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Erstes Kapitel Vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs Von der Liebestätigkeit zum vollen Boot
ОглавлениеDer Erste Weltkrieg (1914–1918) schafft ein kollektives Leid, wie es die Welt bis dahin noch nie gesehen hat. In Europa bleibt die Schweiz vom Kriegsgeschehen verschont. Bundespräsident Giuseppe Motta spricht in einer Rede im Dezember 1914 von der Schweiz als »Heiligtum«, auf ihrem Boden werde der »Patriotismus menschlicher«; die »Kulturmission der Schweiz« scheine angesichts des Kriegs in Europa »größer« zu werden. Als »inter arma caritas«, Nächstenliebe zwischen den Waffen, beschreibt Pfarrer E. Nagel 1916 in seinem Buch Die Liebestätigkeit der Schweiz im Weltkrieg dieses Wirken. Ein Kapitel widmet er der Aufnahme von belgischen Geflüchteten und Waisenkindern. Die Waadtländerin Mary Widmer-Curtat (1860–1947) gründet im Herbst 1914 das Komitee »L’œuvre de secours aux réfugiés belges« und ruft dazu auf, Geld, Kleider, Decken und so weiter zu spenden. »Anmeldungen von solchen, die willens sind, belgische Kinder und Frauen bei sich aufzunehmen«, würden entgegengenommen. Das Echo ist überwältigend. Für 4000 Waisenkinder werden Plätze gemeldet. Doch die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Aus dem ersten Zug, der in Lausanne am 27. Oktober 1914 eintrifft, steigen Menschen aller Generationen aus: Mütter mit ihren Kindern und deren Großmüttern, Alte, Kranke, auch junge, dienstpflichtige Männer. Die Flüchtlinge werden trotzdem begeistert empfangen und, nach ein paar Tagen in einer provisorischen Unterkunft, auf die Familien verteilt. Bis ins Frühjahr 1915 werden 1350 belgische Geflüchtete aufgenommen, ab Sommer kommen auf Bitten der belgischen Königin bis zum Jahresende 444 Waisenkinder dazu. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs werden es über 9000 belgische Kinder, Geflohene und Internierte sein, die in der Schweiz Zuflucht finden. 1919 wird Widmer-Curtat als »Chevalier de l’ordre de Léopold« geehrt, im Volksmund wird sie zur »Großmutter Belgiens«.
Die Baslerin Mathilde Paravicini, die an vorderster Front bei der Organisation und Durchführung des Austauschs von Verwundeten der Kriegsparteien auf den Schweizer Grenzbahnhöfen Basel und Schaffhausen mitgewirkt hat, initiiert 1917 die ersten Kinderzüge, mit denen Auslandschweizerkinder aus den Kriegsgebieten zu mehrwöchigen Erholungsaufenthalten in die Schweiz gefahren werden. Danach wird das Programm generell auf Kinder aller Kriegsparteien ausgeweitet. Bis 1921 werden, getragen von knapp zwei Dutzend Organisationen, die sich im »Schweizerischen Komitee für notleidende Auslandkinder« zusammenschließen, 124’503 Kinder in der Schweiz mehrwöchige Erholungsaufenthalte verbringen. »Mit leerem Magen, in Lumpen und Fetzen gekleidet stehen meine Schüler vor dem Schulhause, ein Bild des Elendes«, schreibt ein Behördenmitglied im Dezember 1918 aus einer österreichischen Landgemeinde an seine Amtskollegen in der Stadt Zürich. »Mutter Sorge kauert in allen Winkeln, ist wie ein treuer Hausgenosse in allen Stuben. Nur so laut gesehen wird sie nicht in unserm stillen, herben Bergwinkel. Helft, wenn ihr könnt.« (Schweizerische Lehrerzeitung, 1919, Bd. 64, S. 382)
Die Bitte wird erhört. Die Zürcher Lehrerschaft sammelt Kleiderpakete, die am 10. Januar 1919 dem Zug mitgegeben werden, der Kinder aus ganz Österreich nach ihrem Erholungsaufenthalt in ihre Heimat zurückbringt. Mathilde Paravicini wird ihr ganzes Leben der Kinderhilfe widmen. Die Zeitläufte werden ihr in den kommenden drei Jahrzehnten alles abfordern.
Diese Hilfe stand in der Tradition eines Staats, der seine 1815 am Wiener Kongress erlangte Neutralität durch humanitäres Engagement rechtfertigte, wie der Historiker Georg Kreis schreibt. »Doch die vom Liberalismus geprägte Tradition, politische Geflüchtete aufzunehmen, stößt immer dann an Grenzen, wenn eine Großmacht Druck ausübt.« Die Aufnahme der Geflohenen bleibt bis 1925 Sache der Kantone, sodass es immer wieder Nischen gibt, in denen Verfolgte sicher sind. Das gilt auch für die erste Massenflucht, als ab 1881 aus einem zunehmend antisemitischer werdenden zaristischen Russland und anderen Staaten Osteuropas Hunderttausende Jüdinnen und Juden fliehen. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erreicht diese erste große Flüchtlingswelle der Moderne ihren Höhepunkt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs werden es rund drei Millionen sein. Die meisten streben, wie viele Millionen andere Auswanderer, in die Vereinigten Staaten und nach Argentinien. Einige Zehntausend bleiben in Westeuropa, einige Tausend in der Schweiz, die primär zum Transitland wird. Der Staat duldet sie, aber er leistet keine Unterstützung. Die Herausforderung für die kleinen jüdischen Gemeinden ist enorm. 12’162 Juden zählt das Land im Jahr 1900. Zehn Jahre später sind es 18’469 oder knapp 0,5 Prozent der Bevölkerung. Nur ein Drittel von ihnen hat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Es gibt beträchtliche kulturelle Hürden, da und dort werden die »Ostjuden« selbst von ihren Glaubensgenossen als »Schnorrer« tituliert, die den jüdischen Gemeindekassen auf der Tasche lägen. Denn nur sie sind für deren Unterstützung verantwortlich. Die Juden in der Schweiz haben politisch kein Gewicht, sie verfügen selbst erst seit 1866 über die Niederlassungsfreiheit und seit 1874 über das Recht zur freien Religionsausübung. 1893, als eine Volksinitiative für ein Schächtverbot gegen den Willen von Bundesrat und Parlament angenommen wird, mit teils offen antisemitischer Propaganda, werden ihnen die politischen Grenzen bewusst. Die jüdischen Migranten aus Osteuropa, so unbedeutend ihre Zahl auch gewesen sein mag, werden schon bald ungewollte Kronzeugen für eine radikale Wende der liberalen Ausländerpolitik. Sie wird nur fünfzehn Jahre später für Juden, die vor den Nazis fliehen, katastrophale Folgen haben.
Die Schweiz war bis 1914 ein Land des Freihandels und der offenen Grenzen mit einem Ausländeranteil von 14,8 Prozent. Er wird erst in den 1960er Jahren wieder erreicht werden. Es gilt für die meisten Ausländer die Niederlassungsfreiheit. Das Land wird im Ersten Weltkrieg als »Sanitätsposten Europas« auch international respektiert. 1920 tritt die Schweiz, nach einem positiven Volksentscheid und unter Wahrung einer »differentiellen Neutralität«, der sie von der Verpflichtung befreit, sich an militärischen Sanktionen zu beteiligen, dem neu gegründeten Völkerbund bei.
