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Vorwort

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Ein Krieg bringt Leid über viele Menschen. Das schwere Los, das insbesondere Kinder dabei ziehen, berührt und beschäftigt uns und ist Anlass für dieses Buch. Kinder sind wehrlos, und sie haben das Recht, in einer geschützten Umgebung aufzuwachsen. Die große Welle des »Flüchtlingsdramas« erlebten wir 2015, doch wenn man genau hinsieht (auch dann noch, wenn die Kameras schon weitergezogen sind), ist das Leiden fliehender Kinder nicht vorbei. Während sich heute Kinder aus vielen zerrütteten Ländern via Iran, Syrien und die Türkei, durch die Sahara oder auf anderen gefährlichen Pfaden auf den Weg nach Europa machen, kamen sie früher aus europäischen Ländern, beispielsweise auf der Flucht vor der Franco- oder der Hitlerdiktatur und vor der stalinistischen Verfolgung. Kinder sind Opfer politischer Machtverhältnisse. Sie werden missbraucht. Kindersoldaten sind keine Erfindung perfider Warlords. Auch Hitler schickte Kinder an die Front und ins Gas. Die Entscheidung zur Flucht fällen meist die Erwachsenen, und wenn sich Minderjährige aus eigenem Antrieb auf den Weg machen, dann fliehen sie nicht immer vor Gewalt. Sie sind oft auch auf der Suche nach einer Zukunft, die besser ist als ein Kampf um die Deckung minimalster Grundbedürfnisse. Das war übrigens während Jahrhunderten auch in der Schweiz so. Im Tessin und in der Ostschweiz mussten Eltern überzählige Esser vom Tisch wegschicken: in die Kamine Mailands oder auf die Bauernhöfe im süddeutschen Raum. Heute würde man von sklavenähnlichen Verhältnissen sprechen, die die Kinder dort erdulden mussten.

Ein Drittel der 2019 nach Europa Geflüchteten waren unbegleitete Minderjährige. Flucht- und Migrationsbewegungen werden anhalten, und sie werden sich noch verstärken. Auch von Kindern. Dafür wird nicht zuletzt der Klimawandel sorgen. Welche Antworten findet unsere Gesellschaft darauf? Die einen fordern eine einfache Lösung durch Abschottung, durch Zurückweisung. Die anderen appellieren an eine moralische und ethische Pflicht zur Solidarität. Doch beide Positionen blenden das große Dilemma zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik einfach aus. Die Gesinnungsethik spricht von Menschenrechten und einer universellen Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen, solange wir damit nicht überfordert sind. Die Verantwortungsethik möchte die Zuwanderung begrenzen und hält es für zulässig, Menschen abzuschieben. Eine Gesellschaft kann nicht beide Positionen gleichzeitig erfüllen. Die Gesinnungsethik ist politisch, die Verantwortungsethik moralisch nicht umsetzbar, sagt etwa der deutsche Philosoph Konrad Ott. Deshalb gilt es als erstes, diesen Widerspruch zu akzeptieren. Denn wo soll die Grenze verlaufen, an der wir die Geflüchteten scheiden in die, die bleiben dürfen, und jene, die gehen müssen? Um diese Grenze setzen zu können, bedarf es der Auseinandersetzung, zuallererst mit den Geflüchteten, mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Das geht unter die Haut.

Damit wir den Geflüchteten auf eine gerechte Art begegnen können, fragen wir in diesem Buch: Wie sieht eine Kindheit aus, die fern der Heimat gelebt wird? Wie gedeihen die Wurzeln in einem fremden Boden, mit anderen Nährstoffen als in der heimatlichen Erde? Wie entwickelt sich ein Leben ohne Vater, Mutter, Geschwister oder andere wichtige Bezugspersonen? Die Flucht beendet die Kindheit. Kinder auf der Flucht sind junge Erwachsene, sie müssen Entscheidungen für ihr eigenes Leben treffen. Und die Erlebnisse der Flucht lassen sich nicht einfach abschütteln.

