Читать книгу Josef in der Unterwelt - Martin Becker - Страница 4
Vorwort
ОглавлениеLiebe Leserin, lieber Leser,
kennen Sie die alte griechische Sage von Orpheus in der Unterwelt?
Ist diese Geschichte nicht schauderhaft und doch schön zugleich?
Zur Erinnerung: „Orpheus in der Unterwelt“, frei nach Homer
Orpheus war ein berühmter Schlagersänger im antiken Griechenland. Er sang von Heimatland, von Liebe und von Bergeshöhn und entzückte mit seinem lieblichen Gesang alle Menschen, weit und fern. Ja, selbst die Götter im Olymp hörten auf zu streiten, wenn sie ihn hörten und lauschten ihm aufmerksam zu. Und weil der Olymp so hoch droben, und die Stimme des Orpheus so zaghaft leise klang, erhielt er zum besseren Verständnis ein Musikinstrument aus den Händen des Lichtgottes Apollon: eine goldene Leier. „Seine Reime sind zwar noch nicht perfekt“, sagte Gottvater Zeus. „Aber diese Leier wird ihn anspornen, seine Kunst zu verbessern.“ Und Orpheus sang und spielte und dichtete. Er perfektionierte seine Kunst, und so geschah es, dass, wann immer er seine neue, goldene Leier hervorholte und mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen an ihr zupfte, die Menschen, ja selbst Tiere und Vögel von Ferne herbeieilten und vor Begeisterung tobten.
Orpheus war verheiratet mit Eurydike, einer Nymphe von großem Liebreiz. In keines Bergquells Wasser spiegelte sich des Sonnenhimmels Licht so rein, so ungetrübt, wie in Eurydikes holdseligem Antlitz.
Der junge Sänger war mächtig verliebt in Eurydike und widmete ihr bald jedes zweite Lied. „Oh, rote Lippen, die Brüste so fest, trallala, ich brech‘ gleich zusammen, wenn du mich verlässt.“
Sie liebten sich innigst, doch diese Liebe konnte nicht lange anhalten, denn Eurydike wurde von einer Schlange gebissen und getötet.
Es ist nicht überliefert, ob sich der Schlangenbiss zum Zeitpunkt eines Leiervortrags durch Orpheus ereignete, als sich die Schlange im allgemeinen Beifallssturm, der Ekstase nah, irgendwo festzuhalten versuchte und dabei Euridyke an die Hand nahm. Euridyke verstarb und ihre Seele wanderte in das Reich der Schatten.
Orpheus war untröstlich über den Tod seiner Geliebten, dass er daraufhin keine fröhlichen Lieder mehr spielen konnte. Seine Lieder waren so voller Trauer, dass alle Tiere, die ihn hörten, mit ihm weinten, die Wasserfälle erstarrten und die Steine vor Schmerz zerflossen, oder umgekehrt.
Und so konnte Orpheus seine Einsamkeit nicht länger ertragen, also beschloss er, lebend in die Unterwelt hinabzusteigen, um Eurydike freizubitten. Er wanderte nach Lakonien zum Berge Tainaros und stieg hinab in das schwarze Reich der Schatten.
Doch bevor er den Hades erreichen konnte, lag vor ihm der Fluss Styx, der das Reich der Lebenden mit dem der Toten trennte. Charion, der Totenfährmann, setzte ihn freundlicherweise, aber nicht ohne zu murren über, und der dreiköpfige Hund Kerberos, der Wächter der Unterwelt, ließ ihn knurrend durch den Eingang passieren, von wo sich der junge Sänger aufmachte zum Thron des Gottes Hades und der Halbgöttin Persephone, dessen Teilzeitkraft. Dort wurde Orpheus vorstellig und bat unter Tränen in einem Lied um das Leben seiner geliebten Frau.
„Da es den Menschen doch ziert, unter Vettern“, sang Orpheus. „Darf Mitleid nicht ebenso wohnen bei Göttern?“
Das wirkte. Tatsächlich ließen sich, vielleicht auch, damit Orpheus zu singen aufhörte, die eineinhalb Götter erweichen und gaben Eurydike frei, allerdings nur unter der Bedingung, dass der junge Sänger sich nicht einmal nach seiner Gemahlin umblicken dürfe, während sie gemeinsam aus der Unterwelt aufstiegen. Orpheus lachte: „Nichts leichter, als das“, und sprang schon die Stufen empor, dem Tageslicht entgegen. Doch, oh weh! Er konnte es nicht lange aushalten, sich nicht umblicken zu dürfen. Er hatte bereits den Styx überquert und war so überglücklich, bald wieder mit Eurydike zusammen zu sein, wohl auch vom Zweifel gepeinigt, ob sie ihm auch wirklich folgte, da riskierte er einen klitzekleinen Blick, der aber schon ausreichte, die Bedingung des Gottes der Unterwelt zu brechen. Dass er schnell wieder seine Augen schloss, half nicht mehr, und so konnte er nicht einmal zusehen, wie Eurydike mit einem schmerzlichen „Lebewohl Geliebter!“ in die graue Tiefe zurücksank.