Doch innenpolitisch dreht der Wind. Schon während des Kriegs hat sich die großzügige Haltung gegenüber Migranten gewandelt. Von »Heuschrecken, die das ruhige Schweizerland überfluten«, ist in der Presse die Rede. Gemeint sind, wie sich der jüdisch-ukrainische Schriftsteller Schemarya Gorelik erinnert, Juden aus Galizien, Polen, Ungarn und Russland, »überhaupt die Juden«. Gorelik wird selbst kurz nach Kriegsende ohne ersichtlichen Grund ausgewiesen. »Ostjuden« werden als »Kriegsspekulanten« auch dafür verantwortlich gemacht, dass es zu Versorgungskrisen kommt, die allerdings eine Folge eines mangelhaften Rationierungssystems sind. Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und Ostjuden werden nun pauschal als unerwünscht bezeichnet. 1917 nimmt der Bundesrat auf dem Verordnungsweg das Heft, das bislang von den Kantonen geführt wurde, selbst in die Hand. Es sind die führenden Beamten der neu geschaffenen Zentralstelle für die Fremdenpolizei, die einen schon seit der Jahrhundertwende in der Öffentlichkeit herumgeisternden Begriff zur Staatsräson machen: die »Überfremdung«. Deren Bekämpfung, namentlich der »Verjudung« der Schweiz, wird nun zur wichtigsten Aufgabe der Fremdenpolizei. Dabei schrumpft der Ausländeranteil kontinuierlich, auf 10,4 Prozent 1920, 8,7 Prozent 1930 und noch 5,2 Prozent 1941, während der Anteil jener Einwohner mit ausländischem Pass, die in der Schweiz geboren sind, steigt. Die Einbürgerungsbedingungen werden verschärft. Die Wartefrist für das Gesuch wird von zwei auf vier und später sechs Jahre erhöht. Heute sind es zehn. Damit verkehrt sich ein Credo der eidgenössischen Einwanderungspolitik nach und nach ins Gegenteil. War vor dem Ersten Weltkrieg noch die rasche Einbürgerung als eigentliches Ziel betrachtet und gar erwogen worden, Ausländer zwangseinzubürgern, so verschwindet diese nun von der politischen Landkarte, und in der Niederlassungspolitik herrschen Kriterien wie »politische und soziale Auslese« vor. Die Einwanderung soll nur dann möglich sein, wenn es wirtschaftliche Erfordernisse gibt. 1925 erhält der Bund per Volksentscheid definitiv die alleinige Kompetenz in der Regelung von Ausländerfragen. 1931 wird das »Gesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer« verabschiedet. Es tritt 1934 in Kraft und fixiert den Kampf gegen die sogenannte Überfremdung mittels Koppelung von Niederlassung und wirtschaftlicher Notwendigkeit. Geregelt ist darin in zwei Sätzen auch die Asylpolitik. Danach entscheidet der Bundesrat über die Gewährung politischen Asyls. Die später erlassenen Ausführungsbestimmungen sind präziser: Die Schweiz versteht sich als reines Transitland für Geflohene. Bund und Kantone sind für die administrative Kontrolle zuständig, die Finanzierung des Aufenthalts müssen die Betroffenen selbst, Hilfswerke oder private Organisationen übernehmen. Juden, die aus rassischen Gründen verfolgt werden, haben kein Asylrecht. Auch Kommunisten sind ausgeschlossen. In der Folge sind es fast ausschließlich verfolgte politische Würdenträger und Intellektuelle, denen Asyl gewährt wird. Dieses politische Asyl erhalten in der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1945 644 Menschen. Kinder, seien es Waisen oder seien sie mit ihren Eltern auf der Flucht, spielen in diesen ersten gesetzgeberischen Schritten der Schweizer Geschichte zur Asylpolitik keine Rolle. Das wird sich bald ändern.
Als der Schweizer Rodolfo Olgiati, seit 1935 Sekretär des Internationalen Zivildiensts, auf einer Erkundungsmission am 23. Januar 1937 mit einem überfüllten Nachtzug aus Barcelona in Valencia eintrifft, zählt die Stadt über eine Million Einwohner. Zwei Drittel von ihnen sind aus Madrid und anderen Gebieten, wo seit einem halben Jahr der Spanische Bürgerkrieg tobt, evakuiert worden. Die meisten von ihnen sind Kinder. »Man erzählt Fälle von einfachen Arbeitern oder von Bauern, die selbst mehrere Kinder haben und dazu drei, vier, ja sechs Flüchtlingskinder aufnehmen. Viele von ihnen geben ihr letztes her«, erinnert sich Olgiati in seinem Buch Nicht in Spanien hat’s begonnen. Rasch stellt sich heraus, dass es an Transportmitteln mangelt für die weiteren Evakuationen. Es ist die Rede von 350’000 Menschen, die allein in Madrid auf einen Transport warten. So wird klar, dass die beabsichtigte Hilfe der im Februar 1937 gegründeten »Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder« vorerst darin bestehen muss, Unterstützung bei den Evakuationen zu leisten und Nahrungsmittelhilfe bereitzustellen. In den kommenden Wochen gelingt es, in der Schweiz genügend Mittel zu sammeln, um vier Lastwagen zu kaufen. Die offizielle Schweiz hält sich wenig vornehm zurück, die Sympathien des Bundesrats liegen mehrheitlich bei den Aufständischen unter Führung des Putschisten Francisco Franco, dem späteren Diktator des Landes. Die Aufständischen wollen von Anfang an von der privat organisierten Hilfe aus der Schweiz nichts wissen, obwohl die Arbeitsgemeinschaft für Spanienkinder ihre Neutralität betont und ausschließlich humanitäre Hilfe leisten will. Sie muss ihr Einsatzgebiet auf das Territorium der demokratisch gewählten Regierung beschränken. Am 4. Mai 1937 erreicht der kleine Schweizer Konvoi erstmals Madrid, beladen mit Kleidern und Lebensmitteln. In einem ehemaligen Kloster warten Hunderte auf den Weitertransport. In den folgenden Wochen etabliert Olgiati mit seinen Helferinnen und Helfern einen fast fahrplanmäßigen Betrieb zwischen Valencia und Madrid. Zwei Drittel der Evakuierten sind Kinder. Die Not ist groß, und die Notleidenden klopfen auch an die Türe der Schweizer Helferinnen und Helfer, die ihr Quartier in der Nähe von Valencia aufgeschlagen haben. »Wenn wir wegen der Beschränktheit der Mittel oft nicht um eine gewisse Härte und Unerbittlichkeit herumkommen, so müssen auch aus dem Neinsagen Sympathie und Gerechtigkeitswille herauszuspüren sein«, schreibt Olgiati. »Wir wissen, dass, wenn es auch, äußerlich gesehen, beim Geben darum geht, einem ganz bestimmten Menschen hier und jetzt zu helfen, tiefer betrachtet, dabei doch ebenso sehr der Geber selbst infrage steht.« Inzwischen betreiben die Schweizer Helfer der Ayuda Suiza mehrere Kantinen in Madrid, etwa in der größten Frauenklinik der Hauptstadt. Mit Fortdauer des Kriegs wächst auch die Not, und zunehmend werden die Versorgung mit Lebensmitteln und die Suppenküchen zum Hauptaufgabengebiet, das international koordiniert sein will. Die Hilfe kommt aus vielen Ländern. So sind im Sommer 1938 in Katalonien fünfzig Kantinen zur Versorgung von 12’000 Kindern in Betrieb. Parallel dazu gehen die Evakuierungsfahrten weiter, allein im Juni 1938 werden von zwei Lastwagen 1960 Menschen transportiert. Die Lage wird immer dramatischer. Im September 1938 wird die tägliche Ration an Lebensmitteln auf 850 Kalorien gesenkt. Im Januar 1939 hat der Krieg längst auch Barcelona erreicht. Olgiati gelingt es, 82 erschöpfte Kinder nach Frankreich zu bringen. Sie werden die kommenden Wochen in der Schweiz verbringen und kehren im Frühjahr 1939 nach Spanien zurück. Die Ayuda Suiza wird von den neuen Machthabern außer Landes geschickt, auch wenn die Not, wie Olgiati bei einem letzten Besuch in Madrid im Mai 1939, als der Krieg vorbei ist, feststellt, größer sei denn je. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlassen die letzten Schweizer Helfer Spanien. Die Arbeit geht in Südfrankreich weiter. Hunderttausend Menschen fliehen nach dem Ende des Bürgerkriegs in das Nachbarland. Unter ihnen sind viele Kinder, die in den Kantinen der Ayuda Suiza ein- und ausgegangen sind.
Frankreich ist schon wenige Wochen nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 zum Exilland für viele politisch und rassisch Verfolgte aus Deutschland geworden. Die Not der Geflohenen in Paris ist groß, der französische Staat zunehmend überfordert. Vor allem die Kinder leiden. Schon im Herbst 1933 gründen zwanzig Frauen in Zürich das »Comité d’aide aux enfants«, eine Unterabteilung des »Comité international d’aide aux victimes du fascime hitlérien«. Sie möchten vor allem Geld sammeln, um das Schwesterkomitee in Paris zu unterstützen. Doch rasch wird klar, dass dieses damit heillos überfordert ist. So kommt es am 4. April 1934 zur Gründung des Schweizerischen Hilfswerks für Emigrantenkinder SHEK als Dachorganisation mehrerer lokaler Komitees. Das Ziel: »den heimatlosen Kindern des politisch aufgewühlten Europa ohne Unterschied von Konfession und Weltanschauung materiell und fürsorgerisch beistehen«, wie aus den Statuten der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder hervorgeht. Damit lebt auch die Idee der Kinderzüge wieder auf. Mathilde Paravicini übernimmt, aufbauend auf ihren Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, diese Aufgabe. Schon am 14. April reisen die ersten Kinder ein. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs werden rund 5000 jüdische Migrantenkinder aus Deutschland und Russland, die mit ihren Eltern unter prekärsten Umständen in Frankreich leben, zwei- bis dreimonatige Erholungsaufenthalte in der Schweiz verbringen. Diesen Kindern wird die Einreise nur mit gültigen Papieren und einer Rückreisebestätigung gestattet.
