Читать книгу Das Gott-Mensch-Projekt - Martin Abraham A. - Страница 7

Оглавление

2. Strukturen – worin wir leben

Strukturen (aus dem Lateinischen für „Ordnung, Gefüge, Bauwerk“) sind Rahmenbedingungen, ohne die kein biologisches, soziales oder auch kirchliches Leben möglich ist. Strukturen alleine reichen für das Entstehen von Leben allerdings nicht aus; im ungünstigen Fall können sie das Leben sogar ersticken.

Gottes zweites Wort

Das Evangelium ist Gottes erstes und letztes Wort – aber es ist nicht sein einziges. Nach evangelischem Verständnis gibt es eine zweite Art und Weise, wie Gott mit seinen Menschen und seiner Schöpfung redet. Luther nennt diese Redeweise im Anschluss an Paulus „Gesetz“. Nun hat dieser Begriff bei vielen evangelischen Christen, vorsichtig formuliert, kein attraktives Image. Hat Paulus sich in seinem zentralen Werk, dem Römerbrief, nicht klar von „den Werken des Gesetzes“ abgegrenzt (v. a. Kapitel 3 und 7)? Ist Luther ihm darin nicht gefolgt und hat den reformatorischen Neustart erst möglich gemacht, nachdem er jahrelang selbst mit religiösem Leistungsdruck und kirchenamtlichem Formalismus gekämpft hatte? „Gesetzlichkeit“ verbinden wir mit Pharisäertum – pedantisch, unflexibel, inhuman. Gesetzlichkeit wird auch heute jenen fest gefügten Glaubensgemeinschaften nachgesagt, die zahlreiche geschriebene und ungeschriebene Regeln aufstellen und in dem Ruf stehen, das Gewissen ihrer Mitglieder zu knechten. Was also soll am Gesetz für eine evangelische Gemeinde Gutes sein?

Das Gute am Gesetz ist, dass es Gottes Wort ist. Genau wie das Evangelium. Nur, und darauf kommt es an: eine völlig andere Art von Wort als das Evangelium. Zahlreiche Fehlentwicklungen, Verkrampfungen und Orientierungsprobleme in Kirche und Gemeinde hängen damit zusammen, dass Gesetz und Evangelium nicht oder nur unzureichend unterschieden werden. Manche dieser Missverständnisse wurden in Kapitel 1 bereits kurz angedeutet. Entweder das Evangelium wird mit dem Gesetz, das heißt mit einer bestimmten Kirchenstruktur, einer bestimmten Lebensform, einem bestimmten Milieu identifiziert – dann wird das Leben schaffende, befreiende Wort Gottes an Paragrafen gefesselt, mit menschlichen Gewohnheiten verwechselt, an zufällige kulturelle Gegebenheiten gebunden. Das kann es ja wohl nicht sein. Oder aber es wird behauptet, Gottes Wort sei überhaupt und zu jeder Zeit nur Evangelium, das Gesetz sei völlig überholt, in der Kirche sei Gottes neue Welt schon präsent und jeder Christenmensch könne jederzeit neu entscheiden, was gerade gültig sei. Dann droht das christliche Individuum überfordert zu werden, droht das Evangelium sein Profil zu verlieren und die Kirche ihre Form und Struktur. Auch das kann es nicht sein.

Es stellt sich also die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gottes Evangeliumswort und allem anderen, was es in Kirche so gibt: Ämter und Gebäude, Finanzen und Kirchenrecht, gottesdienstliche Formen und Regeln des Zusammenlebens in den Gruppen ... Sind all diese Strukturen, wie sie hier einmal in großer Allgemeinheit genannt werden sollen, sind all diese Kenntnisse und Fertigkeiten, diese Regularien und Verwaltungsvorgänge eigentlich nötig, um von Kirche sprechen zu können? Oder könnte man auf einiges davon auch getrost verzichten? Hier liegt ein weiteres

Missverständnis von Kirche (4)

nahe, ein mir persönlich sehr sympathisches, wie ich gleich gestehe. Es ist aus dem Wunsch geboren, überflüssigen Ballast abzuwerfen und wieder näher an die urchristlichen Quellen zu gelangen. Kirche nicht mehr als festes – und teures – Haus, sondern als bewegliches Zelt. Gemeinde nicht mehr als Körperschaft öffentlichen Rechts mit allen möglichen Pflichten der Haushaltssystematik, der Fristeinhaltungen, der kommunalen Repräsentanz und der arbeitsrechtlichen Haftung, sondern als Dienst- und Lebensgemeinschaft engagierter Menschen. Großzügigkeit statt kleinlicher Pfennigfuchserei. Christentum nicht als verfasste Größe, sondern als sozusagen flüssige, permanent revolutionäre Kraft. Kirche als Kontrastgesellschaft und machtfreier Raum … Es ist dieser Stoff, aus dem die Kirchenträume sind.

