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1. Evangelium – wovon wir leben

Evangelium (griechisch für „gute Nachricht“) bedeutet: Gott wendet sich uns Menschen freundlich zu.

Gott? – Und wir?

Dass Gott sich uns Menschen freundlich zuwendet, klingt zunächst mal fromm, traditionell und wenig spektakulär. Es ist aber alles andere als selbstverständlich. Wie wenig selbstverständlich, das zeigen ein paar kritische Fragen, die an Kirche und Christsein gestellt werden können. Von außen kommen diese kritischen Fragen sowieso. Aber wenn die Stimme des Zweifels einmal lauter wird, dann auch von innen.

Frage eins: Gott – wer ist das überhaupt? Gibt es ihn und wenn ja, woher wissen wir das? Welcher Mensch kann guten Gewissens von sich behaupten, etwas über ihn, den Ganz Anderen, sagen zu können? Wer kann sich hinstellen und in seinem Namen reden wollen? Ist all das, was in Religion und Kirche geschieht, nicht extrem ideologieverdächtig?

Zweitens, anders herum gefragt: Der Mensch – wer ist das überhaupt? Ist dieses flatterhafte Wesen auf einem kleinen Planeten am Rande des Weltalls überhaupt der Rede wert? Was sind seine wenigen Tausend Jahre Geschichte gegenüber dem Alter des Universums oder gar gegenüber der (menschlich undenkbaren) Ewigkeit? Was wiegen die kulturellen und ethischen Glanzleistungen der Menschheit gegenüber dem Meer an Elend, Gewalt und Tränen, das ihre Geschichte begleitet? Hat all das einen Sinn? Warum sollte Gott, wenn es ihn gibt, gerade uns interessant finden und sich uns zuwenden?

Und, drittens, selbst wenn er das täte: Wie könnte eine solche Zuwendung denn aussehen? Gott und Mensch sind doch von vornherein kategorial unterschieden, sie sind weiter voneinander entfernt als Amöbe und Blauwal. Wie könnten sie etwas miteinander zu tun haben, selbst wenn sie wollten? Wie miteinander kommunizieren? Unsere Alltagserfahrung, Filme und Literatur sind voll davon, wie fremd Menschen einander sind, wie unterschiedlich sie Dinge wahrnehmen und deuten. Schon unter Partnern, Familienangehörigen und Nachbarn scheitert Kommunikation immer wieder. Wie soll denn dann eine Beziehung möglich sein zwischen Gott und Mensch?

Evangelium bedeutet: Gott wendet sich uns Menschen freundlich zu. Diese gute Nachricht in all ihrer Unwahrscheinlichkeit zu thematisieren – das ist der Grund, warum es Kirche gibt.

Die gute Nachricht, dass Gott sich uns freundlich zuwendet, gilt von Anfang an in größter Allgemeinheit und Breite. Alle Menschen, die je gelebt haben und leben werden, wo auch immer auf diesem Globus, sie alle sind mit gemeint. Dass Gott sich jedem Menschen freundlich zuwendet, gilt grundsätzlich – und längst nicht bloß für Christen. Die gesamte Schöpfung, das Leben jedes Menschenkindes ist prinzipiell und von Anfang an Evangelium. Denn Evangelium heißt: Zuwendung ohne Vorleistung.

Dass es die Welt überhaupt gibt (mit ihrer Ordnung und ihrem Chaos), dass es das Leben überhaupt gibt (in all seiner Schönheit und Widersprüchlichkeit), dass Kinder geboren werden (in welchen Umständen auch immer), das alles ist zunächst einmal Evangelium. Denn einer wollte dieses Leben. Kein menschliches Leben ist chancen- oder wertlos, auch wenn es aus mancher Sicht so scheinen mag. Wenn das Evangelium als bedingungslose Zuwendung Gottes einen Sinn haben soll, dann hier, beim ersten Atemzug eines Kindes. Nur so ist es möglich, dass Gott und Mensch miteinander zu tun haben: indem wir über seine Zuwendung staunen.

Pauschale Sätze über Gottes mögliche Existenz oder Nicht-Existenz führen ins Nichts – oder, was dasselbe ist, in einen endlosen Zirkel. Denn uns fehlt der übergeordnete Standpunkt, von dem aus wir solche Sätze sprechen könnten. Wenn wir aber staunen über das Leben, wenn wir bereit sind, unsere Geburt als ein Zeichen der Zuwendung anzusehen, dann stehen wir am Anfang eines möglichen Weges mit Gott.