Die Schweizer Bürokratie wirkt wie ein Knüppel, der zwischen die Beine geworfen wird. So heißt es in einem Brief einer kantonalen Fremdenpolizei: »Weisungsgemäß setzen wir Sie in Kenntnis, dass in nächster Zeit solche Bewilligungen nicht erteilt werden können. In der Schweiz selbst sind ohne Zweifel sehr viele erholungsbedürftige Kinder vorhanden, und es können der Familie A aus Städten und Gebirgsgegenden solche in großer Zahl zur Aufnahme offeriert werden«, wie sich Nettie Sutro in ihrem Buch Jugend auf der Flucht 1933–1948 erinnert. Sutro leitet das SHEK von der Gründung bis zu dessen Auflösung 1947. Das SHEK betreut in den Vorkriegsjahren auch Kinder, die in der Schweiz Aufnahme gefunden haben, in der Regel mit ihren Eltern, im Ausnahmefall auch allein.
Die Schweiz setzt in diesen Jahren auf dem Behördenweg um, was politisch in den Jahren 1931 bis 1934 aufgegleist worden war. Sie versteht sich als »Wartesaal«, als reines Transitland, das Geflüchteten, wenn überhaupt, nur befristet Aufnahme gewährt. Diese Toleranzbewilligungen sind an hohe Auflagen gebunden. Es herrscht striktes Arbeitsverbot, es braucht gültige Identitätspapiere (gerade für ausgebürgerte deutsche Juden ein Ding der Unmöglichkeit) und es müssen hohe Kautionen von bis zu 10’000 Franken geleistet werden, was inflationsbereinigt heute etwa 75’000 Franken entspricht. Sie müssen zudem für ihren Lebensunterhalt selber aufkommen. Schon die »tatsächliche oder mit Sicherheit vorauszusehende Inanspruchnahme der öffentlichen oder privaten Wohltätigkeit« genügt als Abweisungsgrund. Das Bleiberecht hängt deshalb vom Engagement der Hilfswerke ab, was diese wiederum dazu zwingt, den Geflohenen eine möglichst rasche Weiterreise zu ermöglichen. Die Helferinnen (es sind in der Mehrheit Frauen) versuchen unter Federführung der 1936 als Dachverband gegründeten Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe bei den Behörden zu intervenieren. Ihr Forderungskatalog enthält unter anderem jeweils für ein Jahr gültige Flüchtlingsausweise, längere Ausreisefristen, Beiträge an die Hilfswerke und den Verzicht auf Kautionen, wenn die Hilfswerke für den Unterhalt aufkommen. Er bleibt unberücksichtigt. Heinrich Rothmund, seit 1919 Chef der Fremdenpolizei, spricht in einem internen Papier von den »Trägerinnen« der Hilfsaktionen, »die gern das Maß für das Mögliche verlieren«. Er sieht »eine Gelegenheit, ihnen den Weg zu weisen, auf dem sie Nützliches leisten können und sie aus der Utopie zurückholen [sic]«.
Auf den »Anschluss« Österreichs ans Deutsche Reich am 15. März 1938 und die kurz darauf einsetzende Judenverfolgung und -vertreibung reagierte die Schweiz mit der Einführung der Visumspflicht für Österreicher. Auf Vorschlag der Schweiz führen die reichsdeutschen Behörden im September 1938 den J-Stempel in den Pässen ein, der Staatsbürger jüdischen Glaubens brandmarkt. Heinrich Rothmund ist zufrieden: »Wir haben seit dem Bestehen der Fremdenpolizei [1917] eine klare Stellung eingehalten. Die Juden galten in Verein mit den anderen Ausländern als Überfremdungsfaktor. Es ist uns bis heute gelungen, durch systematische und vorsichtige Arbeit, die Verjudung der Schweiz zu verhindern.« Dennoch schaffen es Kinder aus Österreich allein in die Schweiz, wo sie, zusammen mit rund 200 Kindern, die aus gesundheitlichen Gründen oder als Kleinkinder vorübergehend aufgenommen worden sind, von verschiedenen Hilfsorganisationen, unter ihnen auch dem SHEK, weiter betreut werden. Nach der »Reichskristallnacht« und den Pogromen am 9. November 1938 gelingt es dem SHEK, Rothmund das Zugeständnis für die Aufnahme von 300 jüdischen Kindern aus Deutschland abzuringen. Georgine Gerhard von der Sektion Basel appelliert in einem Brief an Rothmund, »dass es eine Schande wäre, die Hilfsbereitschaft der Schweizer Bevölkerung ungenutzt zu lassen«. Der Chef der Fremdenpolizei bewegt sich im Rahmen des Zulässigen und einer Politik, die im Grundsatz nur sogenannte Toleranzbewilligungen für einen Aufenthalt von jeweils drei Monaten zulässt, die laufend verlängert werden müssen. Eine Garantie für die Weiterreise will das SHEK nicht abgeben, aber man werde das Möglichste tun. Auch damit bewegte sich das SHEK im Rahmen seines engen Spielraums – eine Gratwanderung zwischen Unterwerfung unter die behördlichen Vorgaben und der reinen Menschlichkeit.
Die Schweizer Behörde machte restriktive Auflagen zu Höchstalter, Herkunft und sozialen Verhältnissen (die Kinder mussten entweder Vollwaisen sein oder ein Elternteil musste im Konzentrationslager inhaftiert sein), sie verlangte gültige Ausweispapiere und Angaben zu Aufenthaltsdauer, Weiterwanderung und Finanzierung. Geld vom Bund für die Betreuung der 300 Kinder war nicht vorgesehen. Noch bis 1942 überließ man die Mittelbeschaffung auf Basis eines Abkommens mit dem Israelitischen Gemeindebund von 1938 weitgehend den 18’000 in verschiedenen Organisationen zusammengeschlossenen Jüdinnen und Juden in der Schweiz und weiteren Hilfswerken. Das Geld kam in steigendem Umfang auch aus dem Ausland, namentlich von der jüdischen US-amerikanischen Hilfsorganisation Jewish Joint Distribution Comitee JOINT. Bis zum Kriegsausbruch am 1. September 1939 gelang es, rund 250 Kinder in die Schweiz zu bringen. Sie wurden vorwiegend in zwei Heimen in den Kantonen Appenzell Innerrhoden und Baselland untergebracht. Die verlangte Weiterwanderung gelang wegen des Kriegsausbruchs nur in wenigen Fällen. Über 220 Kinder verbrachten die Kriegszeit in der Schweiz. Die meisten verließen das Land nach dem Krieg. Nur ganz wenige blieben. Es sei ihr über viele Jahre schwer gefallen, über diese Zeit zu sprechen, erinnert sich Karola Siegel (die sich nach ihrer Auswanderung in die USA Ruth Westheimer nennen und eine Karriere als Sexualtherapeutin machen wird) in ihrer Autobiografie. »In den Hunderten Interviews, die ich als Dr. Ruth gegeben habe, kam ich eigentlich nie darauf zu sprechen; nicht nur, weil sie so schwierig und schmerzlich waren. Nein, vor allem wegen eines Satzes, der uns während der sechs Jahre in der Schweiz so erfolgreich eingehämmert worden war: Beklage dich nie. Du hast Glück, dass du noch am Leben bist.«
Das SHEK konzentriert seine Arbeit im Zweiten Weltkrieg gezwungenermaßen auf die Hilfe für die in die Schweiz geflohenen Kinder. Diese leben, wenn sie alleine sind, in der Regel in Heimen oder, wenn sie mit ihren Eltern in die Schweiz gekommen sind, in privaten Unterkünften und zunehmend in Internierungslagern. Der Bund beschließt am 12. Mai 1940 die Internierung aller Geflüchteten in Lagern und setzt diese Politik nach und nach um. Damit soll insbesondere die dauerhafte Niederlassung verhindert werden. Diese Bestimmungen sind schon im Herbst 1939 wesentlich verschärft worden. Die Kantone sind angewiesen, jeden rechtswidrig, also ohne Visum eingereisten »Emigranten«, wie die Geflohenen neuerdings genannt werden, mit ganz wenigen Ausnahmen auszuweisen. Damit, so die krude Begründung aus dem Justiz- und Polizeidepartement, sollte Gerechtigkeit mit all jenen hergestellt werden, denen auf Botschaften und Konsulaten ein Visum verweigert worden war. Arbeiten ist den Aufgenommenen weiter verboten beziehungsweise nur im Rahmen von Arbeitseinsätzen erlaubt. So bauen Internierte unter anderem die Sustenpassstraße. Die Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder ermöglicht in den Jahren 1940 und 1941 auch rund 7000 Kindern aus Frankreich und Belgien dreimonatige Erholungsaufenthalte in der Schweiz. Die Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung ist riesig. Es stehen jeweils weit mehr Plätze in Familien zur Verfügung, als Kinder aufgenommen werden können. Jüdische Kinder sind nicht mehr darunter. Die Schweizer Behörden werfen diese Kinder in einen Topf mit den Erwachsenen. Eine Aufnahme, und sei es auch nur für drei Monate, wird verweigert.
