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Kapitel 2 – Eine Zeitungsmeldung

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Marlies zieht die Vorhänge zurück.

„Schade, dass wir heute fahren müssen. Schau nur, Joe. Es wird wieder ein Super-Schitag.“

Joe reibt sich die Augen. Das plötzlich einfallende Sonnenlicht stört ihn sichtlich.

„Es ist Samstag, Marlies. Was glaubst du, was heute auf den Pisten los ist.“

„Ja, schon. Leider gehst du halt keine Schitouren.“

„Bitte, wie oft haben wir das schon besprochen. Du kannst so viele Schitouren machen, wie du magst. Aber für mich ist das nichts.“

„Ich meinte ja nur, wegen des schönen Wetters.“

„Gehen wir frühstücken und packen wir danach zusammen. Okay?“

„Du hast ja recht. Wir könnten heute noch ins Kino gehen. Die Stadt hat ja auch ihre Vorteile.“

Marlies nimmt die ‚Kleine Zeitung‘, die beim Eingang zum Speisesaal aufliegt, zu ihrem Tisch mit.

„Kinoprogramm“, sagt sie zu Joe und hebt die Zeitung in die Höhe. Vom jungen Paar in der Nische ist nur das Schlachtfeld am Tisch übrig. Wie kann man nur so verfressen sein, denkt Marlies. Sie blickt sich um. Weder Antonia noch der ungarische Kellner sind zu sehen. Hubert, der alte Hausdiener, schleicht beim Buffet herum, schaut in die Küche und gibt Anweisungen, was wieder aufgefüllt werden muss.

„Ich glaube, heute müssen wir mit dem Kaffee aus der großen Thermoskanne vorliebnehmen. Nix Cappuccino, kein großer Espresso für dich“, sagt Marlies enttäuscht.

„Ich bring dir was mit. Was hättest denn gern?“ Joe ist stehengeblieben und lächelt Marlies an. Sie findet, dass er mit seinem glatt rasierten Kopf besonders männlich und sexy aussieht.

„Warum bist du nur so lieb? Wie hab ich das verdient?“

„Einfach durch deine pure Existenz. Also was?“

Manchmal würde sich Marlies gerne ganz normal mit Joe unterhalten. Nicht mit diesem ironischen Unterton. Er könnte ja auch „Weil ich dich immer noch liebe wie am ersten Tag“ sagen. Aber würde sie diesen Satz nicht gleich wieder unter ‚gespielte Übertreibung‘ einordnen? Sie weiß, dass sie ihren Anteil an diesem meist spaßig klingenden Umgangston hat. Irgendwie ist es ein Spiel, aus dem sie nur selten herausfinden.

Joe muss zweimal hin und her gehen, um das Gewünschte zum Tisch zu schaffen. In der Zwischenzeit hat Marlies das Kinoprogramm zum zweiten Mal überflogen. Sie ist nicht fündig geworden und blättert die Zeitung lustlos von vorne durch. Auf der Seite fünf bleibt sie hängen und starrt mit offenem Mund auf den halbseitigen Bericht mit einem Bild vom Lawinenstein.

„Unbekannte Schifahrerin tödlich verunglückt“, lautet die Schlagzeile. Die Frau mittleren Alters hatte sich vermutlich schon vorgestern bei dichtem Nebel ins Gelände verirrt und war abgestürzt. Erst am nächsten Tag fiel einem Variantenfahrer eine offensichtlich schwer gestürzte Schifahrerin auf, die fünfzig Meter links von ihm unter einem Felsabbruch bewegungslos lag und auch auf Zurufen nicht reagierte. Die Rettungskräfte konnten nur mehr den Tod feststellen. Die Unbekannte trug weder einen Ausweis noch ein Handy bei sich. Die Frau war noch nicht als abgängig gemeldet worden. Auch ein Rundruf in den umliegenden Hotels und Pensionen ist ohne Ergebnis geblieben. Die Polizei bittet um zweckdienliche Hinweise.

