascht gegeben. Ich habe aber herausgehört, dass ihn Bram schon informiert hat.“

„Super. Darf ich beim Verhör dabei sein?“

„Sicher nicht.“

„Du glaubst doch nicht, dass ich im Auto warte.“

„Okay. Aber du hältst dich bitte komplett raus.“

„Kurt Hankler GmbH – Hotelsoftware“ steht auf der unteren, „Familie Hankler“ auf der Glocke darüber. Das graugrüne Haus hat zwei Stockwerke und ist gute zehn Meter breit. Damit gehört es zu den größeren, die an dem kleinen Park mit verkehrsberuhigten Gassen rundum stehen.

Bevor Joe noch läuten kann, hören sie den Türsummer. „Bitte im Erdgeschoß gleich links“, tönt es aus der Gegensprechanlage. Sie betreten einen Empfangsraum, in dem eine Gruppe schwarzer Lederfauteuils Noblesse vermitteln soll. Die beiden Yucca-Palmen links und rechts der Sitzgruppe sehen aber so kümmerlich aus, dass Marlies sofort zur Gießkanne greifen will. Sie wirft einen Blick durch die rechte offene Tür, die in ein schmuckloses Büro mit drei Schreibtischen führt. Auf den Tischen stehen jede Menge Bildschirme, jeweils zwei eng aneinandergerückt. Marlies hat noch nie gesehen, dass ein Mensch zwei Bildschirme zur gleichen Zeit brauchen kann. Obwohl der Raum verwaist ist, es ist ja auch Samstag, dringt ein muffiger Geruch von Schweiß aus dem Zimmer.

„Links bitte“, ruft Kurt aus dem linken Zimmer, dessen Tür angelehnt ist. In diesem Raum dominiert ein riesiger Schreibtisch, der mit schwarzem Leder überzogen ist. Kurt hat sich von seinem ebenfalls schwarzen Chefsessel erhoben und reicht Joe mit einer kleinen Verbeugung die Hand. Wie unterwürfig, denkt Marlies. Sie spürt ihr Herz klopfen. Kein Wunder. Kurt könnte der Mörder von Anke sein. Was heißt könnte, er ist es ziemlich sicher.

Marlies sieht den Nebel vor sich. Kurt zweigt in das Gelände ab, Anke angsterfüllt direkt hinter ihm. Kurz vor dem Felsabbruch hat er sie dann alleine gelassen. Vielleicht hat er ihr sogar noch gesagt, sie solle das steile Stück leicht linkshaltend hinuntergehen. Joe muss unbedingt fragen, ob Kurt Schitouren geht.

„Sind Sie beide von der Kriminalpolizei?“

„Nein, das bin nur ich. Ich wollte meine Frau nicht im Auto warten lassen.“

„Ach so. Naja, sie könnte ja auch im Vorraum warten. Mir ist es nicht so recht, wenn Ihre Frau dabei ist.“

„Und warum nicht?“, fragt Marlies. Sie sieht Kurt mit einem trotzigen Blick an.

Für einige Sekunden hält Kurt den Augen von Marlies stand, dann schaut er wieder zu Joe.

„Geht klar“, sagt Joe zu Kurt und nickt.

„Marlies, kannst du bitte draußen warten. Ich muss den Wunsch von Herrn Hankler selbstverständlich respektieren.“