Aber das Böse

Wahrscheinlich haben Sie bei den letzten Zeilen immer schon mitgedacht: Die Verhältnisse, sie sind aber nicht so. Sie sind nicht so, wie sie sein könnten und sollten. Denn die Schöpfung ist verdunkelt. Gott und Mensch verstehen einander nicht. Das Urvertrauen ist gestört. Warum? Das wird auch in der Bibel nicht wirklich begründet. Es wird einfach erzählt (1. Mose 3). Tatsache ist jedenfalls: Alles Gute ist in dieser Welt nur gebrochen vorhanden.

Manche Kinder werden vor ihrer Geburt getötet.

Manche Kinder werden geboren, aber mit Behinderung.

Manche werden gesund geboren, aber in kaputte Familienverhältnisse hinein: Alkoholismus, Mediensucht, Gewalt …

Manche Kinder werden in eine intakte Familie hineingeboren, leben aber in einem katastrophalen Teil dieser Erde.

Manche Kinder wachsen in wohlhabenden Verhältnissen auf, geraten aber dennoch in eine psychische Schieflage: Leistungsdruck, Sinnkrise, Orientierungsverlust …

Und selbst wenn ein Mensch in die optimale Familie hineingeboren würde, die ihm alles an Zuwendung gäbe, was in dieser Welt menschenmöglich wäre – er oder sie lebte immer noch auf einer Erde, die von himmelschreiender Ungerechtigkeit geprägt ist, von Kriegen, von Geldgier und menschengemachten ökologischen Desastern.

Damit nicht genug: Er oder sie würde auch in sich selbst immer wieder destruktive, egoistische, misstrauische, geizige Tendenzen feststellen. Jeder Mensch, der über ein Minimum an ehrlicher Selbsterkenntnis verfügt, weiß, dass er am Maßstab des konsequent Guten scheitert. Jeder und jede trägt einen (mehr oder weniger genauen) Kompass in sich für das, was richtig und was falsch ist. Wir nennen ihn das Gewissen. Dieser Maßstab, den in je spezifischer Ausprägung alle Religionen und Weltanschauungen kennen, wird laut Bibel von Gott in der Beurteilung jedes Menschenlebens angelegt (Römer 2,14–16). Auch wenn das Leid und das Böse nicht automatisch dasselbe sind, auch wenn ihr Ursprung ungeklärt und der jeweilige Anteil von Schuld und Verhängnis oft nicht klar zu bestimmen ist: All dies markiert einen tief gehenden Riss im Verhältnis zwischen Gott und Mensch. So tief, dass er sich mit menschlichen Mitteln nicht überbrücken lässt. Die durch die Schöpfung gesetzte Verbindung zwischen Gott und Mensch, von der nicht nur das Christentum spricht, sondern so gut wie jede Religion – diese Verbindung ist gestört. Und zwar nachhaltig.

Jeder Mensch hat (s)ein Evangelium

Wir leiden unter dem Bösen. Hoffnung ist Mangelware – vor allem, wenn sie begründet sein soll. Gerade deshalb können wir Menschen ohne irgendeine Form von Evangelium, ohne irgendeine gute Nachricht überhaupt nicht leben. Vorausgesetzt, wir meinen „Leben“ im Vollsinn, also nicht nur bloßes Existieren oder Vegetieren. Niemand lebt auf Dauer ohne eine Vision, ohne eine Motivation, die ihn oder sie antreibt, hält und trägt. Der Unmenge von Leid, Bosheit, Schuld, Abstumpfung und Sinnlosigkeit muss eine positive Kraft entgegenstehen, wenn erfülltes Leben möglich sein soll.

Aber wo kommt diese positive Kraft her? Worin ist eine wie auch immer geartete positive Vision begründet? Wofür lohnt es sich zu leben? Sehen wir uns um. Da werden eine Reihe von Möglichkeiten praktiziert. Ganz unterschiedliche „gute Nachrichten“ sind im Angebot.

Wer zum Beispiel wirtschaftsgläubig ist, folgt dem Evangelium des Wachstums. Er arbeitet darauf hin und hofft, dass die Quartalszahlen positiv aussehen. Möge am Jahresende die Wachstumsprognose erreicht werden, vielleicht sogar übertroffen! Und im nächsten Jahr wieder. Und danach wieder. Immer weiter …? Über kurz- und mittelfristige Gewinne hinaus stellen sich die meisten diese Frage lieber nicht.