Marlies schaut auf das abgedruckte, unscharfe Foto. Es wurde wohl bei der Bergung aufgenommen. Das Gesicht der Frau ist voller Abschürfungen und blaugrünen Verfärbungen. Trotzdem glaubt Marlies, Anke zu erkennen. Das herzförmige Gesicht mit dem spitzen Kinn, in dessen Mitte ein winziges Grübchen platziert ist, die vollen Lippen mit der nur wenig geschwungenen Oberlippe, die breite Augenpartie.

„Joe. Schau nur.“

„Was ist denn so Wichtiges? Wollen wir nicht zuerst frühstücken?“

„Schau bitte auf das Foto.“

Sie hält ihm die Zeitung hin.

Joe überfliegt auch den Text und schüttelt den Kopf.

„Das ist doch diese Anke, Joe.“

„Hm, auf dem Foto ist wenig zu erkennen. Außerdem hätte ihr Begleiter sie schon vorgestern als abgängig gemeldet. Spätestens aber beim Anruf im Hotel wäre der Groschen gefallen.“

„Das ist Anke. Ich bin mir sicher. Schau nur die Augen an, den Mund und das spitze Kinn.“

Joe zuckt mit den Schultern und schiebt sich Eierspeise auf die Gabel.

„Ich frag mal den Hubert. Wo sind eigentlich die anderen?“

„Den Kellner habe ich schon gesehen und einen Cappuccino für dich bestellt. Beruhig dich doch wieder und frühstücken wir erst einmal. Dann kannst du immer noch fragen.“

Marlies ist aber schon aufgestanden und eilt mit der aufgeschlagenen Zeitung zum Hausdiener.

„An guten Morgen“, sagt der, als er Marlies auf ihn zukommen sieht. „Was sagen‘s zum Wetter?“

„Hubert, Sie haben doch auch die Frau gesehen, mit der Herr Kurt vorgestern noch da war.“

Sie hält ihm die Zeitung hin.

„Ohne Brille seh ich gar nix. Aber, ich hab’s eh einstecken.“

Er setzt die Brille auf und schaut auf das Bild.

„Schrecklich, das is, weil sich die Leut so überschätzen.“

„Ja, schon gut. Erkennen Sie die Frau auf dem Foto wieder?“

„Na. Das ist ja so unscharf.“

„Haben Sie die Frau vom Herrn Kurt gestern gesehen?“

„Kann mich nicht erinnern. Freitag? Da war ich drei Stunden beim Arzt. Eine Frechheit, wie lange man heutzutage warten muss.“

Marlies winkt mit der Hand ungeduldig ab. „Bitte Hubert, jetzt denken’s nochmal nach.“

„Das bringt auch nix. Ich kann mich echt nicht erinnern. Und außerdem, viel Denken macht Kopfweh.“ Seine Mundwinkel machen einen Ausbruchsversuch nach oben. Als dies nicht gelingen will, wendet er sich ab. „Ich muss mich jetzt wieder ums Buffet kümmern.“

„Wo ist denn die Antonia heute?“

„Die ist mit den Chefitäten nach Liezen gfahrn. Zum Einkaufen. Sie wissen ja, Shopping macht happy.“

„Komisch. Am Samstag sind alle drei weg?“

„Wenn’s um die Abreise geht. Die Rechnung können’s auch bei mir zahlen. Und mit dem Gepäck kann ich ihnen auch helfen, wenn ich da fertig bin.“

„Hm, kann ich vielleicht einen Blick in die Gästeanmeldungen werfen? Bitte, ich würde nur gerne wissen, wie diese Anke genau heißt.“

Hubert schaut Marlies kurz mit offenem Mund an. Seine Zähne wirken schmutzig, die Lippen sind voller Risse und passen damit zur zerfurchten dunklen Lederhaut seines Gesichts. Marlies erwartet ein „Das darf ich nicht“ oder etwas ähnlich Abschlägiges.