Am 1. Dezember 1942 bestimmt der Bundesrat unter dem Druck der rasch steigenden Zahl Minderjähriger das SHEK als zuständig für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 16 Jahren. Die fast ausschließlich von – den damals politisch rechtlosen – Frauen getragene, ihre politische Neutralität stets betonende Organisation wird von der Männerrunde offensichtlich nicht ganz ernst genommen. Man geht davon aus, es mit willfährigen Ausführungsgehilfinnen zu tun zu haben, die die restriktive Flüchtlingspolitik mittragen. Ganz täuschen sich die hohen Herren nicht in dieser Einschätzung. Das hat allerdings nichts mit eingebildeter männlicher Überlegenheit, sondern vielmehr mit Realpolitik zu tun: Der Bundesrat hat mit der vom Parlament am 30. August 1939 beschlossenen Vollmachtenregelung, die der Regierung gesetzgeberische und finanzpolitische Kompetenzen überließ, längst weit mehr als die reine Exekutivgewalt und die in der Verfassung vorgesehenen Kompetenzen inne.
JOINT übernimmt ab 1943 mit insgesamt 2,5 Millionen Franken zusammen mit der südafrikanischen Partnerorganisation Jewish War Appeal den größten Teil der Kosten des SHEK. Daneben gibt es Geld von der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes. Der Bund hält sich weiter zurück. Die Aufwendungen in den Pflegefamilien tragen diese selbst. Den größten Teil der Einnahmen bilden aber private Geld- und Sachspenden. Ältere, Kranke, Frauen und Kinder sind vom Arbeitsdienst befreit, müssen aber dennoch interniert werden. Kleinkinder bis zu sechs Jahren dürfen bei ihren Müttern bleiben, die älteren Kinder werden in Heimen oder Pflegefamilien betreut. Familien werden so auseinandergerissen, Väter, Mütter und Kinder an verschiedenen Orten untergebracht, Besuche sind in der Regel nur quartalsweise erlaubt. Das SHEK trägt diese Politik im Brustton der Überzeugung mit, plädiert gar dafür, schon Kinder ab zwei Jahren von ihren Müttern zu trennen. Von »Lagerbefreiung« ist die Rede, als damit begonnen wird, Pflegefamilien zu suchen. Dort sei das Leben für die Kinder »normal« und deren Entwicklung förderlich. Unbegleitete Minderjährige werden in drei Auffanglagern untergebracht. Oft dauert es Monate, bis sich ein Heimplatz oder eine Pflegefamilie findet. Bis Ende 1943 steigt die Zahl der betreuten Kinder auf 2000. Etwa zwei Drittel leben bei Schweizer Familien, 200 Kinder sind von ihren Müttern getrennt worden. Erst nach massiven Protesten lockert das SHEK Anfang 1944 die harte Praxis etwas, kommt aber wieder davon ab, nachdem es in den Lagern, wo schulpflichtige Kinder bei ihren Eltern bleiben durften, zu Protesten gekommen war, wonach die Kinder »verwildern, ja verkommen«. Erst nach Kriegsende wird die Praxis, Familien zu trennen, allmählich aufgegeben – mit dem Hintergedanken, damit die Ausreise zu erleichtern. Mehr und mehr jugendliche Geflüchtete beenden die obligatorische Schule, und im Dezember 1942 erlaubt der Bundesrat diesen, eine Lehre zu machen. Die Berufswahl bleibt beschränkt auf manuelle Berufe, und bei weitem nicht alle finden eine Lehrstelle. Vor allem junge Frauen kommen zu kurz. Das ändert sich erst, als das ursprünglich aus Russland stammende Hilfswerk »Organisation, Reconstruction, Travail« in der Schweiz Wurzeln fasst. Aaron Syngalowski, Vizepräsident der Union, war 1941 aus Frankreich in die Schweiz geflohen. Nach dem Grundsatz »Selbsthilfe durch Arbeit« baut Syngalowski ab Herbst 1943 ein breit angelegtes Schulungsprogramm auf mit 43 Institutionen, von der Kinder- bis zur Produktionswerkstatt, die eine Ausbildung mit Fachprüfung anbieten. Mehr als 3000 der bis 1945 insgesamt Beschulten sind Jugendliche.
Es ist bitterkalt, als die 17-jährige Inge Joseph in der Nacht vom 6. auf den 7. Januar 1943 aus dem Toilettenfenster einer deutschen Polizeistation beim französischen Annemasse nahe der Schweizer Grenze springt und damit ihr Leben rettet. Noch Jahrzehnte später wird sie sich fragen, weshalb sie nicht bei ihren jüngeren Begleitern geblieben war, für die sie sich verantwortlich fühlte. Die jüdischen Jugendlichen hatten gemeinsam die rettende Schweiz erreichen wollen und waren den Deutschen in die Hände gefallen. Eine Antwort wird sie zeit ihres Lebens nicht finden. Adele Hochberger, Inge Helft und Manfred Vos werden in ein Vernichtungslager in Osteuropa, wahrscheinlich Auschwitz, deportiert und in der Gaskammer ermordet. Inges Freund Walter Strauss, der der Gruppe vorausgegangen war, um den Weg zu erkunden, wird in dieser Nacht auch erwischt. Er hat Glück und wird von französischen Polizisten verhaftet, die ihn nicht an die Deutschen ausliefern.
Den minderjährigen Juden aus Deutschland und Österreich hatte die Deportation aus einem von der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes betriebenen Heim im Château de la Hille in der Nähe von Toulouse in Südwestfrankreich gedroht. Deshalb wollten sie in die Schweiz fliehen. Sie haben es schon fast geschafft und den sicheren Schweizer Boden erreicht, doch dann verlaufen sie sich im Schneegestöber und kehren, ohne es zu merken, nach Frankreich zurück, wo sie erwischt werden. Die Abmachung, sich bei der Befragung als verirrte Genfer Spaziergänger auszugeben, hält nicht lange. Schon bald sind sie enttarnt. Nur Inge bleibt hartnäckig bei ihrer Version, selbst als sie mit ihrem Namen konfrontiert wird. Der deutsche Offizier, der sie verhört, eröffnet ihr daraufhin, sie werde am nächsten Morgen vor ein Erschießungskommando gestellt. Sie hat mit ihrem Leben schon abgeschlossen, als sie das halboffene Toilettenfenster entdeckt.
Inge Joseph schafft es bei einem zweiten Fluchtversuch am späten Abend des 8. Januar 1943 doch noch in die Schweiz. Sie wird von Soldaten angehalten, die sie auf einen Polizeiposten bringen. Inge wird befragt: Name, Alter, Familie, Herkunft. Nach einem kurzen Telefonat mit einer höheren Dienststelle wird ihr eröffnet, sie müsse zurück nach Frankreich. Sie sei zu alt. Dabei hatte Inge Joseph, geboren am 19. September 1925 in Darmstadt, sich bei der Befragung um ein Jahr jünger gemacht, um sicher als minderjährig durchzugehen. Sie weiß von einer in der Schweiz seit dem 26. September 1942 geltenden neuen Regel, dass minderjährige Juden auf der Flucht nicht älter als 16 Jahre sein dürfen, um Aufnahme zu finden. Doch der Stichtag ist der 16. Geburtstag, nicht das von ihr angegebene Alter von 16 Jahren.