Nun ist das Träumen eine der wesentlichsten menschlichen Eigenschaften. Wehe, wenn es gerade in der Kirche nicht mehr erlaubt wäre! Woher soll der Mut zu Neuem kommen, wenn nicht auch mal eine Utopie gewagt, wenn nicht kreativ „ins Unreine“ gedacht wird? Unkonventionelle Experimente, Umformungen von Strukturen, das Hergebrachte gegen den Strich bürsten – das ist heute notwendiger denn je. Nur: Problematisch wird es, wenn Utopie und Realität kurzgeschlossen werden. Dann droht eine ähnliche Überhitzung des Kirchenbegriffs bzw. eine Überforderung der Aktiven wie oben bei Missverständnis 3.

Als Luthers Anhänger sahen, dass die Sache mit der Reformation ab dem Jahr 1520 auch politisch an Dynamik gewann, forderten viele einen Komplett-Umbau von Kirche und Gesellschaft. Fürstentum und Abhängigkeit der Bauern? Waren gegen das Evangelium und gehörten abgeschafft. Amtsträger in den Kirchen? Widersprachen den urchristlichen Maßstäben – weg damit. Heiligenbilder und -statuen in den Kirchen? Wurden zerschlagen und verbrannt, auch wenn es sich dabei um zum Teil hochwertige Kunstschätze handelte. Eide vor weltlichen Gerichten, Teilnahme am staatlichen Wehrdienst? Für konsequente Christen unmöglich. Die Neuheit und Radikalität des Evangeliums, so der Grundgedanke, sollte in allen Lebensbezügen deutlich werden, auch in den politischen und ökonomischen Strukturen.

Mitten in diesen zum Teil sehr emotionalen und auch gewalttätigen Konflikten ging Luther einen anderen Weg: den Weg der Nüchternheit. Auch wenn ihm das damals viel Kritik einbrachte und bis heute von mancher Seite den Vorwurf, die Reformation nicht konsequent ans Ziel geführt zu haben. Luther formulierte die Lehre von den zwei Regimenten Gottes. (Vorsicht: nicht „Regimenter“, also Truppenstärken sind gemeint, auch nicht „zwei Reiche“ als statisch abgegrenzte Gebiete; gemeint sind zwei verschiedene Arten des Regierens.) Der Reformator entwickelt diesen Gedanken aus biblisch-theologischer Einsicht heraus. Dazu setzt er an bei offenbar widersprüchlichen Sätzen der Bibel. Einerseits werden Christen doch aufgefordert, auf Gewalt zu verzichten: „Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, halte ihm auch die andere hin“ (Matthäus 5,39). Andererseits aber heißt es „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (2. Mose 21,23–25), und Paulus bestätigt: „Wo Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet“, inklusive ihres Gewaltmonopols (Römer 13,1). Wie kann das zusammenpassen?

In seiner epochemachenden Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, und wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ (WA 11,245–281; AS 4,37–84) argumentiert Luther, dass Gott auf zwei unterschiedliche Weisen das Weltgeschehen beeinflusst. Bei der ersten Art sei der Zustand gewaltfreien Lebens vorausgesetzt, wie er von Gott ursprünglich gewollt sei und wie er im Blick auf glaubende, vom Evangelium geprägte Menschen wieder neu gelte – Luther nennt dies Gottes Regierweise mit der „rechten Hand“. Hier reiche das bloße Evangeliumswort aus, um Einsicht zu schaffen, um Frieden herzustellen und Menschen zusammenzubringen. Eben weil diese Menschen auf der Basis der gleichen Gnade stünden und im Medium des gleichen Glaubens lebten.

Anders sieht es mit dem Regiment „zur Linken“ aus. Hier setzt Gott auf Gesetz und Ordnung, auf Recht und Macht – so Luther. Die Schöpfung ist nicht mehr ungebrochen „sehr gut“ (1. Mose 1,31), sondern leidet unter einem Chaos gegensätzlicher Kräfte und Interessen. Dieses Chaos muss eingedämmt werden. Wenn es um Rechtssicherheit geht, um Schutz für Wehrlose, um die Aufrechterhaltung verlässlicher Strukturen, dann geht es Luther zufolge im Rahmen der bestehenden Weltverhältnisse nicht ohne Polizei und Justiz, nicht ohne Soldaten und nicht einmal (der Reformator war im Kontext des damaligen Rechtssystems wenig zimperlich) ohne Henker.

Das reine Evangelium soll also dort regieren, wo es um das Heil der Menschen geht, denn in Gewissensdingen darf kein Zwang herrschen. „Ohne menschliche Gewalt, sondern allein durch Gottes Wort“, lautet im Augsburger Bekenntnis die entsprechende Formel („sine vi, sed verbo“; Art. 28). In Dingen der Machteinteilung und Verwaltung, in Fragen von Organisationsstrukturen und Dienstverhältnissen dagegen gelten für Christenmenschen formal die gleichen Gesetze und Logiken wie für alle anderen auch. Denn nicht alles in der Bibel ist Evangelium. Vieles gehört auch unter die Rubrik Lebensordnungen, Anweisungen, zivile und religiöse Vorschriften – eben „Gesetz“. Als Weg zum Heil ist es nach Paulus’ (Römer 3,19–24) und Luthers Erkenntnis unbrauchbar, zur Regulierung des Zusammenlebens aber in bestimmtem Umfang weiterhin nötig.