„Sie lassen eh net locker, oder? Die Frau schafft an und der Mann spurt. So is halt.“

„Danke. Sie sind ein Schatz.“

„So kommen’s mit.“

Er geht zur Rezeption vor und gibt ihr den Ordner mit den Anmeldungen. „I muss wieder zruck. Aber zum Schaun brauchens mi eh net.“

Marlies blättert die Gästeblätter eine Woche zurück. Sie findet weder einen Kurt noch eine Anke. „Da stimmt was nicht, da ist was faul“, sagt sie halblaut zu sich.

Als sie zum Tisch zurückkommt, wird sie von Joe mürrisch empfangen.

„Kannst du nie Ruhe geben? Ich habe mich echt auf ein gemütliches Frühstück mit dir gefreut.“

„Es tut mir schrecklich leid, mein Schatz.“

Sie setzt sich wieder auf ihren Platz und nimmt einen Schluck vom Kaffee, den sie sofort wieder ausspuckt.

„Der ist ja kalt.“

„Wundert’s dich? Du bist seit mehr als zehn Minuten weg.“

„Du, Joe. Stell dir vor. Bei den Gästeanmeldungen gibt es weder einen Kurt noch eine Anke.“

„Ach, Frau Kommissar ermitteln schon.“

„Hör auf. Ich finde das nicht zum Lachen. Übernehmen halt Sie, Herr Kommissar.“

Joe schaut Marlies versonnen an.

„Also, fassen wir den bisherigen Stand deiner Ermittlungen zusammen. In der Umgebung des Lawinensteins wird eine tödlich verunglückte Frau gefunden. Vermutliche Todesursache ist ein schwerer Sturz und möglicherweise anschließendes Erfrieren. Am Abend des gleichen Tages ist nur mehr ihr Galan zu sehen. Frau Anke ist vermutlich im Zimmer geblieben. Möglicherweise hat sie sich unwohl gefühlt. Dafür spricht, dass sie gestern spät zum Frühstück gekommen sind. Jedenfalls haben wir sie und diesen Kurt nicht gesehen. Ich nehme an, dass sie dann wegen ihrer Erkrankung abgereist sind. Und jetzt kommt’s. Die Gästeblätter der beiden sind nicht im Ordner.“

„Und das findest du nicht im höchsten Maße suspekt? Der Kurt sitzt am Abend des Unfalltages alleine im Speisesaal und am nächsten Tag ist auch er weg.“

„Bitte, Marlies. Ich hab’s grad zu erklären versucht. Die Polizei hat in allen Hotels und Pensionen angerufen und nach einer abgängigen Frau gefragt. Spätestens da hätte man an diese Anke gedacht. Für das fehlende Gästeblatt kann es eine einfache Erklärung geben. Der Kurt wird nichts bezahlt haben. Ein Gegengeschäft sozusagen für die Betreuung des Abrechnungssystems.“

„Ich habe die Anke aber auf dem Foto wiedererkannt.“

„Ja, aber nur du. Was sagt der Hausdiener dazu?“

„Der tut so, als würde er nichts wissen und spielt außerdem auf halbblind.“

„Okay, Marlies. Was schlägst du jetzt vor?“

„Ich weiß es doch auch nicht. Was würdest du machen? Du bist doch der Profi.“

„Also, mit dem Frühstück bin ich fertig. Ich geh schon mal nach oben und beginne zu packen. Kannst ja nachkommen.“

Marlies zieht die Lippen zu einem Schmollmund zusammen.

Joe ist schon aufgestanden und schaut sie fragend an. Er bemüht sich um ein freundliches Gesicht.

„Bist einverstanden?“

„Du, Joe. Hab ich nicht noch einen Wunsch frei?“

Joe lacht: „Glaube ich nicht. Der Saldo steht auf Null.“

„Ich könnte aber einen Vorschuss auf meinen nächsten freien Wunsch nehmen. Der kommt eh früher, als du glaubst.“

Joe setzt sich wieder hin, denn Marlies sieht ihn treuherzig wie ein kleines Mädchen an, das ganz lieb um ein Eis bittet. Sie weiß, dass sie damit Joes Widerstand brechen kann.