Das Schweizer Boot ist voll. Inge Joseph ist zum Jahresbeginn 1943 zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Und dann doch an der richtigen Stelle. Der Polizeibeamte, der sie an der Grenze begleitet, serviert ihr noch einen warmen Tee in seinem Haus und sorgt dafür, dass sie nicht in deutsche Hände gerät. Der französische Grenzwächter, der sie am Schlagbaum in Empfang nimmt, erklärt ihr, sie habe nichts zu befürchten. Sie werde nach ein paar Tagen in französischer Haft freigelassen. Sie sei noch nicht 18 Jahre alt und damit zu jung, um härter bestraft zu werden, und zu jung, um den Deutschen übergeben zu werden. Im Gefängnis trifft sie ihren Freund Walter Strauss. Gemeinsam kehren sie ins Schloss de la Hille zurück, ihr südwestfranzösisches Refugium seit bald eineinhalb Jahren. Dort sind sie in trügerischer Sicherheit. Denn die »Endlösung«, der Völkermord an den europäischen Juden, ist auch im von Nazi-Deutschland besetzten Frankreich in vollem Gange.
Rückblende: Am 10. Mai 1940 marschieren deutsche Truppen in Belgien ein. Inge Joseph lebt zusammen mit weiteren minderjährigen jüdischen Geflüchteten aus dem Deutschen Reich in einem Waisenhaus in Brüssel. Belgien hat mehrere hundert jüdische Kinder und Jugendliche nach der »Reichskristallnacht« im November 1938 aufgenommen. Ihr Vater sitzt in Deutschland im Gefängnis, verurteilt, weil er auf legalem Weg versucht hatte, mit seiner Familie in die USA zu gelangen. Sein Wort wird ihm solange im Mund verdreht, bis daraus ein Straftatbestand wird. Inge Joseph ist zunehmend verzweifelt, eine Mitbewohnerin hindert sie in letzter Sekunde vor dem Sprung aus dem dritten Stock. Am 14. Mai, kurz vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Brüssel, werden die jungen Bewohner des Waisenhauses evakuiert, in letzter Minute gelingt in einem Konvoi die Flucht aus Belgien, und weiter vor der vorrückenden Wehrmacht bis nach Südfrankreich, das nach dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 und dem deutschen Diktatfrieden als Vasallenstaat Deutschlands formell unabhängig bleibt. Auch in Vichy-Frankreich ist die Not groß. In die Internierungslager, die 1939 für Geflüchtete des spanischen Bürgerkriegs eingerichtet worden sind, werden nun auch aus Deutschland und Österreich deportierte Juden eingesperrt. Die Bedingungen sind katastrophal. Die »Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder« (die Vorläuferorganisation des Schweizerischen Roten Kreuzes, Kinderhilfe) leistet Hilfe an allen Ecken und Enden. Sie mietet im September 1940 das seit Jahren verlassene Schloss de la Hille, um darin jüdische Geflüchtete unterzubringen. Zu ihnen zählt auch die hundertköpfige Gruppe aus Brüssel, die nach Monaten der Flucht und Ungewissheit ab Mai 1941 hier ein neues Zuhause findet. Die Älteren haben zuvor bei den Umbauarbeiten mitgeholfen.
In Château de la Hille leben die Kinder und Jugendlichen weitgehend unbehelligt, bis das Vichy-Regime auch im unbesetzten Frankreich die Deportationszüge rollen lässt. Im August 1942 gelingt es, dank des mutigen Einsatzes der Heimleiterin Rösli Nef, mit allerletzter Not die Deportation von vierzig Jugendlichen über 15 Jahren zu verhindern. Sie kann die Gruppe, die bereits abgeholt und in das Internierungslager Les Vernets überstellt worden ist, nach einer Intervention bei Verantwortlichen der Vichy-Regierung aus dem Lager retten. Alle wissen, was die Jugendlichen erwartet hätte: Zwangsarbeit oder Tod. Näf setzt nun alle Hebel in Bewegung, um in Bern eine Aufnahme der Bedrohten zu erwirken. Der Exekutivrat der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes, das die Heime in Frankreich betreibt, schlägt dem Bundesrat vor, »eine bestimmte Anzahl« Kinder aufzunehmen. Der Diplomat Edouard de Haller soll als Mitglied des Exekutivrats und Delegierter des Bundesrats darüber wachen, dass das humanitäre Engagement mit der Schweizer Neutralität im Einklang steht. Er meint, es wäre bedauerlich, wenn der Eindruck entstehe, »das Schweizervolk und das Schweizerische Rote Kreuz ließen sich vom Gefühl des Mitleids leiten, während der Bundesrat sich widersetze«. Außenminister Marcel Pilet-Golaz macht den Vorschlägen, fünfhundert jüdische Kinder dauerhaft aufzunehmen und einigen Tausend vorübergehend den Aufenthalt zu gewähren, um ihnen eine Weiterreise in die USA zu ermöglichen, am 15. September 1942 ein rasches Ende. »Ich bin weder mit der einen noch der anderen Lösung einverstanden«, schreibt er von Hand auf ein Memorandum von de Haller. Der Wirbel »rund um dieses Problem« werde »je länger, je gefährlicher«. Es steht außer Frage, dass sich die damaligen Verantwortlichen bewusst waren, welches Schicksal die Verfolgten in Frankreich erwartete. Vergeblich. Rösli Näf und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter mobilisieren nun, wie andere informelle Zirkel, ihr Netzwerk an Fluchthelferinnen und Fluchthelfern. Sie bringt einige der Jugendlichen auf abgelegenen Höfen in der Region unter und schickt andere in kleinen Gruppen los, ihren Weg in die Schweiz oder nach Spanien zu finden. Zehn schaffen es über die Schweizer Grenze. Sie kommen bei Pateneltern unter. Fünf Jugendliche verschwinden spurlos, acht tauchen in Lyon unter, um sich der Résistance anzuschließen. Insgesamt, schätzt der Historiker Jacques Picard, gelingt rund 1300 Kindern und Jugendlichen in diesen dramatischen Monaten die Flucht in die Schweiz.
Das Schweizer Boot ist voll, wie die Situation im »Bericht der Polizeiabteilung zum Flüchtlingsproblem vom 30. Juli 1942« zum ersten Mal umschrieben wird. Am 13. August 1942, als zahlreiche von der Deportation bedrohte jüdische Geflüchtete aus Frankreich einen sicheren Hafen in der Schweiz suchten, erlässt Heinrich Rothmund, der Chef der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, nach einem Beschluss des Bundesrats vom 4. August neue Weisungen. Danach sind alle in die Schweiz »rechtswidrig« flüchtenden Ausländer »zurückzuweisen«. Ausnahmen gelten nur für Deserteure, entwichene Kriegsgefangene, politische Geflüchtete (»Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge«, schreibt Rothmund zur Klarstellung) und französische Elsässer, die in das unbesetzte Gebiet Frankreichs gelangen wollen. Am 20. August rechtfertigt Rothmund die neuen Weisungen vor dem Zentralkomitee des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds. Dessen Präsident hatte sich besorgt an ihn gewandt, nachdem er erschütternde Berichte über Einzelheiten der Deportationen aus Frankreich erhalten hatte. Die Landesinteressen seien maßgebend für den Entscheid gewesen, referiert Rothmund. Denn die Schweiz sei »hinsichtlich der Juden eine Insel in Europa«. Aber man dürfe sich nicht »überlüpfen«. Noch nichts sei ihm so schwergefallen wie der Erlass vom 13. August. Es sei ihm wohlbekannt, dass Hunderttausende von Juden in Gefahr seien und dass Millionen von anderen Menschen sich in Gefahr fühlten. Die Schweiz aber sei außerstande, alle Geflüchteten aus den Nachbarländern aufzunehmen. »Besser wir sorgen für diejenigen, die bei uns sind, und suchen sie durchzuhalten.« Rothmund, angesprochen auf die »Scheußlichkeiten«, die sich bei den Deportationen ergaben, behauptet weiter, deutsche Kommissäre an der Grenze hätten ihm versichert, den Zurückgewiesenen geschähe nichts, man veranlasse sie lediglich zur Arbeit. Möglicherweise drohe eine spätere Deportation. Da aber der Zustrom immer größer werde, habe man nicht länger zuwarten können. Bundesrat Eduard von Steiger spricht in einer Rede am 30. August vom »vollen Rettungsboot«.