Warum das an dieser Stelle so zu betonen ist? Weil eben auch innerhalb der Kirche beide „Regimente“ zum Zuge kommen. Auch in der Kirche müssen Gelder verwaltet und Löhne gezahlt, müssen Vereinbarungen getroffen und Konflikte bearbeitet, müssen Rechtsakte vollzogen und Regularien ausgearbeitet werden. Ganz allgemein: Menschen müssen auch in der Kirche bei unterschiedlicher Interessenlage miteinander klarkommen. Da geht es nicht ohne eine verlässliche Ordnung. Zugleich aber besteht die Erwartung, dass solche formalen Vollzüge in einer Kirche und Gemeinde nicht bloß formalistisch ausgeübt werden, nicht stur und stupide durchgezogen, sondern im Geiste dessen gestaltet werden, der die Freiheit, Gnade und Liebe Gottes gelebt hat. Ist diese Erwartung realistisch?

Kirche und Macht, oder: Sind Christen bessere Menschen?

Die Erfahrung zeigt, dass es in dieser Welt – und das heißt auch in der Kirche – kein Machtvakuum geben kann. Wer das Machtproblem verschweigt oder verdrängt, löst es damit nicht. Im Gegenteil. Wenn beispielsweise die traditionelle und biblisch gut begründete Redeweise von „Schwestern und Brüdern“ bzw. „Geschwistern im Glauben“ dazu verwendet wird, Spannungen unter den Teppich zu kehren oder unterschiedliche Verantwortungsbereiche zu vermischen, dann ist dies in der Sache nicht zielführend. Die Machtfrage stellt sich nach wie vor. Natürlich sind Bischöfe, Prälaten, Dekaninnen, Pfarrer, Kirchenvorsteherinnen, Küster, Erzieherinnen und alle anderen Ehrenamtlichen in der Kirche Brüder und Schwestern. Keine und keiner steht vor Gott höher als der oder die andere. Und trotzdem kann und muss die eine Dienstvorgesetzte des anderen sein, trotzdem gibt es besondere Zuständigkeiten, Kompetenzen, Funktionen – und auch Regeln für den Konfliktfall. Alles andere wäre Träumerei.

Vielleicht ist Ihnen bei Auseinandersetzungen im Kirchenvorstand oder in der Gemeinde auch schon einmal der Ausruf begegnet: „Und das in der Kirche! Das hätte ich nicht gedacht.“ Manche Menschen äußern sich so im Gespräch, andere gleich im Leserbrief in der Lokalzeitung. Was steckt hinter so einem Satz? Ist diese Enttäuschung berechtigt? Es lohnt sich, hier genau hinzusehen und zu hören: Entspringt der Ärger einem utopischen Kirchenbild, das beispielsweise davon ausgeht, Kirche müsse rein durch guten Willen funktionieren, es müsse dauernd ein dienstbereiter Geist für jedes Bedürfnis bereitstehen, nichts dürfe Geld kosten, es dürfe keine Meinungsverschiedenheiten geben? Dann muss man als Pfarrer oder Kirchenvorsteher mit so einem kritischen Kommentar auch mal leben können. Anders sieht es aus, wenn ein solcher Satz der ehrlichen Enttäuschung über den Stil entspringt, in dem kirchliche Strukturen gestaltet oder Konflikte ausgetragen werden. Das muss in jedem Fall ernst genommen werden. Und hier liegt die Wahrheit einer erhöhten Erwartung an uns Christen.

Klar, so lange wir noch in dieser Welt leben, geht es nicht ohne Strukturen und Regeln. Was aber den Umgang mit Strukturen betrifft, ihre Auslegung und Handhabung, gibt es durchaus Spielräume. Da werden sozusagen verschiedene Handschriften im Leben von Pfarrern und Ehrenamtlichen sichtbar, verschiedene Haltungen im Dasein von Gemeinden und Einzelchristen. Stile, die schwer in Worte zu fassen sind, die aber die Atmosphäre einer Gemeinde prägen. Wenn haupt-, neben- oder ehrenamtliche Vertreter von Kirche engherzig und humorlos auftreten, wenn sie primär auf Abgrenzung und Selbstschutz bedacht sind, mögen sie zwar das Recht auf ihrer Seite haben, aber nicht unbedingt die Wahrheit von Kirche. Hier kann Kritik von außen durchaus zutreffen, auch wenn sie vielleicht von einem „schwierigen Menschen“ vorgebracht wird. Wenn wir als Christen spüren, dass hinter einer solchen Kritik eigentlich eine intensive Suche nach Erfüllung steht, sollten wir behutsam nach- und zurückfragen. Im Alltag der Gemeinde habe ich schon mehrfach erlebt, wie sich aus solchen Rückfragen Chancen ergaben, das Evangelium zu kommunizieren. Und hier kommen wir nun im wahrsten Sinn des Wortes ans „Eingemachte“, nämlich an die Früchte der gesamten Kirchenpflanze. Denn jetzt reden wir von einer speziellen Haltung: von der Lebensform, in der das Evangelium sich im Dasein eines Menschen verkörpert. Wir reden vom Ethos des Einzelnen und einer Gruppe, in dem das Evangelium indirekt sichtbar wird, anschaulich und fühlbar.