„Und was soll das für ein Wunsch sein?“

„Ich trau mich`s gar nicht sagen. Wirst auch nicht böse sein?“ Wieder der Liebes-Mädchen-Blick.

„Sag schon.“

„Also, wir machen es so, wie du willst. Lass mich bitte noch ein Joghurt essen und dann packen wir unsere Sachen zusammen. Wir fragen den Hubert, wo wir unser Gepäck lagern können, und fahren dann hinauf zum Lawinenstein.“

„Warum das? Es ist heute viel zu viel los.“

„Du kannst auch dableiben und auf der Terrasse die Sonne genießen. Ich würde mir halt gerne die Unfallstelle ansehen.“

„Wozu? Willst schon wieder Frau Kommissar spielen? Außerdem, wie willst die Stelle finden?“

„Ich hab eine Beschreibung von den Bergrettern. Bitte, bitte, Joe. Mir lässt die Sache keine Ruhe. Wennst nein sagst, darfst dich dann nicht wundern, wenn ich ganz unausstehlich werde.“

Sie beugt sich vor und gibt Joe einen Kuss.

„Okay. Aber nur, weil das Wetter so schön ist. Nach dieser Aktion ist Schluss mit deinem Detektivspiel. Versprochen?“

Marlies zeigt eine Schwurhand und grinst: „Joe, du bist mein Traummann. Wie hab ich dich nur verdient?“

„Ist das Gelände dort schwer zu fahren?“

„Ich zeig dir die beste Spur. Glaub schon, dass du das kannst.“ Sie sind beide aufgestanden und Marlies fällt Joe um den Hals. Sie bemerkt Hubert, der mit verschränkten Armen neben dem Buffet steht und zu ihnen herüber grinst.

Die Aufbewahrung des Gepäcks sei überhaupt kein Problem, erklärt Hubert. Außerdem könne er den Umkleideraum zur Sauna für sie aufsperren. Dort gäbe es auch Duschen. Das wäre doch einne kleine Entschädigung für die defekte Sauna.

Eine halbe Stunde später gleiten sie wieder über das flache Gelände. Es ist schon fast zehn und ungewöhnlich warm. Marlies verstaut die Haube in ihrem kleinen Rucksack und öffnet die Schijacke. Sie schaut zu Joe, der durchaus zufrieden wirkt, und drückt sich an ihn. Joe legt den Arm um ihre Schultern und beginnt eine Melodie zu pfeifen.

„Uns geht’s doch gut, Joe. Findest du nicht?“

Joe pfeift weiter und zieht sie noch fester an sich.

Oben angekommen fahren sie sofort zum Sessellift des Lawinensteins hinüber. Dazu müssen sie nur noch einen kurzen Schlepplift auf halber Strecke nehmen, um etwas Höhe für den flachen Übergang zur Talstation des Lawinensteins zu gewinnen. Die Pisten sind schon leicht sulzig. Der Andrang der Menschen hält sich noch in erträglichen Grenzen. Beim Sessellift zum Lawinenstein stehen nur wenige Schifahrer.

„Was erwartest dir denn?“, fragt Joe, gleich nachdem sie den Sicherheitsbügel geschlossen haben. Sie haben den sechssitzigen Sessel für sich alleine.

„Keine Ahnung. Vermutlich werden wir eh nichts finden.“

„Und stellt Frau Kommissar dann ihre Ermittlungen ein?“

Marlies atmet seufzend aus: „Hab ich doch versprochen.“

Nach dem Aussteigen lassen sie die Hütte links liegen und stapfen den flachen Hang hinauf, der zur Bergstation der Gondel führt.

„Das auch noch“, schnauft Joe hinter Marlies im Grätschschritt watschelnd.