Andere Menschen sind eher wissenschaftsgläubig. Sie setzen auf die menschliche Kreativität und Entwicklungskraft. Zwar nehmen sie wahr, dass mit wachsender Weltbevölkerung die globalen Probleme zunehmen. Sie hoffen aber darauf, dass die ökonomische, technologische und sozialplanerische Einfallskraft der klugen Köpfe reicht, um dies auszugleichen.

Weil dieser Optimismus allerdings an seine Grenzen stößt, wenden sich viele Zeitgenossen dem Evangelium einer kosmischen Harmonie zu. Wer die Umwelt schone, heißt es da, wer sich vom Leistungsprinzip verabschiede, Gelassenheit einübe, den äußeren und inneren Menschen im Einklang halte, der trage dazu bei, die ursprüngliche Ausgewogenheit zwischen Mensch, Welt und dem Göttlichen zurückzugewinnen. Ein hehres Ziel. Manche verschreiben sich ihm tatsächlich radikal und proben den Ausstieg aus der Zivilisation. Für die meisten aber bleibt es bei sporadischen Ausflügen zu fernöstlichen Weisheiten, zu Slow Food und Qigong. Am Montag läuft die Alltagsmaschinerie meistens weiter. Und selbst wenn jemand konsequent zurück will zur Natur – tut er auch dies nicht immer nur in einer Nische der Effizienzgesellschaft?

Weil viele von uns immer mehr spüren, wie komplex die globalen Zusammenhänge, wie ausweglos die Widersprüche und wie fernliegend ganzheitliche Lösungen sind, tauchen sie ab in das Evangelium der Privatheit. Tagsüber folgen sie den Gesetzen von Wettbewerb und Erfolgsmaximierung. Abends und am Wochenende ist Rückzug angesagt in die heile Welt des Wohnzimmers mit Surround-Sound und Mega-Flachbildschirm. Bis die Akkus wieder einigermaßen geladen sind für die nächste Runde im Konkurrenzkampf. Oder sich eben auch nicht mehr ausreichend laden lassen …

Daneben steht für manche der neue Atheismus. Auch er vertritt auf seine Weise eine Art von Gläubigkeit. Er glaubt an das Evangelium eines radikalen Humanismus, eines mündigen und absoluten, von allen externen Autoritäten losgelösten Menschen. Alte Gottesbilder sollen beseitigt werden, an ihre Stelle tritt das Evangelium von der Autonomie (wörtlich: Selbstgesetzlichkeit) und Vervollkommnung des Menschen. Der radikal freie Mensch werde auch der radikal gute sein, so lautet die Hoffnung. Belege dafür sind allerdings Mangelware.

Konkreter und zugleich transzendenter stellen sich gegenüber diesen innerweltlichen Evangelien die Heilswege der klassischen Religionen dar. Erkenne dein vorbestimmtes Schicksal und füge dich durch gute Lebensführung in den Zusammenhang der Wiedergeburten ein, sagt der Hinduismus – dann wirst du Stufe um Stufe emporsteigen.

Löse dich durch Meditation und rituelle Praxis vom Leid und von den Leidenschaften, sagt der Buddhismus – dann kommst du der Verschmelzung mit dem großen All-Nichts näher.

Diene dem einen Gott und verehre ihn, indem du den Regeln des Korans folgst, sagt der Islam – dann wird sich an der Schwelle des Paradieses die Waage deiner guten Taten zu deinen Gunsten neigen.

Liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst (5. Mose 6,4f; 3. Mose 19,18), halte Gott die Treue und tue das Gerechte – dann wirst du von ihm, dem Ewigen, auf ewig anerkannt. So sagt es das Judentum.

Um es auf den Punkt zu bringen: Jeder Weltanschauung entspricht jeweils eine bestimmte Form des Glaubens. Jeder Mensch folgt (s)einem Evangelium. Und keinem von uns steht darüber ein abschließendes Urteil zu. Denn niemand verfügt über eine transzendente (weltüberlegene) Position, die ein Urteil möglich machen würde. Ja, streng genommen ist nicht einmal der rein formale Vergleich von Religionen und Weltanschauungen möglich, wenn man die Maßstäbe wissenschaftlicher Sauberkeit anlegt – denn immer spielt der eigene Standpunkt hinein, die eigene Perspektivität und Schwerpunktsetzung. So kann auch dieses Buch mit seinen Gedanken über Evangelium und Kirche nur eine positionelle, von bestimmten Überzeugungen getragene Sicht vertreten.