Außenstehende wie auch Gemeindeglieder erwarten zu Recht, dass der Glaube eines Menschen sich in seinem Lebensstil auswirkt. Ein folgenloser Glaube ist genauso ein Unding wie ein frucht- und samenloser Baum. Glaube, der sich nicht auswirkt, ist auf Dauer tot (Galater 5,6; Jakobus 2,17). Gottes Wort ist nicht nur Buchstabe, Schall und Information, sondern es ist „Fleisch“ (Johannes 1,14). Es will sich verwirklichen, hi-nein in das ganz normale, ganz alltägliche, ganz handfeste Leben eines glaubenden Menschen. Nur: Wie sieht das jetzt konkret aus? Schon wieder droht ein

Missverständnis von Kirche (5),

eins der folgenreichsten in der Kirchen- und Christentumsgeschichte bis heute. Dieses Missverständnis hat viele Gesichter und Formen, aber einen Grundgedanken. Er lautet: „Glaube hat eine ganz bestimmte Lebensform. Wer glaubt, der handelt so und nicht anders. Glauben lässt sich eins zu eins am Handeln ablesen, und Kirche ist identisch mit einem bestimmten ethischen Milieu.“ Das aber trifft in dieser Schlichtheit nicht zu.

Natürlich steckt auch in dieser Auffassung – wie in jedem Missverständnis und jeder Fehlform – eine Wahrheit. Die Wahrheit nämlich, dass Glaube konkret zu sein hat. Lippenbekenntnisse, hohle Floskeln, Gerede mit kurzer Halbwertszeit, davon haben wir in unserer Mediokratie mehr als genug. Zu Recht erwarten andere und auch wir selbst von uns, dass lebensbestimmende Überzeugungen sichtbar werden und sich nicht jeden Tag ändern dürfen. Aber lässt sich der christliche Glaube deshalb auf eine ganz bestimmte Lebensform festlegen, auf bestimmte politische und ethische Optionen, auf klar definierte Verhaltensweisen?

Wäre es so, dann wäre das mit der christlichen Existenz in unserer komplexen Welt sehr viel einfacher. Aber auch sehr viel eindimensionaler. Es gäbe einen Katalog von Verhaltensweisen, ähnlich einer Wikipedia der christlichen Praxis, bei dem sich in Zweifelsfällen immer nachschlagen ließe (Fachbegriff: „Kasuistik“). Welche Partei sollen Christen wählen? Wie stehen sie zu regenerativen Energien, wie zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, wie zur Sexualmoral? Welches Wirtschaftssystem, welche Politikform, welche Schule ist „christlich“? Je mehr diese Fragen ausdifferenziert und ins Detail verfolgt werden, desto deutlicher merken wir: So geht’s nicht. Auch Christen, die eine bestimmte (z. B. konservative oder liberale) Grundhaltung teilen, werden in Einzelpunkten Differenzen entdecken. Immer wieder gibt es Streitpunkte, an denen aus Gründen der persönlichen Überzeugung, der Biografie, des Wissensstandes, der Bibelauslegung oder der Einschätzung der Gesamtlage unterschiedlich entschieden werden kann. Christlicher Lebensstil ist vielgestaltig, flexibel und nicht in jeder Ausprägung eindeutig. Auch Nichtchristen können übrigens ein vorbildliches Ethos verkörpern, ja, sie erscheinen „wohl zuweilen heiliger als die Christen“ (Luther, AS 5, 208). Ethik spricht eben keine eindeutige Sprache. Immer wieder muss bei einzelnen Entscheidungen nachjustiert werden, neu überlegt und abgewogen. Das ist oft mühsam. Aber: Es zahlt sich aus.

Denn was wären die Alternativen? Entweder es läuft so, wie es im Mittelalter der Fall war und sich in manchen Kleinmilieus noch erhalten hat. Da wird Christsein mit einer ganz bestimmten Lebens-, Denk und Verhaltensform identifiziert. Dann fesselt sich Kirche an diese Form und geht mit ihr entweder unter oder ins Ghetto. Menschen mit anderen Lebensstilen jedenfalls finden zu so einer Art von Christsein und Kirche keinen Zugang. Oder aber es entwickelt sich als Gegenreaktion die liberale Variante: Jede direkte Verbindung zwischen Glaube und Lebensform wird bestritten. Diese Variante ist vor allem beliebt in der westlichen Spät- und Postmoderne. Auf den ersten Blick wirkt das extrem frei, als konsequente Verwirklichung des Evangeliums nach Jahrhunderten der Befangenheit im frommen Kleinbürgertum. Bei näherem Hinsehen aber herrschen hier oft soziale Verarmung, Unverbindlichkeit und Verunklarung. Ein Evangelium ohne Form und Haltung zieht sich aus der Welt zurück ins Allgemeine, es wird unsichtbar, blässlich, und letztlich droht ihm die Irrelevanz.