21 Schülerinnen der Sekundarklasse 2c in Rorschach protestieren am 7. September 1942 in einem Brief an den Bundesrat, »dass man die Flüchtlinge so herzlos wieder in ihr Elend zurückstößt. Habt ihr eigentlich ganz vergessen, dass Jesus gesagt hat, ›was ihr einem der Geringsten unter Euch getan habt, das habt ihr mir getan?‹ Wir hätten uns nie träumen lassen, dass die Schweiz, die Friedensinsel, die barmherzig sein will, diese zitternden, frierenden Jammergestalten wie Tiere über die Grenze wirft.«
In der Herbstsession des Nationalrats wird von Steiger am 22. September deutlicher: Der »Massenandrang« aus Frankreich habe eingedämmt werden müssen. Wollte man diesen »Schwarzeinreisen« nicht begegnen, so käme man bei einem Tagesdurchschnitt von sechzig Personen auf 22’000, während der Bundesrat immer die Ansicht vertreten habe, »eine Zahl von 6000 bis 7000« stelle ungefähr das dar, was »gerade noch tragbar« sei. Das Asylrecht wird in der Wegleitung, die der Bundesrat erlässt, als »Recht des Staates im Geiste der schweizerischen Überlieferung frei und unabhängig ausgeübt, als Gebot der Menschlichkeit, aber nicht als rechtliche Pflicht«. Die Behörden hätten die Pflicht, »auch bei grundsätzlicher Hochhaltung des Asylgedankens durch geeignete Maßnahmen den Zustrom in tragbaren Grenzen zu halten, auch wenn dabei heimlich eingereiste Flüchtlinge wieder zurückgeschickt werden müssen«. Das Votum von Nationalrat Albert Oeri, es sei nicht zu rechtfertigen, »gleichsam auf Vorrat, das heißt aus Furcht vor dem, was noch geschehen könne, grausam zu sein«, geht im zustimmenden Kanon der Parlamentsmehrheit unter. In der Bevölkerung sind die Maßnahmen umstritten, auch in der Presse häufen sich die kritischen Stimmen. »Wir fühlen uns durch die andernortes an diesen Menschen begangenen Verbrechen erst recht gedrängt, ihnen Taten der Menschlichkeit entgegenzusetzen«, kommentiert die Thurgauer Zeitung diese Flüchtlingspolitik. Am 26. September wird der Erlass etwas aufgeweicht. Danach gelten als Härtefälle, denen Aufnahme zu gewähren sei, unter anderen auch allein reisende Kinder unter 16 Jahren. Durchsetzen lassen sich diese harten Bestimmungen nur bedingt, weil es einerseits an Personal mangelt und anderseits das Gebot der Menschlichkeit viele Zoll- und Polizeiorgane milde handeln lässt. Wer es einmal ins Landesinnere geschafft hat, wird in aller Regel nicht mehr zurückgeschickt.
Das Rorschacher Sekundarschulmädchen Heidi Weber, das den Protestbrief an den Bundesrat verfasst hatte, wird am 23. Oktober auf Geheiß des Bundesrats vom Rorschacher Schulratspräsidenten »verhört«. Heidi nimmt Stellung zu ihren Beweggründen, nimmt ihren Lehrer in Schutz, der vom Brief zwar gewusst, diesen aber nicht gelesen habe, und wird schließlich in die Rolle des naiven Mädchens gedrängt, das gar nicht wissen könne, was es da tue. Ein Passus im Brief, in dem davon die Rede ist, es könne ja sein, dass der Bundesrat den Befehl erhalten habe, keine Juden mehr aufzunehmen, was überall zu hören sei, wird ihr als »schwere Beleidigung« ausgelegt, gegen die sich der Bundesrat zu Recht beklage. »Denn es ist ein starkes Stück, dass da ein paar junge, unerfahrene Mädchen, die kaum wissen, was überhaupt für das Leben notwendig ist, glauben, dem Bundesrat in Bern Lehren erteilen zu müssen, diesen Männern, die Tag und Nacht arbeiten, die sich keinen Feierabend, keinen Sonntag, überhaupt kaum Ruhe gönnen, die dafür sorgen, dass ihr Realschülerinnen ruhig und sicher wohnen und zur Schule gehen könnt …«
Bis Ende Dezember 1942 steigt die Zahl der Geflüchteten in der Schweiz auf 16’200, von denen mehr als die Hälfte zwischen dem 1. August und dem 31. Dezember 1942 eingereist sind. Die Grenzschließung lässt sich nicht vollständig durchsetzen. Die Weisungen werden am 29. Dezember deshalb wieder verschärft. Neu gilt ein Gebietsstreifen von zehn bis zwölf Kilometern als »Grenzgegend«, aus dem Geflüchtete von den Grenzorganen »zurückzuweisen« seien.
Hugo Remund, seit 1941 Chefarzt des SRK, setzt ab 1942 eine neue Doktrin des Bundesrats um, wonach die Arbeit der privaten, von mehreren Hilfswerken getragenen »Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder« zur Staatsaufgabe werden soll. Gleichzeitig will die Regierung sich mit den fremden Federn des 1940 gegründeten Hilfswerks schmücken, das seit Kriegsausbruch mit großem Engagement in Vichy-Frankreich mehrere Flüchtlingsheime, unter ihnen auch Schloss de la Hille, betreibt. Rösli Näf leitet das Heim seit Mai 1941. Es kommt, von Remund orchestriert, am 1. Januar 1942 zur Fusion zum »Schweizerischen Roten Kreuz, Kinderhilfe«. Remund wie Haller achten peinlichst genau darauf, dass dieses Liebeswerk im engen Rahmen der bundesrätlichen Vorgaben bleibt, die die Staatsräson vor die Mitmenschlichkeit stellen.
Heimleiterin Rösli Näf, die 1989 für ihren Mut und ihre Menschlichkeit als eine von 46 Schweizerinnen und Schweizern mit einem Eintrag auf der israelischen »Liste der Gerechten unter Völkern« geehrt wird, kostet der Vorfall um die Gruppe mit Inge Joseph ihre Stelle in Frankreich. Ein missliebiger Kollege denunziert sie und tritt damit eine Untersuchungslawine los, die schließlich zu ihrer Versetzung in die Schweiz im Mai 1943 führt. Nach dem Krieg zieht sie, enttäuscht von der Schweizer Flüchtlingspolitik, nach Dänemark und kehrt erst im Pensionsalter in die Schweiz zurück. In einem unterwürfigen Brief, einem erschütternden Dokument mangelnder Zivilcourage, entschuldigt sich Hugo Remund, Chefarzt des Schweizerischen Roten Kreuzes, beim längst gleichgeschalteten Deutschen Roten Kreuz für den Vorfall, obwohl er weiß, dass dieser selbst von den französischen und deutschen Grenzbehörden unter den Teppich gekehrt worden war. »Es liegt mir daran, Sie von der peinlichen Lage in Kenntnis zu setzen, in der sich das Schweiz. Rote Kreuz durch die unangebrachte Initiative der Leiterin dieses Heims versetzt fühlt. Ich glaube, dass ich Ihnen nicht zu versichern brauche, dass die infrage stehenden Personen entgegen den Weisungen, welche sie vom Schweiz. Roten Kreuz erhalten hatten, gehandelt haben und dass das Schweiz. Rote Kreuz sich von der Handlungsweise der oben genannten Person völlig distanziert.«
In Château de la Hille geht das Leben 1943 für die verbliebenen Kinder und Jugendlichen unter immer schwierigeren Bedingungen weiter. Jederzeit ist mit neuen Deportationen zu rechnen. Einige der Jugendlichen sind in der Umgebung untergebracht, auf dem Schloss hat man ein mündliches Alarmsystem abgesprochen, für den Notfall wird ein Versteck im Zwiebelkeller vorbereitet. Walter Strauss, der kurz zuvor seinen 18. Geburtstag gefeiert hat, wird trotz dieser Vorkehrungen zusammen mit vier weiteren Jugendlichen am 14. Februar nach einem hinterlistigen Täuschungsmanöver französischer Polizisten festgenommen und in ein Deportationslager gebracht. Ein Brief erreicht eine Woche später Inge Joseph, vermutlich aus einem Deportationszug geworfen. Er sei im Frieden mit sich selbst, seit er entschieden habe, »zu bleiben«. Ein zweiter Brief kommt Ende Mai 1943 aus dem Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek bei Lublin in Polen. Es ist Walters letzte Nachricht: Er sei bei »bester Gesundheit«. Inge, die Walter gut kennt, geht davon aus, dass er, um den Brief durch die Zensur zu bringen, das eine geschrieben hat – aber das andere meint. Später erfährt sie von einer Schweizer Rotkreuz-Helferin, er habe ihr Angebot, die Gruppe in Rotkreuz-Kleidung aus dem Lager zu schleusen, abgelehnt. Er werde nicht nochmals das Leben anderer riskieren. Inge Joseph, die durch das Fenster der Freiheit geschritten ist, wird ihren Freund, der dieses Fenster geschlossen hat, nie wiedersehen.