Manche halten das zwar im Zeitalter der vielen Wahrheitsansprüche für überholt. Das ist aber nicht die einzig mögliche Sichtweise, höchstwahrscheinlich nicht einmal eine besonders sinnvolle. Einen Standpunkt zu vertreten, der nicht allgemein geteilt wird, ist durchaus legitim, ja sogar nötig – gerade in Zeiten der Postmoderne. Alles andere hieße, das Gespräch und die gemeinsame Suche nach lohnenden Zielen aufzugeben. Die Gegenposition, also die Behauptung, es gebe überhaupt keine Sätze mit allgemeinem Wahrheitsanspruch mehr, führt sich selbst ad absurdum, weil sie gerade einen solchen Satz mit allgemeinem Wahrheitsanspruch darstellt.

Das Evangelium in Jesus Christus

Die Überzeugung, die im Folgenden vertreten wird, ist die christliche. Sie lautet: Die Zuwendung Gottes zu seinen Menschen ist in neuer und entscheidender Weise in Jesus Christus geschehen. Als Gott und Mensch zugleich verkörpert er das Wort Gottes zu Gunsten dieser Welt (Johannes 1,1 – 4.14). Im Reden und Handeln des Jesus von Nazaret war Gott in dieser Welt präsent. Sein Leben, Sterben und Auferstehen baut uns die Brücke zurück zu Gott. Das ist es in Kürze, worum es im Evangelium der Bibel geht. Ausführlich erzählt, geschildert, umschrieben und reflektiert in ihren 66 Büchern – konzentriert in dem Satz aus Johannes 3,16: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einziggeborenen Sohn hergab, damit alle, die sich auf ihn verlassen, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“

Von den anderen Heilswegen, die weiter oben kurz angesprochen wurden, unterscheidet sich dieser Weg in mindestens drei Weisen:

1. Nicht der Mensch erarbeitet sich seine gute Zukunft / seine Rettung / seinen Sinn / seine Anerkennung bei Gott – sondern Gott selbst tut, worauf es ankommt. Wir Menschen sind so tief in Unglück und Schuld verstrickt, vom Bösen und vom Leid gequält, dass wir von uns aus die Wende nicht schaffen. Die Initiative kann allein von Gott ausgehen. Was er zu Gunsten seiner Menschen tut, geschieht völlig ohne menschliche Vorbedingung und Voraussetzung (Römer 3,28). Das ist das Evangelium schlechthin.

2. Nicht eine Lehre / eine Erkenntnis / eine Verhaltensweise / eine heilige Schrift steht im Mittelpunkt des christlichen Glaubens, sondern eine konkrete Person. In der geschichtlichen Person Jeschua aus Nazaret (historisch greifbar ca. 4 v. Chr. – 11.04.30 n. Chr.) zeigte Gott uns Menschen, wie er wirklich ist: liebevoll, gerecht und mächtig gegenüber dem Bösen. Das ist Evangelium pur.

3. Als Mensch, in dem zu hundert Prozent Gott da war (der ihn also nicht nur symbolisierte oder als Prophet vertrat), war Jesus Christus keine vorübergehende Erscheinung der Geschichte. Nach ihm war die Welt verwandelt. An Ostern trat Jesus Christus wieder in die Dimension Gottes ein, in den Machtbereich des ungetrübten Lebens. Dieser Machtbereich wirkt auch in unsere kaputte Welt, in die zerstörte Schöpfung und das zerrüttete Miteinander hinein. Der Ostersonntag ist der erste Tag der neuen Schöpfung. Seitdem geht das Leben Gottes in Jesus Christus weiter, und Menschen aller Zeiten und Orte können daran Anteil haben. Weil Christus Mensch war, aber eben mehr als nur Mensch, kann er seine neue Art der Identität auf uns übertragen (Galater 2,20). Bei einem gewöhnlichen Menschen wäre es sinnlos, von stellvertretendem Sterben und Auferstehen zu sprechen. Bei demjenigen aber, in dem auf einzigartige Weise Gott und Mensch identisch sind, wird diese Stellvertretung wirksam (Römer 3,24f; 4,25). Das ist das Evangelium für uns.