Ohne Strukturen und Formen, ohne Regeln und Rhythmen gibt es dauerhaft kein Leben – weder biologisch noch in Institutionen, weder in Gesellschaft noch Kirche. Aber wie Strukturen gestaltet und ausgelebt werden, das kann und das soll vom Evangelium geprägt sein. Das hat mit Grundhaltungen zu tun, die sich nicht von jetzt auf gleich erwerben lassen. Eine solche Haltung setzt voraus, dass im Personkern (traditionell gesprochen: im Herzen) Veränderung geschieht. Konsequenz in Liebe, Klarheit gepaart mit Toleranz, außerdem Humor, Zuversicht, ein Schuss Selbstkritik und Gelassenheit – das sind Früchte des Glaubens, die auch intensive und kontroverse Debatten erträglich, ja gedeihlich machen können. In dieser Hinsicht darf für den Umgang von Pfarrern, von Kirchenvorstehern und von engagierten Gemeindegliedern untereinander in der Tat etwas mehr erwartet werden als im kommunalpolitischen oder alltagsökonomischen Durchschnitt.

Kann Ihre, kann meine Gemeinde sich an diesem Maßstab messen lassen?

Fehlbarkeit

Fehlerlosigkeit ist glücklicherweise kein evangelisches Konzept. (Und auch die römische Schwesterkirche bemüht sich, diesen Gedanken auf Sonderfälle einzugrenzen.) Umso ehrlicher und dankbarer könnten wir im Prinzip sein, wenn wir von außen auf kirchliche, gemeindliche oder individuelle Fehlleistungen aufmerksam gemacht werden. Im Prinzip. Oft fürchten wir dann doch den Gesichtsverlust und scheuen uns, um Verzeihung zu bitten. Wir sind eben von uns aus keine Menschen des Friedens und der Liebe. Ständig sind wir auf die Gnade Gottes und die Geduld unserer Mitmenschen angewiesen.

Gott macht uns dies deutlich, indem er uns seinen Maßstab eines guten Lebens vor Augen hält. In manchen Fällen so, dass uns jemand etwas „auf den Kopf zusagt“. Oft aber auch über den Weg der Selbsterkenntnis, angestoßen von außen – durch eine Begegnung, einen Predigtgedanken, ein Erlebnis, eine Liedzeile. Auch das nennt Luther „Gesetz“: wenn Gottes Wort Falsches aufdeckt, wenn es mich eines Fehltritts oder Fehlgriffs überführt (Epheser 5,8–14). Neben dem „politischen Gebrauch“ ist dies die zweite Weise, in der Gottes Gesetz funktioniert. Bei der Diagnose des Falschen allein soll es allerdings nicht bleiben. Gottes Gesetz zielt, richtig erkannt, über sich selbst hi-naus. Es bringt mich dazu, das Evangelium von Jesus Christus neu anzuerkennen und für mich anzunehmen (Galater 3,24–26). Das Gesetz zeigt indirekt das Heil, bringt aber selbst noch nicht das Heil. Solange ich, um von Gott anerkannt zu werden, meiner eigenen religiösen Praxis vertraue, der Perfektionierung meiner Ethik, den Abläufen und Riten meiner Glaubensgemeinschaft, so lange klebe ich noch am Gesetz. Dann gleiche ich dem Esel, der der Karotte nachläuft, die sein Reiter ihm an einer Stange vor die Nase hält. Auf dieser Ebene ist das Ziel nie zu erreichen. Erst das Evangelium hebt den Glauben auf eine neue Ebene und lässt ihn lebendig werden.

Nun kann man kritisch fragen: Stellt dieser Zweitakt von „Gesetz und Evangelium“ aber nicht eine rückwärtsgewandte Pädagogik von Zuckerbrot und Peitsche dar? Ist die Drohbotschaft des Gesetzes in unseren evangelischen Predigten nicht längst aus und vorbei, wurde der Spruch „Gott sieht alles“ nicht seit den Sechzigerjahren als antiquiertes Erziehungsinstrument entlarvt? Sicher, diesen Missbrauch des Gesetzesbegriffs gab und gibt es. Die Kritik an einem vorhersehbaren Schwarz-Weiß- und Vorher-Nachher-Schematismus, dem der Aufbau von Predigten und christlicher Unterweisung allzu oft folgte, ist berechtigt. Wer Gott liebt und an ihn glaubt, tut dies hoffentlich wegen der Schönheit des Evangeliums und nicht aus Angst vor irgendwelchen Strafen. Und doch: Ich kenne keinen Menschen (jedenfalls keinen, der älter ist als zwei Jahre), bei dem es mit dem reinen Evangelium funktioniert hätte. Wir alle entwickeln unsere Lebenslügen, unsere blinden Flecke, unsere schlechten Gewohnheiten, wir alle werden entweder „trotzig“ oder „verzagt“ (Jeremia 17,9). „Trotzig“ heißt: Wenn etwas schiefläuft, sind entweder immer die anderen Schuld, Gott, die Umstände, aber niemals ich selbst. Oder aber, das ist die verzagte Variante: Ich bin immer der Loser, ich bin nichts wert, keiner mag mich, ich kriege nichts hin. Beides ist Sünde. „Es ist des Menschen Herz ein trotziges und verzagtes Ding. Wer kann es ergründen?“, fragt Jeremia. Wer in seinen eigenen Spiralen des Hochmuts oder des Selbstmitleids gefangen ist, kann das nicht durchschauen. Er muss von außen darauf hingewiesen werden – eben durch Gottes Gesetzeswort, das die Lebenslügen aufdeckt. Unseren Perfektionismus. Unsere selbst gemachten Evangeliums-Ideale. „Man sollte mal …“, „Es wäre doch gut, wenn ...“, „Ich bin dann glücklich, wenn ich …“ Auf diesem Weg werden wir Gott nie begegnen, sondern immer bloß unseren eigenen Wünschen hinterherhecheln. Nur wenn wir unsere Fehlbarkeit erkennen, nur wenn wir von unserer Selbstfixierung befreit werden, kann Gott neu etwas mit uns anfangen.