Inge Joseph kann im Frühjahr 1943 mit gefälschten Papieren bei einer Familie in Toulouse untertauchen. Im Herbst 1943 wagt sie mit Unterstützung von Rotkreuz-Helferinnen einen neuen Fluchtversuch in die Schweiz. Diesmal ist sie allein und gut instruiert. Sie schafft es über die Grenze und, geführt von einem Fluchthelfer, über die Grenzzone hinaus. Inge ist gerettet. Beinahe. Denn nach wie vor gilt die Direktive, jüdischen Geflüchteten grundsätzlich die Aufnahme zu verwehren. Und Inge ist inzwischen 18-jährig. Damit gilt eine am 14. Juli 1943 eingeführte Lockerung, dass jüdische Mädchen bis zum 18. Lebensjahr aufgenommen werden, nicht mehr. Sechs Wochen noch, so empfehlen es ihr ihre Helfer, müsse sie sich versteckt halten. Inge verbringt einige friedvolle Wochen auf einem Bergbauernhof in Hohfluh im Berner Oberland. Danach hat sie nichts mehr zu befürchten. Sie wird offiziell registriert. Ein dauerndes Bleiberecht hat sie, wie alle Geflüchtete in der Schweiz, nicht. Sie kommt auf einem Bauernhof in Gampelen unter. Kurz darauf konvertiert sie, auf Bitte ihrer Retterin und voller Dankbarkeit, zum lutheranischen Protestantismus und wird konfirmiert. Auf allen Papieren, die sie später ausfüllt, gibt sie an, sie sei Jüdin. Nur den Christbaum wird sie zeit ihres Lebens an Weihnachten schmücken. Doch der Glaube bedeutet ihr nichts, weil er ihr nichts bietet, vor allem keine Erklärung für all den Schrecken, den sie erfahren hat.
In den Wirren der letzten Kriegstage weichen Zehntausende in die Schweiz aus, um den Kämpfen und dem wachsenden Chaos zu entgehen. Sie bleiben meist nur wenige Tage und kehren zurück, sobald es die Lage erlaubt. Die offizielle Schweiz unterstützt sie in einer Großzügigkeit und mit einem Mitgefühl, die man sich in den Jahren zuvor gewünscht hätte. Das Image des sich seiner humanitären Tradition rühmenden Landes ist vor allem bei den alliierten Siegermächten arg ramponiert. 1944, nach der Befreiung Frankreichs, waren die kritischen Stimmen von zurückkehrenden Geflüchteten über ihre Behandlung in der Schweiz nicht mehr zu überhören gewesen. Schon im Dezember 1943 hatte Ständerat Ernst Speiser in einem Brief an den Bundesrat die Schaffung einer überparteilichen und gesamtschweizerischen Aktion zur Nachkriegshilfe angeregt. Diese sei eine »menschliche und moralische Verpflichtung«. Bundesrat Marcel Pilet-Golaz antwortete umgehend: »Das Problem, das Sie beschäftigt, ist außerordentlich komplex, zugleich politischer, wirtschaftlicher, finanzieller und humanitärer Art.« Er solle doch persönlich bei ihm vorbeikommen. In den folgenden Monaten reift in zahlreichen Sitzungen und Besprechungen nach und nach das Projekt der »Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten«, die »einzig Ausdruck der Menschlichkeit« sein soll »und nicht das Ziel verfolgt, aus der Beteiligung am Wiederaufbau Europas materiellen Nutzen zu ziehen«. 200 Millionen Franken sollen dafür von Bevölkerung und Bund gemeinsam aufgebracht werden. Es ist eine enorme Summe, die rund einen Drittel der geplanten Ausgaben des Bundes für das Jahr 1945 ausmacht. Sie entspricht heute rund einer Milliarde Franken und damit in etwa der Kohäsionsmilliarde, die die Schweiz den zehn neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in den Jahren 2007 bis 2018 als »Erweiterungsbeitrag« leistete. Mit einer professionellen Werbekampagne, in die Medien, Hilfswerke und Künstler eingebunden sind, gelingt es, unter dem Slogan »Unser Volk will danken« in nur zwei Monaten 50 Millionen Franken zu sammeln. Zu Kriegsende ist der finanzielle Topf prall gefüllt. Schon in den letzten Monaten ist in den ersten befreiten Gebieten in Frankreich, Belgien und den Niederlanden erste Nothilfe geleistet worden. Die Schweizer Spende ist eine Wiedergutmachung und eine wohlmeinende Geste gegenüber den Alliierten, ohne dass dies je direkt angesprochen worden wäre. So ließ es sich, wie im Vorwort des 1949 erschienen Tätigkeitsberichts der Schweizer Spende, von »der Natur unseres Volkes« schwärmen, »dass wir als unbeteiligte Dritte versuchten, zu helfen, zu lindern und zu retten«.
Tatsächlich wird von der Schweizer Spende viel geleistet, zu Beginn vor allem medizinische Nothilfe und Lebensmittel, später auch Kleidung, Obdach, Unterstützung beim landwirtschaftlichen Wiederaufbau, Bildung und Kultur. Der Schwerpunkt liegt über die knapp vier Jahre hinweg rund zur Hälfte bei Leistungen, die direkt Kindern zugutekommen. Dazu zählt die Tradition der Kinderzüge, die nun in steigender Zahl in die Schweiz rollen und nicht mehr länger einer privaten Finanzierung bedürfen. An der Politik der allerhöchstens vorübergehenden Aufnahme von Geflohenen hält der Bundesrat aber eisern fest. Das zeigen exemplarisch die »Buchenwaldkinder«. Am 1. Mai 1945 war Rodolfo Olgiati, Generalsekretär der Schweizer Spende, nach Versailles ins Hauptquartier der Alliierten gereist, um zu eruieren, inwieweit die Schweizer Spende mit der alliierten Nothilfe- und Wiederaufbauverwaltung UNRRA kooperieren könnte. Einen Beitritt hatte der Bundesrat aus neutralitätspolitischen Überlegungen ausgeschlossen. Millionen von Vertriebenen, sogenannte displaced persons, müssen ernährt, untergebracht und medizinisch versorgt werden. Als die UNRRA vorschlägt, die Schweiz könnte vertriebene, staatenlose Kinder aufnehmen, läuten in Bern die Alarmglocken. Denn niemand denkt ernsthaft an eine dauerhafte Aufnahme, und gerade bei staatenlosen Kindern wäre es schwierig, »diese wieder loszuwerden«, wie es in einer Aktennotiz heißt. Und so schlägt wiederum die Schweizer Spende der UNRRA nach einem guten Monat des internen Streits vor, bis zu 2000 Kinder aufzunehmen, unter anderem unter der Voraussetzung, dass diese nicht älter als zwölf Jahre seien, aus Deutschland stammten und befristet für ein halbes Jahr, maximal aber 18 Monate aufgenommen würden. Das UNRRA antwortet rasch und ersucht, 350 13- bis 16-jährige Kinder aus dem befreiten Konzentrationslager Buchenwald aufzunehmen. Widerwillig wird dem Gesuch schließlich stattgegeben. Man möchte es sich mit den Alliierten nicht gleich zu Beginn der Zusammenarbeit verderben. Die übrigen 1650 Kinder, deren Aufnahme man angeboten hat, müssten dann auf jeden Fall unter zwölf Jahre alt sein.
Am 23. Juni 1945 trifft der Zug aus Buchenwald ein. Und wieder kommt Ungemach auf die Bürokraten der Schweizer Spende zu. Denn im Zug sitzen 374 junge Menschen, von denen mehr als die Hälfte älter als 17 Jahre sind. Alle sind Juden. Und wieder bleiben nur das Zähneknirschen und ein politischer motivierter Entscheid. Es sei »von eminentem politischen Interesse, diese [die UNRRA] nicht vor den Kopf zu stoßen«, erklärt Rodolfo Olgiati in einer Krisensitzung. Es kommt zu einem fadenscheinigen Kompromiss. Es werden zwar alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgenommen, doch die älteren von ihnen erhalten nur den Status illegal eingereister Geflüchteter. Ausgewiesen wird niemand. In den kommenden Monaten erweist sich das Angebot der Schweizer Spende, die hartnäckig an Kindern unter 12 Jahren mit nachgewiesener Nationalität festhält, als fernab jeder Realität. Auf die Vorschläge seitens der UNRRA, stattdessen Jugendliche aufzunehmen, wird nicht eingegangen. Im Februar 1946 bestätigt die UNRRA der Schweizer Spende auf deren Wunsch, dass deren Angebot nicht mehr gültig sei. Die Realität, dass nur ganz wenige Kinder unter 12 Jahren den Horror der Konzentrationslager überlebt haben, spielt in diesen Überlegungen keine Rolle. Im Tätigkeitsbericht der Schweizer Spende bleiben die Buchenwaldkinder unerwähnt.