Das Evangelium für uns

Wer bis hierher mitgedacht hat, fragt sofort: Wie sollen wir als Menschen an einem historisch, geografisch und kulturell völlig anderen Ort von so einem entlegenen Ereignis berührt werden? Was für eine Relevanz hat das, was im Palästina des Jahres 30 geschehen ist, für uns? Antwort: Es ist von bleibender Relevanz, weil Gott heute noch redet und handelt. Das Evangelium kommt uns als Wort Gottes nahe und wird für uns wirksam.

„Wort Gottes“, kommt gleich die Rückfrage, was soll denn daran so besonders sein? Worte sind doch Schall und Rauch, mehr als je zuvor. Sie prasseln über die Medien auf uns ein, sie vermehren sich inflationär, werden ökonomisch und politisch instrumentalisiert, schütten uns zu mit Wichtigem und (allermeist) weniger Wichtigem. Was heißt da „Wort Gottes“? Wenn Gottes gute Nachricht wirklich so wertvoll, einzigartig und überlebenswichtig ist, wie kommt er darauf, sie gerade in ein so flüchtiges Medium wie das Wort zu verpacken?

Wenn Gott die Botschaft, mit der er sich selbst identifiziert und in der sein Herz schlägt, einem so vergänglichen und missverständlichen Mittel wie dem Wort anvertraut, dann tut er damit genau das, was er bereits in der Schöpfung und in der Erlösung getan hat: Er beugt sich herab. Er wendet sich seinen Menschen zu. Gott macht sich für uns klein. Der Philosoph und Theologe Johann Georg Hamann fasst diesen Gedanken vor rund 250 Jahren in folgende Worte: „Wie hat sich Gott der Vater gedemütigt, da er einen Erdenkloß nicht nur bildete, sondern auch durch seinen Odem beseelte. Wie hat sich Gott der Sohn gedemütigt, er wurde ein Mensch, er wurde der geringste unter den Menschen […]. Wie hat sich Gott der Heilige Geist erniedrigt, als er ein Geschichtsschreiber der kleinsten, der verächtlichsten, der nichts bedeutendsten Begebenheiten auf der Erde wurde, um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen die Ratschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?“

Indem Gott seine Energie, sein Leben, seine Kraft in das schwache Medium „Wort“ hineinlegt, geschieht nun aber etwas Erstaunliches: Das Medium wird verändert. Gott macht das Wort mächtig. Es wird mächtig genug, um Wirklichkeit zu schaffen, um Einsicht zu erzeugen, Leben zu verändern. Gottes Wort, das Evangelium, ist zugleich Tat, ist Ereignis (Psalm 33,4). In den geschichtlich zufälligen Formulierungen der Bibel erhalten, entfaltet dieses Wort bis heute immer wieder neu eine unerklärliche Dynamik. Und zwar jedes Mal dann, wenn es Menschen so begegnet, dass ihnen seine lebensrettende Relevanz aufgeht. Wo dies passiert, bleibt die Geschichte von Jesus Christus nicht das Referat längst vergangener Ereignisse, sondern wird Teil meiner eigenen Geschichte. Genauer: Meine Geschichte wird hineingezogen in die Christusgeschichte, wird ein Teil von dieser unüberholbaren, einzigartigen und zugleich für jeden Menschen offenen Geschichte. Indem Gott redet, handelt er. Dieses „Wortereignis“, diese ganz spezifische Dynamik überbrückt die Grenzen von Zeit und Raum, von Individualität und Kultur. Wo das passiert, kommt – mit den Worten eines ostafrikanischen Bischofs gesagt – ein Mensch weg vom Christentum, hin zu Christus. Oder, mit einem Ausdruck brasilianischer Indio-Christen formuliert: Ein Mensch geht „in Christus hinein“. Eine engere Verbindung ist nicht denkbar.

Wenn wir uns einmal (und sei es zunächst nur testweise) einlassen auf dieses biblisch verwurzelte Wortverständnis, dann wird damit eine Reihe von anderen ebenfalls denkbaren Interpretationen von „Wort“ relativiert. Zugleich kommen wir so zu einer ersten wichtigen Einsicht in das Wesen von Kirche. Denn die gegenwärtige kirchliche Landschaft wird von höchst unterschiedlichen Konzepten von „Wort Gottes“ geprägt.