„Sind ja nur ein paar Meter.“

Sie errreichen die Kuppe, auf der der Seillift zur Hütte endet. Schifahrer, die vom Lawinenstein kommen, können damit den kurzen Gegenanstieg einigermaßen bequem bewältigen. Marlies fährt bis zum Begin des Seillifts in der flachen Senke. Dort schwingt sie am linken Pistenrand ab und inspiziert die Spuren, die ins Gelände führen. Rechts von ihr ist der zunächst nur leicht fallende Beginn schon ziemlich zerfahren. Einzelne Spuren sind nicht mehr zu erkennen. Kein Wunder, das ist auch die übliche Einfahrt zur Variante, die man weit hinunterschwingen kann, um irgendwann rechtshaltend auf die Piste der Mittersteinabfahrt zu stoßen. Eine einzelne Spur verläuft aber wesentlich weiter links in das Gelände. Die Spur ist sehr breit angelegt, was für einen unsicheren Schifahrer spricht. Marlies rutscht näher hin und stellt fest, dass es zwei Spuren sein müssen. Die breite Spur deckt die vordere teilweise zu. Diese ist aber trotzdem zu erkennen, da sie nicht gerade, sondern in kleinen Bögen verläuft. Marlies ist sich sicher, die richtige Spur gefunden zu haben. Die erste Spur könnte von Kurt sein, der Anke wahrscheinlich vorgefahren ist. Sollte sich die Spur nicht vor der Steilstufe scharf nach rechts wenden, dann führt sie in einen fast unfahrbaren Teil.

„Du, Joe. Diese Spur kommt mir eigenartig vor. Fahren wir ihr mal nach.“

Joe nickt nur und zeigt mit dem Stock, dass sie als Erste fahren soll. Marlies fährt der Spur leicht versetzt entlang. Im nur leicht fallenden Beginn muss sie mit den Stöcken anschieben, so tief ist der Schnee durch die starke Sonneneinstrahlung schon geworden. Sie kommen an eine Kante, ab der es unvermittelt wesentlich steiler wird. Marlies blickt nach rechts. Ungefähr fünfzig Meter entfernt sieht man die Abfahrtsspuren der Variantenfahrer. Unmittelbar nach der Kante sind offensichtliche Zeichen eines Sturzes zu erkennen. Der vorfahrende Schifahrer hat kurz unterhalb abgeschwungen. Die beiden Spuren wenden sich noch weiter nach links. Die eine zeigt ein seitliches Abrutschen, kein einziger Schwung ist zu erkennen. Die andere muss von einem sehr routinierten Geländefahrer stammen. Es sind kurze, teilweise gesprungene Schwünge, die perfekt ins anspruchsvolle Gelände gesetzt sind. Die Abrutschfahrt endet in deutlichen Anzeichen für einen weiteren Sturz. Hier wendet sich die routinierte Spur scharf nach rechts.

„Warte hier bitte“, sagt Marlies.

Auch Joe ist mit seinen Schiern seitlich abgerutscht. Marlies hat ihm schon am Beginn der Steilstufe empfohlen, mit den Schispitzen links zu bleiben, also mit der linken Schulter zum Berg. Marlies vermutet keine drei Meter weiter unten den Abbruch. Von oben ist nur eine weitere Kante zu sehen. Fußspuren führen direkt dorthin. Anke hat offensichtlich die Schier abgeschnallt. Für Marlies gibt es keine Zweifel mehr, dass es sich um ihre Spur handelt. Aber warum ist sie nicht wieder bergauf gestapft? Sie wird im Nebel orientierungslos gewesen sein. Außerdem ist es leichter, mit den Schischuhen bergab als steil bergauf zu gehen. Die Schier muss sie aber getragen haben, vielleicht links und rechts einen, um sich darauf abzustützen. Jedenfalls liegen keine herum. Oder hat sie die Bergrettung mitgenommen? Auch sie müssen jetzt dringend nach rechts, um in wieder besser fahrbares Gelände zu gelangen.