Marlies schnaubt durch die Nase. Sie steht auf und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Scheiße, denkt sie. Jetzt, wo’s wirklich spannend wird, darf ich nicht dabei sein. Sie geht im Vorraum auf und ab. Auf diesen angeberischen, schwarzen Sitzmöbeln mag sie nicht Platz nehmen. Sie bemerkt die beiden anderen Türen. Die eine ist das WC. Das sieht man schon an der Frei-Anzeige unterhalb der Klinke. Die andere aber ist etwas breiter und aus Metall. Marlies öffnet sie vorsichtig. Direkt vor ihr steht ein schwarzer Audi Q5. Marlies mag schwarze Autos nicht. Sie ist überzeugt, dass diese eine Macho-Farbe ist. Und schwarze SUVs sind sowieso das Letzte. Das passt zu Kurt, denkt Marlies. Die im Dunkel sieht man nicht, fällt ihr ein. Gleich neben dem Q5 steht ein normaler Wagen. Auch ein Audi. Der gleiche Typ, den Joe fährt. Ein A4 Kombi. Vermutlich das Auto von Kurts Frau. Lustig, dass der weiß ist, denkt Marlies. Schwarz und weiß. Gegensätzlicher geht es nicht mehr. Sie geht in die Garage hinein. Das Licht schaltet sich automatisch ein. Links hängen drei Mountainbikes an Haken. Daneben sind sechs Paar Schi wie in einem Schistall aufgestellt. Marlies geht näher heran. Zwei Paare davon sind Tourenschi. Die könnten aber auch vom Sohn sein oder von Kurt und seinem Sohn. Ach ja, Joe soll den Kurt fragen, ob er Schitouren geht. Sie tippt eine Nachricht für Joe ein. Hoffentlich schaut er drauf, während des Verhörs. Auf der rechten Seite hängt viel Werkzeug und die kleine Werkbank darunter ist mit Schraubenziehern, Zangen unterschiedlichster Art und Schraubenschlüsseln übersät. Joe räumt immer auf, denkt Marlies. Jedes Werkzeug hat seinen festen Platz bei ihm.

Sie geht um den Q5 herum. Im Laderaum dürfte noch Gepäck liegen. Marlies kann es nur erahnen, da es ganz nach vorne geschoben ist. Sie beugt sich ganz nahe zur Heckscheibe und identifiziert eine graue Sporttasche mit rosafarbenen Applikationen und einen mittelgroßen blauen Koffer. Marlies ist überrascht, als sie die Heckklappe zu öffnen versucht und diese wie von Zauberhand in eine waagrechte Position fährt.

„Das ist eindeutig kein Männergepäck“, flüstert sie. Sie zieht die Tasche näher heran und findet neben der hineingestopften Sportbekleidung für Frauen eine Damenhandtasche. Kurt hat also gelogen. Er hat das Gepäck von Anke mitgenommen. Das ist der entscheidende Beweis, denkt sie. Und ich habe ihn entdeckt.

Die schwarze Handtasche mit goldenen Schnallen und zwei ebenfalls goldenen Zippverschlüssen an der Oberseite besteht offensichtlich aus zwei gleich großen Fächern. Ihre Hände zittern, als sie einen Zippverschluss öffnet. In diesem Fach ist nur der übliche Krimskrams wie Lippenstift, Eyeliner, Lesebrille, Sonnenbrille, Tictac und vieles mehr zu finden. Aus dem zweiten Fach kramt sie ein in Hellblau gehaltenes Seidentuch und eine überwiegend weiße Tablettenschachtel hervor. „Valproat Retardtabletten, fünfhundert Milligramm“, liest sie halblaut. Sie macht ein Foto von der Tablettenschachtel und sendet es Joe. Dazu tippt sie eine Nachricht: „Tasche und Koffer von Anke in Kurts Auto gefunden. Kannst ihn gleich verhaften.“

Marlies hört plötzlich Schritte näherkommen und kann gerade noch die Heckklappe wieder schließen, bevor sich die Tür an der linken Seite öffnet.

„Was machen Sie da?“ Eine eher kleine und mollige Frau steht in der Tür. Sie trägt einen grünen Jogginganzug. Das halblange schwarze Haar wirkt ungepflegt.

„Entschuldigen Sie. Ich habe mich in der Tür geirrt. Marlies Knopfler, mein Name. Ich bin die Frau des Kommissars.“

Die Frau nimmt die Hände von den Hüften und lässt die Arme schlaff nach unten baumeln.

„Knopfler? Wie der Mark Knopfler?“

Marlies sieht ihre Schwiegermutter vor sich. Wie diese kurz vor der Hochzeit verständnislos, ja fast schon ungehalten war, nur, weil Marlies ihren Nachnamen nicht aufgeben wollte. Marlies Machler wäre ein zu großer Abstieg für sie gewesen. Warum hat Joe nicht ihren Namen angenommen? Johannes oder Joe Knopfler klingt doch lässig. Vermutlich wegen seiner Mutter.