Es wäre aus biblisch-reformatorischer Sicht ein tief greifendes

Missverständnis von Kirche (1),

sie als Vereinigung zu verstehen, die der Erinnerung an eine große Persönlichkeit dient, also als Institution zur Pflege von Tradition und Kultur. Wird das Evangeliumswort als bloße Information über Vergangenes aufgefasst, dann bleibt die Predigt ein verkopftes und distanziertes Referat. Denn warum sollte Jesus Christus dann von anderer Relevanz sein als zum Beispiel Buddha oder Plato, als Mohammed oder Goethe? Große Persönlichkeiten und weise Männer der Vergangenheit gab es viele. Eine Gemeinde, die sich nur um einen von ihnen versammelt, um sein Andenken hochzuhalten, wäre nicht mehr als ein Museumsverein oder eine Gesellschaft zur Kulturpflege. Möglicherweise nicht unbedeutend, aber keinesfalls überlebenswichtig. Es ginge gut auch ohne. Ein zweites

Missverständnis von Kirche (2)

schließt sich gleich an. Es besteht darin, als Evangeliumswort nur dasjenige zu akzeptieren, was durch die Persönlichkeit eines begabten Vermittlers hindurchgeht, von ihm oder ihr also in anrührender Weise „rübergebracht“ wird. Die Gedanken und Worte eines solchen Predigers, Liturgen oder Seelsorgers wären dann das, was Gott uns heute sagen wollte. Je authentischer dieser Mensch, desto glaubwürdiger die Botschaft. Wer Kirche bzw. Gemeinde so verstehen will, macht aus ihnen einen Fanclub einer charismatischen Persönlichkeit. Was aber, wenn der Resonanzboden nicht mitschwingt? Was, wenn der menschliche Mittler nicht gut drauf wäre, sich in der Gottesdienstvorbereitung nicht ausreichend von Gott angesprochen fühlte oder aber sein Angesprochensein nicht so kommunizieren könnte, dass andere sich angesprochen fühlen? Oder was wäre, wenn die wortvermittelnde Person zwar jedes Mal eine beeindruckende und wirkungsvolle Performance brächte, die „Konsumenten“ sich aber von ihm oder ihr abhängig machten? Allzu leicht schiebt sich dann die Person des Vermittlers an die Stelle des eigentlichen Evangeliums.

Es stimmt zwar: Das Wort Gottes muss im zwischenmenschlichen Kommunikationsprozess „durch Personen hindurch“, es geht „in Personen hinein“. Es ist aber deshalb nicht von diesen Personen abhängig. Gottes Evangeliumswort hat ein Eigenleben, hat eine eigene Macht und Präsenz, auch unabhängig von den persönlichen Gaben und Grenzen eines menschlichen Vermittlers. Das kann für selbstkritische Pfarrer und auch für die Gemeinden weniger selbstkritischer Pfarrer eine große Entlastung bedeuten. Gottes Wort ist so stark, dass es wirken kann, „wo und wann er will“ (Augsburger Bekenntnis Art. 5; abgedruckt z. B. im Anhang des Evangelischen Gesangbuchs). Im Extremfall sogar entgegen der Absichten des Predigers!

Es gibt noch eine dritte Weise, Gottes Wort einseitig zu verstehen. Und zwar nicht so sehr als geschichtlich Gewesenes, auch nicht so sehr als in der Gegenwart sich Ereignendes, sondern pointiert von der Zukunft her. Ist das Evangeliumswort, so wird dann gefragt, nicht Verheißung, Versprechen einer neuen Welt, auf die wir noch warten? Sind Christen nicht Menschen des neuen Machtbereichs Gottes, die berufen sind, die alte Welt stückweise auf diese Zukunft hin zu verändern? Zweifellos. Und doch kommt es hier wieder leicht zu einem

Missverständnis von Kirche (3)