„Joe, wir müssen nach rechts weg. Weiter unten können wir versuchen, zur Unfallstelle zu gelangen.“

Marlies setzt zwei, drei kurze Schwünge und hört Joe fluchen. Er ist gestürzt und hat große Mühe, wieder aufzustehen.

„Wie soll ich da nur runterkommen?“

„Hier ist es wirklich schwierig. Abrutschen ist wegen der kleinen Felsblöcke und Latschen nicht ratsam. Du müsstest springen.“

„Ha, ha. Kann ich nicht.“

„Komm erst einmal zu mir runter.“

Eigentlich stellt sich Joe gar nicht so schlecht an, denkt Marlies. Durch seine Angst hat er aber zu viel Rücklage und kann daher seine Schier nicht steuern. Joe kommt unmittelbar vor ihr erneut zum Sturz. Marlies hilft ihm auf.

„Vorschlag. Ich fahre dir so flach wie möglich vor und mache dann eine Spitzkehre.“

Es sind vielleicht zwanzig, dreißig Höhenmeter. Dann wird es wesentlich leichter. Da jede Hangschrägfahrt wegen der Felsen und Latschen nur sehr kurz ausfällt, sind einige Spitzkehren nötig. Joe braucht für eine Spitzkehre sicher die doppelte Zeit wie Marlies, dafür gibt es aber keinen weiteren Sturz. Schließlich bleiben sie bei einer kleinen Kuppe stehen.

„Magst was trinken?“

„Nein, ich will nur hier raus.“ Marlies schmunzelt, weil sie der Satz an das Dschungelcamp erinnert.

„Bist du ein Star?“, fragt sie ihn keck.

„Was soll das? Mir ist nicht zum Scherzen.“

„Na, es heißt doch: Ich bin ein Star, holt mich hier raus.“

„Sehr witzig. Und was jetzt?“

„Wir fahren jetzt wieder nach links. Hier unten sollte es auch für dich kein großes Problem sein. Dann müssen wir die Schier abschnallen und die Steilstufe bis zum Ende des Abbruchs hinaufsteigen.“

„Ich bin jetzt schon schweißgebadet. Aber gut, wenn wir schon so weit gekommen sind.“

Der felsige Abbruch ist von hier aus gut zu sehen. Marlies schätzt, dass er gute zehn Meter hoch ist. Beim extrem steilen Aufstieg mit den Schischuhen müssen sie die Stöcke kurz nehmen, um nicht die Balance zu verlieren.

„Schau mal. Da links ist was Rotes.“

Marlies schaut in die Richtung, in die Joe mit dem Schistock deutet. Richtig, da schaut ein kleiner roter Zipfel unter dem Schnee hervor.

„Du hast ja Adleraugen.“

„Behalte die Handschuhe an, wenn du’s rausziehst.“

„Alles klar, Herr Kommissar.“

Marlies ist schon bei der Stelle und zieht ein rotes Täschchen aus dem Schnee. Muss wohl von der Unfallstelle abgerutscht sein, denkt sie.

Was ist wohl in dem Täschchen? Obwohl sie sich noch immer im steilen Hang befindet und keineswegs sicher steht, öffnet sie den Reißverschluss des Täschchens. Sie hat nur dünne Handschuhe an, sodass sie gezielt hineingreifen kann. Als Erstes holt sie ein Handy hervor, das aber tot ist. Sie zeigt es Joe, der unterhalb von ihr auf der rechten Seite steht. „Akku leer, glaub ich. Aber wir können dann im Hotel schaun. Mein Ladegerät sollte passen.“

Sie steckt das Handy in ihre Jackentasche und holt als Nächstes einen Ausweis heraus. Dieser lautet auf Anke Oswalt und ist zu Marlies´ Überraschung ein Behindertenausweis.

„Du, Joe, diese Anke ist, also war, Epileptikerin. Was sagst jetzt?“

„Vielleicht hatte sie einen Anfall und ist deshalb abgestürzt?“

„Möglich, aber genauso gut könnte sie im Nebel den Abbruch einfach nicht gesehen haben. Die Frage ist doch, welche Rolle der zweite Schifahrer gespielt hat.“

Dann ein deutscher Personalausweis.