„Genau so.“ Marlies lächelt. „Nur bin ich leider nicht verwandt mit ihm.“

Das Gesicht der Frau hellt sich auf. Sie streckt Marlies die Hand entgegen. „Brigitte Hankler, ich bin die Ehefrau.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen. Fast hätten wir uns in Tauplitz getroffen.“

Brigitte Hankler hebt die Augenbrauen. Das hätte ich nicht sagen sollen, denkt Marlies.

Joe hatte ein Telefonat von Kurt mitgehört, in dem er erklärt hatte, wo die Schischuhe der Tochter zu finden wären. Marlies hatte sich gewundert, dass es jedem im Hotel egal zu sein schien, wenn Kurt zuerst mit seiner Geliebten da wäre und dann die Familie nachfolgte.

„Sie wollten doch am Wochenende ins Grimmler kommen, oder?“

„Ja, stimmt. Woher wissen Sie das?“

„Reiner Zufall“, sagt Marlies.

Die kurze und nichtssagende Antwort scheint Frau Hankler zu reichen.

„Mein Mann hat am Freitag abgesagt und ist nach Hause gekommen“, setzt sie fort.

„Wissen Sie auch, warum?“

Frau Hanklers Mundwinkeln gehen noch weiter nach unten, als sie es im Ruhezustand schon sind. Sie nickt, sagt aber nichts.

„Haben Sie die Tote gekannt?“, fragt Marlies. Sie nimmt an, dass Kurt vorsorglich gebeichtet hat. Wie sollte er sonst den Besuch von Joe erklären? Vielleicht hat ihm seine Frau auch auf die Meldung in der Zeitung angesprochen.

Frau Hankler dreht den Kopf fast unmerklich hin und her und Tränen schießen aus ihren Augen.

„Er ist so ein Schuft. Dabei hat er mir versprochen, dass endgültig Schluss ist mit seinen Seitensprüngen.“

Sie heult so richtig los und Marlies nimmt die Frau, die sie erst seit einigen Minuten kennt, wie selbstverständlich in ihre Arme. Weinen, Trösten. Das gehört für Marlies zusammen, egal wer es ist.

„Das tut mir so leid für Sie.“

Frau Hankler richtet sich wieder auf und wischt sich die Tränen von den Wangen.

„Aber mit dem Unfall hat er nichts zu tun. Das hat er mir hoch und heilig versprochen. Er hat diese Frau aus den Augen verloren im Nebel. Mir hat er gesagt, dass er geglaubt hat, sie sei abgereist. Sie hatten nämlich in der Nacht davor einen fürchterlichen Streit, bei dem sie den Kurt mit Gegenständen beworfen hat.“

Kurt hat also selbst in seiner Beichte seine Frau noch belogen. Warum nur lässt er dann das Gepäck von Anke im Auto liegen?

„Wissen Sie, worum es gegangen ist?“

Frau Hankler zuckt mit den Schultern.

„Ich nehme an, um das Übliche. Dass er sich scheiden lassen muss und so.“

Marlies nickt. So könnte es gewesen sein. Und als sie ihm gedroht hat, alles auffliegen zu lassen, wollte er sie so schnell wie möglich loswerden. Vielleicht ist ihm die Idee, sie zum Felsabbruch zu leiten, erst mit dem einfallenden Nebel gekommen.

„Möchten Sie auf einen Kaffee mit hinaufkommen? Das macht das Warten angenehmer.“

„Aber gerne. Ich bin die Marlies. Wir können gerne per Du sein.“

„Warum nicht. Wir Frauen müssen zusammenhalten.“

Sie beginnt wieder zu weinen und lässt es geschehen, dass Marlies sie erneut umarmt, ihr übers Haar streichelt und sie mit beruhigenden Worten zu trösten versucht.

Die Frau des Kommissars

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