Wenn nämlich das Evangelium nicht mehr ganz und gar als Zusage verstanden wird, als Geschenk Gottes, als Aktion, die er allein an und mit seinen Menschen vollzieht, dann droht es zum Appell zu werden – zum Weltrettungsprogramm oder zur Tugend-Ideologie. Die Kirche würde entsprechend zur Gruppe der Weltverbesserer. Manche Kirchentagsbesucher und Eine-Welt-Aktivisten werden verstehen, wovon hier die Rede ist. Da treten Menschen mit besten Absichten an, um die Schöpfung zu bewahren, um Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen. Da wollen sie mit vielen kleinen Schritten die Gesellschaft verändern. Ein Engagement, das an sich überhaupt nicht zu diskreditieren ist! Denn wer den Hintern vom Sitzkissen hochkriegt, um an einer kleinen Stelle dieser Welt mit anzupacken, hat – auch wenn er scheitert – auf jeden Fall schon mal weniger falsch gemacht als derjenige, der aus dem Sofa überhaupt nicht herauskommt.

Nur: Die Überforderung ist unvermeidlich. Wie viele gut gemeinte Appelle sind schon versandet, teils wegen mangelnder Sachkenntnis, teils wegen zu großer Komplexität der Zusammenhänge. Wie viele Pilotprojekte wurden schon eingestellt, weil der lange Atem fehlte. Wie viele Predigten ergehen sich in pauschalen Allgemeinheiten („man sollte ...“, „müssten wir nicht alle ...“, „lasst uns doch ein Stückchen mehr ...“) und bewirken doch weniger als nichts. Überspannte Rhetorik immunisiert im Lauf der Zeit ihre Hörer und befördert ungewollt Trägheit und Lethargie. Und selbst wo einzelne Aktionen gelingen, wo Aktivgruppen erfolgreich sind und Bewusstsein sich stückweise ändert – ist das gleichbedeutend mit dem Evangelium von der Rettung des Menschen und der Welt? Oder wird hier der Mund doch programmatisch etwas zu voll genommen?

Noch einmal: Das Evangelium hat praktische Folgen, keine Frage. Sonst wäre es nicht das Evangelium, sondern nur spirituelle Kosmetik. Das Evangelium verändert das ganze Leben – Kopf und Herz, Hand und Mund. Nur bleibt es dabei, dass unser Handeln und Gottes Handeln zwei verschiedenen Kategorien angehören. Er schafft das Heil in Christus, er verändert die Welt, er rettet mein Leben. Mein bisschen Engagement ist ein Echo dessen, ein Reflex und ein Rädchen in Gottes großem Getriebe. Aber es ist niemals das Evangelium selbst. Wie viele Pfarrer, wie viele Kirchenvorsteher und Engagierte sind in ihren Gemeinden mit der Hoffnung angetreten, Kirche und Welt besser zu machen. Oft haben sie damit sich und andere überfordert, sind in Zynismus oder Mutlosigkeit gelandet. Das ist tragisch – aber es kann auch anders gehen. Denn wo Gottes Handeln und menschliches Handeln konsequent unterschieden werden, droht dieser spirituelle Burnout nicht so schnell. „Wir sollen Menschen sein und nicht Gott“, schrieb Luther seinem Freund Melanchthon, der zum Perfektionismus neigte. Evangelium heißt: Gott handelt anders als wir Menschen. Aber er handelt eben darin für uns Menschen. Und macht uns dann zu seinen Mitarbeitern.

Nehmen wir uns Zeit für ein Zwischenfazit: Das Evangelium ist Gottes freundliche Zuwendung zu den Menschen und ihrer Welt. Es ist

– grundgelegt in der Schöpfung all dessen, was existiert und lebt;

– erneuert und verbürgt im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi;

– verfasst und weitergegeben im biblisch-schriftlichen und im mündlichen Evangeliumswort.

– Nehmen wir das einmal als Arbeitshypothese. Dann schließt sich im Blick auf unser Thema die Frage an:

Was ist dann eigentlich Kirche?