Möglich ist das nur, wenn evangelische Theologie und Kirche den Mut wiedergewinnen, auch vom Gesetz zu reden. Wer immer schon gleich und ausschließlich vom Evangelium redet, kann dieses urmenschliche Dilemma des Selbstbetrugs überhaupt nicht erfassen. Ihm fehlen die Worte und Konzepte für eine klare Analyse. Dann wird nur noch Harmoniesoße über die menschlichen (und kirchlichen) Fehlleistungen gegossen, und es bleibt bei Allgemeinplätzen. Das wäre das Missverständnis einer Kirche als „Schwamm-drüber“-Agentur, als permissive Sonntagsrednerin (vgl. u. S. 123, Missverständnis Nr. 11). Die Rede vom Gesetz behält genau dann ihren evangelischen Sinn, wenn es gelingt, weder nur vom Gesetz noch nur vom Evangelium zu reden.

Evangelium und Gesetz sind die beiden Arten Gottes, mit seinen Menschen zu kommunizieren. In ihrer Unterschiedenheit und Zusammengehörigkeit bilden sie den Kern des christlichen Glaubens. Zugleich markieren sie (nach evangelischer Auffassung) die Mitte des Neuen Testaments. Sie bilden das Hauptmotiv, den Grund und den stärksten Antrieb für Reformation, für kirchliches und individuell-christliches Leben. Bis heute.

Freiheit …

Wenn mir dieser Unterschied klar ist, wenn ich mein eigenes Scheitern erkenne und die Zuwendung Gottes im Evangelium entdecke (besser: wenn sie sich mir erschließt), wenn ich in der Liebes- und Vertrauensbeziehung zu einem Gott leben kann, mit dem ich reden kann wie mit guten Eltern – dann stehe ich nicht mehr so sehr in der Gefahr, an Traditionen, Strukturen und Finanzen zu kleben. Mit Paulus gesprochen: „Nun aber sind wir vom Gesetz frei geworden und ihm abgestorben, das uns gefangen hielt, sodass wir dienen im neuen Wesen des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstabens. [...] Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht. [...] So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (Römer 7,6; 10,4; 13,10). Durch den Glauben wird alles frei – inklusive der Entscheidung zu einer bestimmten Lebensform und -struktur. Wahre Freiheit bedeutet nicht Bindungsverlust oder den Verzicht auf jede Form, sondern vielmehr den kreativen, dankbaren und von Augenmaß geprägten Umgang mit Strukturen. Freiheit im christlichen Sinn heißt freiwillige Einordnung in ein Ganzes zugunsten der anderen (Römer 14,1–15,7; 1. Korinther 9).

Eine Kirche, die bestehende Strukturen pragmatisch und funktional nutzt und bei Bedarf verändert, ist – im Prinzip zumindest – reformfähig. Zwar ist dies in Zeiten knapper werdender kirchlicher Mittel nicht unanstrengend, setzt es doch Absprachen, Konsensbildung, Interessenausgleich und Schwerpunktsetzungen voraus. Auf lange Sicht aber lohnt es sich. Kirchen und Gemeinden können in solchen Prozessen durchaus auch von betriebswirtschaftlichem Know-how lernen. Wo das gelingt, entstehen zum Beispiel Mischfinanzierungen aus Kirchensteuer und freiwilligen Beiträgen, Fördervereinen, Stiftungen etc. Da können Strukturen verschlankt werden. Da bekommen Gemeindeleitungen Mut, überholte Formen zu „beerdigen“, um Platz für neue zu schaffen. All dies funktioniert aber nicht nach Rezept, vor allem nicht nach einem ökonomischen. Es braucht für Strukturveränderungen eine klare inhaltliche Vision, und Pfarrer, Kirchenvorsteher und Kirchenleitungen sollten fähig sein, diese Vision auch zu kommunizieren. Wo das fehlt, werden Strukturen nur für sich allein gesehen und diskutiert. Dann endet die Aufbruchstimmung schnell im Reformstress, die Verschlankung leicht im Kaputtsparen, das Beenden des Alten allzu bald im Kahlschlag. Und das kann wiederum zum neuen Gesetz werden.

In vielen Gemeinden herrscht derzeit der Eindruck vor, es gehe eher um ängstlichen Abbau als um vorausschauenden Umbau. Gerade dann muss von Gemeinde- und Kirchenleitung erwartet werden können, dass ein inhaltliches Konzept mit dem Prozess verbunden ist. „Wir müssen sparen“ ist wohl ein Anlass für solche Überlegungen, aber noch lange kein hinreichender Grund – und erst recht kein Ziel.

