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»Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger«

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Die Aula des Gymnasiums am Münsterplatz ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Basel und Lörrach haben sich versammelt. Vorne sitzt Shlomo Graber, ein alter, leicht gebückter Mann mit schlohweißem Haar und wachem Blick. Er wohnt nur einen Steinwurf entfernt. Graber, der bis zur Deportation nach Auschwitz 1944 mit seiner Familie in Ungarn gelebt hatte, spricht in einem weichen Deutsch mit jiddischem Akzent. Mit klarer, nie brechender Stimme erzählt er eine Dreiviertelstunde vom Grauen des Vernichtungslagers, von seiner Mutter und den Geschwistern, die sich vor seinen Augen an sie klammerten, als sie an der Rampe ins Gas geschickt wurden, von seinem Vater, der mit ihm zur Zwangsarbeit nach Görlitz deportiert wurde, wo sie unter entsetzlichen Bedingungen überlebten, und von der jungen deutschen Mutter in der nach Kriegsende praktisch menschenleeren Stadt Görlitz, mit der er sein Brot teilte, weil er, wie er sagt, »nicht hassen wollte«.

Nein, sein Überleben sei weder Schicksal noch Gottes Fügung gewesen, antwortet Graber auf die klugen Fragen der jungen Leute, deren Generation man doch so gern nachsagt, sie sei oberflächlich und desinteressiert. »Ich habe entschieden, mir selbst zu helfen, und so habe ich überlebt.« Er sei streng orthodox erzogen worden. In dieser Welt nahe am Aberglauben habe schon das Fallenlassen eines heiligen Gegenstandes genügt, um einen Tag des Fastens einzulegen. »Als den Juden in unserem Dorf befohlen wurde, das Nötigste zu packen, hat ein gläubiger Jude ein heiliges Gebetstuch eingepackt. Als ein SS-Offizier dies sah, riss er es ihm aus der Hand und warf es auf den Boden. Nichts geschah weiter. Da habe ich zu meinem Vater gesagt: Es kann keinen Gott geben, wenn er das zulässt.« Er sei später aus Tradition regelmäßig in die Synagoge gegangen. Aber die Entscheidung, welchen Glauben seine Kinder annehmen wollen, habe er ihnen überlassen. »Jeder Mensch soll nach seiner Religion leben.«

Drei Jahre hat Shlomo Graber an seinen Erinnerungen geschrieben. Mehr als dreißig Minuten pro Tag seien nicht möglich gewesen, erinnert sich seine Frau. Dann sei er jedes Mal für einen langen Spaziergang verschwunden. Von einer Gymnasiastin nach den Beweggründen gefragt, berichtet er von einem Zeitungsinterview in Israel, wo er vierzig Jahre gelebt habe, zur Shoa. »Es erschien auf der Titelseite. Meine Kinder warfen mir vor, ich hätte ihnen nie davon erzählt. Das stimmte. Ich hatte wohl nie verschwiegen, dass ich im Konzentrationslager war, aber das Grauen, das wollte ich meinen Kindern ersparen. Ich versprach ihnen, meine Geschichte aufzuschreiben. Das gelang mir erst Jahrzehnte später, in der Schweiz, wohin ich übersiedelt war.«

Nach Israel sei er gegangen, »weil ich ein Staatsbürger sein wollte. Mit allen bürgerlichen Rechten und in Freiheit. Diese Rechte gewährte mir der Staat Israel.« Das hatte seinen Preis. Es galt über Jahre ein »Gebot des Schweigens«. Der Aufbau des Staates sei wichtig gewesen, nicht die Vergangenheitsbewältigung. »Und manchmal sahen wir Überlebenden uns dem Vorwurf ausgesetzt, wir hätten uns nicht gewehrt. Wie hätte ich das tun sollen? Ich war auf dreißig Kilo abgemagert.« Erst der Prozess gegen Adolf Eichmann habe ein großes Umdenken bewirkt. Ein Schüler will wissen, ob es im Lager Freizeit gab. Graber antwortet kurz angebunden. »Nein. Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger.«

Ob er seine Jugend nachgeholt habe, möchte ein Schüler wissen. »Nein. Das war gar nicht möglich. Ich hatte nur sechs Jahre eine Schule besucht und musste später alles nachholen. Für anderes gab es gar keine Zeit. Ich hatte ein Ziel: ein normales Leben zu führen.« Er habe keine Jugend gehabt, und darum erzähle er der heutigen Jugend davon. »Die Jugend ist die Zukunft, und ich mag die jungen Leute. Ich wünsche mir, dass ihr es weiter erzählt.«

Ob man sich bei ihm entschuldigt habe, wird Graber gefragt. Seine Antwort ist unmissverständlich. »Offiziell nie, auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, der mich zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen hatte, entschuldigte sich nicht. Eine junge Frau bat mich um Entschuldigung. Ich wies sie zurecht. Sie habe damit nichts zu tun.«

Shlomo Graber hat die Shoa und die Zwangsarbeit als Jugendlicher überlebt. In seinem Buch Der Junge, der nicht hassen wollte legt er ein erschütterndes Zeugnis ab. Er lebt in Basel.

Ivan Lefkovits

Kinder auf der Flucht

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