„Rat mal, wie alt die Anke ist.“

„Keine Ahnung. Sag schon.“

„Fünfundvierzig, wenn ich mich nicht verrechnet habe.“

„Ich hätte sie jünger geschätzt, etwa so alt wie du.“

„Danke. So schnell wird aus einem Vorschuss-Wunsch ein richtiger.“

Als Letztes fischt Marlies ein durchsichtiges Plastiksäckchen mit einigen Geldscheinen darin heraus.

„Marlies, hör jetzt auf. Schaun wir, dass wir zu der Aufprallstelle kommen. Ich fühl mich da nicht sehr wohl.“

„Ja, okay.“

Marlies schaut in das Täschchen und glaubt, nur noch einen Lippenstift und ein Päckchen Taschentücher zu erkennen.

Sie erreichen die zertrampelte Unfallstelle und blicken nach oben. Der Abbruch ist zerklüftet und fast senkrecht.

„Das reicht, um zu Tode zu kommen“, sagt Joe keuchend. „Hat sie einen Helm getragen?“

„Auf dem Foto in der Zeitung ist sie ohne Helm, aber mit einer Haube zu sehen.“

„Egal. Ein Genickbruch ist auf alle Fälle drin. Selbst mit Helm.“

Marlies sucht mit den Augen den Felsen ab und entdeckt bei einem Vorsprung einen rosa Stoffrest, der von einer Schibekleidung stammen könnte. Sie klettert nach oben. Mit den Schischuhen ist das selbst für sie keine einfache Angelegenheit.

„Hat sie einen rosaroten Anorak angehabt?“, fragt sie nach unten.

„Ich habe sie nie in Schibekleidung gesehen. Komm jetzt bitte vorsichtig runter. Sonst muss ich wegen dir auch noch die Bergrettung rufen.“

Marlies springt das letzte Stück hinab und landet direkt neben Joe. Sie sehen sich noch um, können aber nichts mehr entdecken. Also wieder hinunter zu den Schiern. Fünf Minuten später kommen sie bei der Piste, knapp oberhalb der Mittelstation der Mittersteinbahn, heraus.

„Nie wieder“, sagt Joe. „Ich spüre jeden Knochen.“

„Aber ausgezahlt hat es sich schon. Findest du nicht?“

„Fahren wir rauf zur Hütte. Mir reicht‘s für heute.“

Die Sitzplätze vor der Hütte sind alle besetzt. Gruppen von Schifahrern stehen herum und warten. Sie gehen hinein und finden mit Glück einen freien Platz, weil genau vor ihnen ein Paar aufsteht.

Marlies wartet, bis Joe einen kräftigen Schluck vom Weißbier genommen hat. „Und jetzt?“

„Bewiesen ist damit gar nichts. Wir bringen das Täschchen am besten zur nächsten Polizeistation. Die ist in Bad Mitterndorf, glaube ich.“

„Aber kommt dir das alles nicht eigenartig vor. Der zweite Schifahrer muss doch eine Rolle gespielt haben.“

„Wer weiß, ob der zur gleichen Zeit dort war. Du sprichst immer von einem Schifahrer. Es könnte auch eine Frau gewesen sein, oder?“

„Warum hat ihr Geliebter, also dieser Kurt, nicht gemeldet, dass sie abgängig ist? Warum haben die im Hotel nicht angegeben, dass eine Frau fehlt?“

„Eines ist klar. Die Polizei wird den Kurt befragen. Eine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung könnte er schon

ausfassen, wenn er keine gute Erklärung hat.“

„Willst Du dich nicht um den Fall kümmern? Es muss ja kein Unfall sein. Vielleicht ist es sogar Mord.“

„Aber Marlies. Immer deine Phantasie. Fahren wir zum Hotel ab. Ich möchte endlich aus dem verschwitzten Gewand kommen.“

Die Frau des Kommissars

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