… oder Abhängigkeit?

Wer Kirche verstehen will, muss ihre Strukturen verstehen. Entsprechendes gilt von der Gesellschaft, innerhalb derer Kirche existiert. Auch sie ist von eigendynamischen Strukturen geprägt, die es zu erkennen und zu beschreiben gilt. Als wesentliche Gesetzmäßigkeiten, die derzeit unsere westliche Gesellschaft (und auch Kirche) prägen, sehe ich:

– Zweckdenken (Funktionalität),

– das Denken vom Ich her (Individualität) und

– die daraus resultierende Vielfalt (Pluralität; Näheres dazu in Kap. 10–12).

Wie kann eine christlich-theologische Perspektive auf diese Entwicklungen reagieren?

Wenn wir die Unterscheidung von Evangelium und Gesetz im Blick behalten, ist das schon einmal die wichtigste Weichenstellung – auch für das Gespräch und den Streit verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven miteinander. Denn auch ihre Methoden, auch die von ihnen beschriebenen gesellschaftlichen Mechanismen gehören theologisch gesprochen zum Bereich des Gesetzes, also der innerweltlichen Zusammenhänge. Sie mit dem Evangelium zu verwechseln, wäre der Tod im Topf. Fatal wäre es beispielsweise zu erwarten, dass soziologische oder ökonomische Analysen der Kirche das Heil bringen. Damit würden diese Wissenschaften überfrachtet und gleichzeitig das wahre Evangelium unter Wert verkauft. Das Heil des Einzelnen und der Kirche kann niemals durch Methode(n) bewirkt werden. Allerdings: Wer im Blick behält, was das wahre Evangelium ist, braucht dann auch keine Angst zu haben vor einer vorbehaltlosen Analyse dessen, was Sache ist. Soziologische Untersuchungen, vor allem die regelmäßig erarbeiteten Milieutheorien und Kirchenmitgliedschafts-Umfragen, liefern Datenmaterial und bieten verschiedene Deutungsmöglichkeiten an. Unabhängig davon, wie sehr diese Ergebnisse kirchlichen Wünschen und Hoffnungen entgegenkommen oder nicht. Sie beschreiben Gesetzmäßigkeiten, Strukturen, Verhältnisse, die die Parameter unseres Lebens in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld bilden.

Wenn es dann aber um die Entscheidung zwischen verschiedenen Deutungen dieser Strukturanalysen geht, wird es spannend. Oft kommt es hier von kirchlich-theologischer Seite aus zu Kurzschlüssen. Beispielsweise dann, wenn die Gesetze, nach denen Gesellschaft funktioniert, auf einmal als Bedingungen für die Möglichkeiten kirchlicher Existenz angesehen werden. Im Bemühen, nicht weltfern zu wirken, lassen viele Angehörige der Pfarrer- und Theologenschaft, der Kirchenleitungen und -mitarbeiter sich so weit auf die soziologische Perspektive ein, dass die Eigenständigkeit des theologischen Urteils verloren geht.

Hilfreich ist es, sich bei solchen Debatten um die Deutungshoheit daran zu erinnern, dass jede Wissenschaft von einer bestimmen Perspektive ausgeht und die Spuren weltanschaulicher Vorentscheidungen in sich trägt. Nicht nur die christliche Theologie, sondern auch philosophische, soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Denkschulen folgen gewissen Gesetzmäßigkeiten und Denkregeln. Das ist überhaupt nicht verkehrt, denn anders wäre eine überprüfbare Methodik gar nicht denkbar. Aber: Jede dieser Regeln trägt bestimmte Axiome in sich, bestimmte Grundannahmen und Denkvoraussetzungen, die ihrerseits nicht weiter begründet werden können. Vor allem das Menschenbild, das Religionsverständnis und – wo er auftaucht – der Gottesbegriff sind weltanschaulich hoch aufgeladene Konzepte. Niemand, der sich mit solchen Kategorien beschäftigt, kann behaupten, er betreibe eine neutrale und interessenfreie Wissenschaft. Für die Debatte über die Zukunft der Kirche folgt daraus die Einsicht: Denkschulen, wissenschaftliche Muster und Methoden sind keine unentrinnbaren Schicksale. Es sind keine Mächte, die unser Denken und Handeln vorherbestimmen und von denen wir auf Gedeih und Verderb abhängen. Sondern es sind Strukturen dieses Lebens in seiner jetzigen Form, Werkzeuge mit begrenzter Reichweite, mehr nicht. Jedes Erklärungsmuster hat seine Zeit. Das Heil aber ist von anderer Stelle zu erwarten.

Es gibt kein Evangelium der Soziologie oder der Kirchenreform, es gibt allein das Evangelium von Jesus Christus. Das schafft eine heilsame Distanz zu manchen Deutungskategorien, das macht gelassen gegenüber manchem Reformprogramm, das macht frei dazu, genau hinzusehen. Und dann – mit ausdrücklicher Begründung! – eine eigene Deutung zu suchen, ein eigenes Urteil zu formulieren. Erst so ist in Kirche und Gemeinde ein reflektiertes Handeln möglich, das Gesetzmäßigkeiten nüchtern in den Blick nimmt, ohne sich ihnen zu unterwerfen.