Die Recherchen haben viele Abzweigungen genommen. Unser journalistischer Maßstab endet nicht bei der Darstellung anerkannter Fluchtschicksale. Wir wollen Lebenswege aufzeigen, die wegen äußerer Umstände eine Benachteiligung erfahren haben. Menschen können keine Weltgerechtigkeit erwarten, aber sie können dazu beitragen, Lebensverläufe ein wenig weniger ungerecht erscheinen zu lassen. Im Zentrum unserer Beobachtung standen von Anfang an unbegleitete Minderjährige. Im Verlauf der Recherchen entschlossen wir uns, den Blick auszuweiten. Auch begleitete Minderjährige, aus Krisenregionen Adoptierte, als Sans-Papiers illegal in der Schweiz Lebende oder bis fast in die heutige Zeit in sogenannten Kinderrepubliken aufgewachsene Jugendliche sind konfrontiert mit dem Thema Flucht und den damit verbundenen Gefahren, Traumata, mit Einsamkeit, der Herausforderung der Integration und den Bedürfnissen einer speziellen Kindheit. Wir blicken auf die Jugendlichen an den verschieden Stationen ihrer Flucht, sei es im Libanon, auf Sizilien oder vor der Schweizer Grenze in Como. Und wir blicken zurück auf das 20. Jahrhundert, das in zwei Weltkriegen, mit Faschismus, Nationalsozialismus, Antisemitismus und Totalitarismus unermessliches Leid über Kinder gebracht hat.

Die Kinderflucht in die Schweiz hat eine Geschichte; sie bildet den Anfang dieses Buchs. Ein roter Faden zieht sich durch alle Regionen und Epochen: Menschen engagieren sich, helfen oft auch unter Inkaufnahme persönlicher Benachteiligung und sind manchmal sogar bereit, ein hohes Risiko einzugehen. Eine Konstante ist daneben leider auch die Tatsache, dass der Hilfsbereitschaft oft mit Verachtung begegnet wird. Gewiss: Eine glückliche Kindheit ist eine Erfindung der Moderne – aber sie ist nicht die schlechteste. Die Anerkennung von Kinderrechten bildet dafür eine Basis. Seit 1989 sind sie in der UN-Kinderrechtskonvention nicht nur formuliert, sondern von den unterzeichnenden Staaten auch akzeptiert. Dort heißt es beispielsweise: Kein Kind darf benachteiligt werden, sei es wegen seines Geschlechts, seiner Herkunft oder Staatsbürgerschaft, seiner Sprache, Religion oder Hautfarbe, wegen einer Behinderung oder wegen seiner politischen Ansichten. Und weiter gibt es dort ein Recht auf Wahrung des Kindeswohls, ein Recht auf Leben und Entwicklung, das Recht, in die Schule gehen zu können und vor Miss-brauch und Ausbeutung geschützt zu werden. Die Kinderrechte gelten nicht nur für die Kinder der wohlhabenden Welt, sondern ohne Einschränkung für alle Kinder. Dies anerkennt auch die Schweiz – mit Vorbehalten, unter anderem gegen den Familiennachzug. Doch ohne Familie hier zu leben, erschwert die Integration.

Wir lassen in diesem Buch Geflüchtete, freiwillige und professionelle Helferinnen und Helfer zu Wort kommen. Wir porträtieren Kinder und Jugendliche, die kürzlich erst geflohen sind, solche, die mitten im Leben stehen, aber auch ältere Menschen, die heute auf ihre Kindheit und ihre Flucht zurückblicken. Einige von ihnen sprechen in direkter Rede zu den Leserinnen und Lesern. Das ist uns wichtig, denn diese Aussagen eröffnen den Blick eines Betroffenen auf das Thema, der oft nicht nur intimer, sondern auch präziser ist und so die Empathie erleichtert. Wenn es sich um Menschen handelt, die als Kinder in die Schweiz kamen und das restliche Leben hier verbracht haben, so sind deren Erinnerungen umso wertvoller, denn sie lassen Rückschlüsse auf die heutige Integrationsarbeit zu. Diese ist vielfältig, und wir gehen dabei auch der Frage nach, wie Integration überhaupt definiert werden kann. Gleichzeitig wollen wir die Erfahrungen der Integration der früheren und der jüngeren Zeit vergleichen. Hat die Politik, haben wir als Gesellschaft etwas aus vergangenen Epochen gelernt, oder herrscht auch heute die Ansicht vor, es genüge, wenn die Kinder zur Schule gehen können und ein Dach über dem Kopf haben? Geflüchtete Kinder haben alle einen mehr oder weniger langen Abschnitt der Kindheit hinter sich, der glücklicher hätte verlaufen können. Das lässt sich nicht rückgängig machen. Aber wir können einen Beitrag dazu leisten, dass in der Gegenwart ihre Wunden heilen und die Chancen für ihre Zukunft intakt sind.

Kinder auf der Flucht

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