Die 374 Buchenwaldkinder entsprechen in keiner Art und Weise dem Bild von bis aufs Skelett abgemagerten Kindern, das man sich gemacht hatte: Sie sind, über zwei Monate nach der Befreiung durch britische Truppen, bei guter Gesundheit und wohl genährt. Als man sie in militärisch organisierte Lager steckt, begehren sie auf, disziplinarische Maßnahmen mit antisemitischem Unterton lassen sie sich nicht gefallen. Und weil der Bundesrat anfänglich darauf besteht, die Betreuung der staatsnahen Kinderhilfe des Roten Kreuzes anzuvertrauen, sind die jüdischen Organisationen ausgeschlossen. Noch vor wenigen Jahren waren sie vom Staat praktisch im Stich gelassen worden, die Mittel für die Betreuung jüdischer Geflüchteter mussten sie selbst aufbringen. Als sie und andere Hilfswerke schließlich nach einigen Monaten zugelassen werden, sind sie genauso überfordert. Für die große Mehrheit der Buchenwaldkinder dauerte der Aufenthalt in der Schweiz länger als die geplanten maximal eineinhalb Jahre. Geblieben sind nur dreißig.
Die Weiterwanderung bleibt auch nach Kriegsende das Ziel der schweizerischen Flüchtlingspolitik. Das gilt auch für die jungen Leute, die während des Kriegs in die Schweiz gelangt sind. Das SHEK befragt zwischen Juli 1944 und Februar 1945 1350 alleinstehende Kinder und Jugendliche, um mehr zu erfahren über Herkunft, Alter, Familie und mögliche Auswanderungsziele. In den folgenden Monaten gelingt es in 1186 Fällen, Angehörige im Ausland ausfindig zu machen. 164 Kinder gelten als gänzlich verlassen. Für 103 von ihnen ist bereits die Auswanderung nach Israel organisiert. Insgesamt werden es bis Ende 1947 450 Kinder sein. Der überwiegende Teil kehrt aber ins Heimatland zurück.
Auf der politischen Bühne steigt der Druck auf den Bundesrat, die restriktive Praxis aus Kriegstagen zu ändern und an die Realität einer Nachkriegszeit anzupassen, in der nach wie vor in ganz Europa Millionen von Menschen heimatlos sind. Doch erst knapp zwei Jahre nach Kriegsende wird das »Dauerasyl« eingeführt. Es gelten Einschränkungen. Das Dauerasyl wird nur jenen Ausländern gewährt, bei denen »dauerndes Verbleiben in der Schweiz« gestattet werden soll »wegen ihres Alters, Gesundheitszustandes oder anderer besonderer Umstände«. Tatsächlich wird dieses nur gerade 1345 Personen gewährt. Im Oktober 1947 befinden sich noch immer über 14’000 staatenlose Geflüchtete in der Schweiz, die den Restriktionen des Ausländergesetzes von 1931 unterworfen sind. Erst mit dessen Revision im Oktober 1948 werden alle Geflohenen bessergestellt und erhalten die Möglichkeit einer befristeten Aufenthalts- oder dauerhaften Niederlassungsbewilligung. Die Kantone sind nun nicht mehr verpflichtet, diese zu »dulden«, sondern sie »aufzunehmen«. Das hindert einige Kantone nicht daran, den Druck auf die Geflohenen, auszureisen, aufrechtzuerhalten. Insbesondere werden Arbeitsbewilligungen verweigert, auch wenn der Bundesrat eine »weitherzige« Praxis empfohlen hat. Mit zusätzlichen finanziellen Anreizen des Bundes kann das Problem Ende 1950 etwas gemildert werden. Von den etwa 11’000 der noch in der Schweiz verbliebenen Geflüchteten hat die Hälfte nach wie vor keinen Aufenthaltsstatus. Darunter finden sich viele Kinder, Schüler, Studenten und Menschen im besten Arbeitsalter von zwanzig bis vierzig Jahren. Angesichts von weltweit 60 Millionen Geflohenen, davon 15 Millionen in Europa, sei es »nicht zu rechtfertigen, auch noch die Flüchtlinge, die sich in der Schweiz befinden und sich hier korrekt verhalten, zur Weiterwanderung zu veranlassen«. Es ist eine sehr späte Einsicht.
Man wird nie genau wissen, wie viele Schutzsuchende die Schweiz im Zweiten Weltkrieg zurückgewiesen hat. Viele Akten aus der Kriegszeit sind vernichtet worden, manche Abgewiesene wurden gar nicht registriert. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg spricht in ihrem 2002 veröffentlichten Schlussbericht für die Kriegsjahre von »über 20’000« an der Grenze Abgewiesenen. Dazu kommen 14’500 auf Konsulaten und Botschaften abgelehnte Einreisegesuche. Über Geschlecht, Fluchtgründe, Alter und Religion dieser Menschen ist nichts bekannt. 295’381 Menschen seien in der Schweiz in den Jahren des Zweiten Weltkriegs aufgenommen worden, schrieb Carl Ludwig 1957 in seinem im Auftrag des Bundesrats verfassten Bericht Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955. Davon befanden sich zu Kriegsende rund 115’000 in der Schweiz. Die Zahlen sind irreführend, hat Ludwig doch einfach verschiedene Kategorien von Flüchtlingen zusammengezählt. So figurieren darunter auch rund 60’000 Kinder, die für mehrwöchige Erholungsaufenthalte in der Schweiz weilten, und 66’000 Grenzflüchtlinge, die zu Kriegsende meist nur wenige Tage Schutz gesucht hatten, um den letzten Kämpfen zu entgehen. Aussagekräftiger ist die von der Bergier-Kommission ermittelte Zahl von 51’129 zivilen Flüchtlingen, die ohne Einreisebewilligung während des Zweiten Weltkriegs aufgenommen wurden. Unter ihnen waren über 10’000 Kinder. Zählt man noch die knapp 8000 mehrheitlich jüdischen Emigranten dazu, die vor Kriegsausbruch in der Schweiz Zuflucht gefunden hatten, und weitere 2000, die kantonale Toleranzbewilligungen erhalten hatten, so dürften es laut Bergier-Kommission rund 60’000 Menschen gewesen sein. Knapp die Hälfte waren Juden.
Inge Joseph beginnt im Juli 1945 eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie möchte Hebamme werden, helfen, Leben zu schenken, anstatt es zu beenden. Im Mai 1946 reist sie in die Vereinigten Staaten aus, wohin ihr Vater und ihre Schwester schon vor dem Krieg emigriert sind. Ihre Mutter ist in Auschwitz ermordet worden, ihre Großmutter verbringt ihre letzten Jahre in einem Lausanner Altersheim. Die Schweiz behält sie als familiäres und herzliches Land in Erinnerung. Doch ihre traumatische Jugend wird sie nie mehr loslassen. Was damals geschah, darüber spricht sie kaum. Ende der 1950er Jahre schreibt sie ein 66-seitiges Manuskript mit den Erinnerungen an ihre Jahre als verfolgte jüdische Jugendliche in Europa. Das unfertige Manuskript verschwindet, nachdem verschiedene Verlage es zurückgewiesen haben, in einer Schublade. 1983 nimmt sie sich im Alter von 58 Jahren das Leben. In ihren letzten Jahren hatte sie sich mehr und mehr zurückgezogen, auch ihre Angehörigen hatten sie nicht mehr erreicht. Als ihr Neffe David Gumpert ihre Erinnerungen liest, beschließt er, sie posthum fertigzustellen. Er recherchiert, trifft ihre überlebenden Leidensgenossen und auch die noch lebenden Schweizer Helferinnen und Helfer. Das Buch erscheint 21 Jahre nach Inge Josephs Tod. Eine deutsche Übersetzung steht aus.
Naara Appel