Gegen Ende seines Lebens fasste Martin Luther in seiner Schrift „Von den Konzilien und [der] Kirche“ zusammen, was die Reformation für das Verständnis von Kirche bedeutet hat (1539, Weimarer Ausgabe [WA] Bd. 50, S. 509–563; Ausgewählte Schriften [AS] hg. von K. Bornkamm und G. Ebeling, Bd. 5, Insel Verlag Frankfurt 1982, S. 182–221). Da dieses Werk für unser Thema so zentral ist, werde ich unter dem Kurztitel VKK noch häufiger daraus zitieren. Luther entfaltet zunächst die Bedeutung des Evangeliumswortes als Ankerpunkt für Glauben und christliche Existenz. Dann fährt er fort: „Wo du nun hörst oder siehst, dass solch ein Wort gepredigt, geglaubt, bekannt und danach getan wird, da habe keinen Zweifel, dass es sich dort auf jeden Fall um eine rechte heilige und allgemeine Kirche handelt, um ein christliches heiliges Volk, auch wenn es von ihnen nur sehr wenige gibt. Denn Gottes Wort kommt nicht leer zurück (Jesaja 55,11)“ (WA 50, 629,28–31). Kirche ist, wie Luther auch kürzer zusammenfassen kann, Geschöpf des Evangeliumswortes. „Wo das Wort ist, da ist die Kirche“ (WA 39 II, 176,8f). Punkt. Das ist die evangelische Definition von Kirche. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Mehr nicht als das Evangelium. Kirche entsteht da, wo Menschen Gottes Zuwendung begegnen und sie annehmen. Kirche ist da, wo Menschen Gottes Leben schaffendes Evangeliumswort in sich aufnehmen. Und zwar in seiner gehörten Form (Predigt, Lieder, Liturgie, biografischer Bericht, seelsorglicher Dialog, theologische Einsicht, ...), aber auch in seiner sinnlich wahrnehmbaren Form (Taufe und Abendmahl). Die sogenannten Sakramente sind sichtbare und spürbare Formen des Evangeliumswortes, fühlbare Zuwendung Gottes. Eine Zuwendung, die sich dann auch weiter fortpflanzt und auswirkt, hinein in das soziale Miteinander einer Gemeinde. Wo Menschen durch andere Menschen hindurch diesem freundlichen Gott begegnen und ihm – wie unvollkommen auch immer – mit ihrem Leben entsprechen, da ist Kirche. Das Evangelium von Jesus Christus ist dafür die notwendige und ausreichende Bedingung. Mit anderen Worten: Wo Gottes Wort richtig ankommt, kann es gar nicht anders sein, als dass Kirche entsteht. Immer wieder neu. Mehr als das Evangelium braucht es dazu nicht – keine Ämter, Verwaltungen, Traditionen, Finanzen, Gebäude und all das andere, das uns in und mit Kirche oft so stark beschäftigt.

Aber auch nicht weniger als das Evangelium. Es geht eben um „solch ein Wort“, um das mächtige, lebendige und dynamische Wort Gottes, so unscheinbar es manchmal auch auftritt. Worum es nicht geht bzw. was zur Entstehung von Kirche nicht ausreicht, ist ein menschliches Wort, wie rhetorisch ausgefeilt, wie wissenschaftlich durchdacht, intellektuell oder emotional überzeugend es auch immer sein mag. Worum es nicht geht, ist eine kulturelle Tradition, eine beeindruckende Gründerpersönlichkeit oder eine kollektive Anstrengung. Wer Kirche so begründen will, wird sie verfehlen. Die wahre und eigentliche Kirche sind jene Menschen, die das Evangeliumswort Gottes in Jesus Christus durch den Heiligen Geist erfassen, das heißt, die es hören, ihm zustimmen und sich mit ihrer Existenz, mit all ihrem Vertrauen darauf einlassen.

Schlussbild

Will man Kirche – und das heißt konkret immer auch: jede einzelne Gemeinde – mit einer Pflanze vergleichen, dann wäre das Evangelium das Samenkorn, das Gott in einen guten Nährboden hineinlegt (Lukas 8,11). Das Potenzial für Wachstum und Leben ist in diesem Korn bereits enthalten. Es tritt in Kontakt mit seiner Umwelt, es zieht Wasser, Wärme, Licht und Nährstoffe an sich und beginnt, seine Kraft zu entfalten. Wurzeln strecken sich aus, ein Trieb beginnt zu sprießen. Kirche ereignet sich, Gemeinde entsteht. Jeden Tag neu. Die einzig unverzichtbare Bedingung für all dies ist, dass Gott handelt.

Daraus folgt: Kirche hat nur dann eine Existenzberechtigung, wenn sie in all ihrem Reden, Handeln und Sein dem Evangelium so weit wie nur irgend möglich entspricht. So wie eine Pflanze dem Samenkorn entspricht, aus dem sie entsteht. Alles andere ist demgegenüber zweit- und drittrangig.

Das Gott-Mensch-Projekt

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