Spielräume

Strukturen dienen nur dann dem Leben, wenn sie auch Räume für Unstrukturiertes eröffnen. Welt, Leben, Gesellschaft und auch Kirche sind nicht nach dem Prinzip eines Logistikzentrums organisiert, sondern als Mit- und Ineinander von Ordnung und Chaos, von Regeln und Freiräumen. Schon im vierten Jahrhundert formulierte der große Kirchenlehrer Augustinus: „Im Wesentlichen die Einheit, im Übrigen die Freiheit – über allem die Liebe.“

Die Reformation hat diese Einsicht wieder entdeckt und stark gemacht, indem sie drei Ebenen unterschied. Als Erstes und Wichtigstes: Die Kirche lebt vom Wort Gottes. Zweitens: Alles, was es in Kirche an Strukturen gibt, muss dazu dienen, dass dieses Wort zur Sprache und zum Zug kommt. Und drittens: Der Rest ist frei. Vieles von dem, worüber zwischen den Konfessionen, aber auch in der Außenwahrnehmung von Kirche oft heiß debattiert wurde, entpuppte sich im Nachhinein als Nebensache. Im 16. Jahrhundert stritt man sich noch über die vielen Kirchengebräuche: Feiertage, Messen, Stiftungen, liturgische Geräte und so weiter. Was davon war verzichtbar, was nicht? Heute sind es möglicherweise Musikstile, Medien-einsatz, die Art der Öffentlichkeitsarbeit, die Organisation des Gemeindefestes, die Gottesdienstzeiten, deren Gestaltung umstritten sind. All dies nennt Luther „freie Stücke“; die philosophische und theologische Tradition spricht von „Adiaphora“ oder „Mitteldingen“. Gemeint ist damit, was der Gestaltung des gemeindlichen Lebens dient. Diese Dinge haben an sich keinen geistlichen Wert, sie sind in ihrem So- oder Anderssein keine unmittelbaren Merkmale des Glaubens. Trotzdem kann ein Konflikt darüber tiefe Gräben in der Gemeinde aufreißen. Deswegen ist es heilsam und wichtig, sich immer wieder den Stellenwert solcher Themen zu verdeutlichen. Das kann den Debatten ihre Verbissenheit nehmen und den beteiligten Parteien helfen, ihre Verpflichtung für das Gesamte der Gemeinde zu sehen.

Vor fast 500 Jahren formuliert, sind Luthers Einsichten immer noch taufrisch: Am Umgang mit den Adiaphora bewährt sich, ob in einer Gemeinde „Liebe und Freundlichkeit“ herrschen. Wenn es beispielsweise darum geht, den Gottesdienst umzugestalten, ist es wichtig, dass nicht eine einzelne Gruppe vorprescht, so berechtigt ihre Anliegen auch sein mögen, sondern dass auf andere in der Gemeinde Rücksicht genommen wird. Statt allzu viel regeln und festlegen zu wollen, empfiehlt es sich, wenigen klaren Grundlinien zu folgen. Und darüber miteinander im Gespräch zu bleiben. Wie gesagt: All das sind nicht erst Erkenntnisse der Gegenwart, sondern schon des Reformators (vgl. VKK, WA 50, 649–651; AS 5, 215–218).

Schlussbild

Will man Kirche mit einer Pflanze vergleichen, dann wäre der Gottesdienst der Stamm, ihre Strukturen und Lebensordnungen die Äste und Zweige. All dies wächst aus der Wurzel des Evangeliumswortes heraus. Dabei ist für evangelische Kirche nicht eine bestimmte Struktur maßgeblich. Äste und Stämme können verschieden geformt sein, können gerade wachsen oder weniger gerade oder auch mal um ein Hindernis herum. Notwendigerweise gehören dazu auch robustere Zellen, steife und widerstandsfähige Pflanzenteile. Manche mögen hier die Gefahr sehen, dass die Pflanze verholzt. Die Alternative wäre aber, dass Kirche eine instabile Ranke bliebe, die sich permanent an ein (z. B. staatliches) Hilfsgerüst lehnen müsste. Demgegenüber empfehlen sich eigene Rechts- und Lebensformen, vorausgesetzt, sie bleiben schlank und reformierbar.

Wie auch immer im Einzelfall Kirche ausgestaltet wird, von Staatskirchen bis hin zu lose kongregationalistischen Bünden freier Gemeinden, von „emerging churches“ bis hin zu uralten Dorfgemeinden: Vieles ist möglich. Dass es aber bestimmte Strukturen und Sitten, Gebräuche und Lebensstile gibt, ist eine Notwendigkeit des Lebens in dieser Welt, auch des Lebens als Kirche. Strukturen widersprechen nicht von vornherein dem Evangelium. Recht verstanden und gehandhabt, dienen sie seiner Kommunikation.

Das Gott-Mensch-Projekt

Подняться наверх