Der Junge erkannte die Peinlichkeit seiner Tat und wollte seine Geliebte sofort wiederholen. Aber dieses Mal weigerte sich Charion, der Fährmann, ihn wieder über den Styx zu rudern. „Ich bin doch kein Taxi, oder was!“
Und so durchstreifte der enttäuschte Orpheus drei Jahre lang die Wälder und Flure. Seine Lieder wurden immer kläglicher und seine Reime immer schlechter, bis er von seiner Fan-Gemeinde verlassen wurde und keine Zuhörer mehr fand. Eines Tages erschlugen ihn, oder vielmehr den Rest von dem Häuflein Elend, das von ihm übriggeblieben war, aufgebrachte und betrunkene Bacchantinnen, die seine Trauerlieder als Verhöhnung ihres Weingottes Dionysos empfanden.
Die Tiere, die sich noch seiner glorreichen Tage erinnern konnten, begruben Orpheus, und der Flussgott Hebros trug die goldene Leier auf Lesbos, die Insel der großen Dichterin Sappho.
Von nun an weilte auch Orpheus Seele, die widerstandslos vom Fährmann über den Styx gebracht wurde, in der Unterwelt, wo er von nun an gemeinsam mit Eurydikes geliebten Schatten auf ewig vereint war.
Und weil sie gestorben sind, leben sie glücklich, bis ans Ende der Tage.
Ende der traurigen und tragischen Sage, mit Happy End.
Die vorliegende Erzählung über „Josef in der Unterwelt“ ist noch schrecklicher und noch schöner, als die Sage von Orpheus:
Josef war ebenfalls ein schöner, junger Mann, allerdings konnte er nicht singen, und er kannte auch nicht die Regeln, die in der Unterwelt herrschten. Aber eines wusste er gewiss: Er liebte seine Eva, und nichts, aber auch gar nichts konnte ihn von seiner Liebe trennen.
Diese Geschichte handelt von der wahren Liebe: der reinen, echten, ewigen Liebe. Es ist eine Liebe, die über den Tod hinausgeht. Die Geschichte handelt aber auch vom Leben, von Licht und Schatten, von Sehnsucht, von Wahrheit und von Spiegelei mit Speck. Und passen Sie gut auf. Der Autor hat sich selbst in eine kleine Nebenrolle eingeschmuggelt – als Tubaspieler.
Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, die Erlebnisse von Josef und seiner Geliebten Eva mitverfolgen, so denken Sie bitte an eines: Die Wahrheit ist subjektiv.
Wer sich für den Werdegang seines Lebens an irgendwelche Richtlinien hält, der lebt vielleicht gelassener, beständiger und zufriedener, als andere. Mancher richtet sein Leben aus nach moralischen, ethischen, und religiösen Gesichtspunkten und benennt diese Grundlage seines Lebens als die „Wahrheit“. Aber auch derjenige, der mit politischen und philosophischen Richtlinien eine bessere Welt erreichen will, nimmt dafür den Begriff „Wahrheit“ für sich in Anspruch.
Es gibt also Menschen, die glauben, sie hätten bereits die absolute „Wahrheit“ des Lebens für sich gefunden, und diese Wahrheit gelte folglich auch für die ganze, übrige Menschheit. Daher verbreiten sie diese mit missionarischem Eifer, manche unter ihnen gar mit der Knute. Das alles ist sehr töricht, denn niemand kennt sie wirklich, die absolute Wahrheit.
Weil sie eine subjektive Anschauung ist, kann die Wahrheit des einen für dessen Nachbarn schon nicht mehr gelten. Jedes gehörte Wort und jeder gedachte Gedanke ruft unterschiedliche Emotionen und Reaktionen hervor, und so gleicht keine Empfindung der anderen, wie auch keine Wahrheit der anderen gleicht. Jemand aber, der zuhört und überlegt und den Unterschied zwischen der Wahrheit des einen und der eigenen herausfindet, der ist bereits einen wesentlichen Schritt gegangen auf der Feststellung seiner eigenen, subjektiven Wirklichkeit.
Die Ansichten der Dinge, die in diesem Buch behandelt werden, sind deshalb wohlweislich keine allgemeingültigen Wahrheiten und keine unumstößlichen Erkenntnisse. Vielmehr ist es die Geschichte eines Menschen, auf der Suche nach irgendetwas Wichtigem. Ganz sicher auf der Suche nach der Liebe. Vielleicht sogar, wer weiß, auf der Suche nach Wahrheit. Doch ob dieser Mensch sie findet, und was er da findet, das gilt für ihn allein.
So betrachten Sie bitte diese Geschichte als Wegbeschreibung einer Suche, und seien Sie kritisch mit der Wahrheit der Weisen. Doch seien Sie dem armen Burschen Josef, dem seine Suche nicht immer recht gelingen mag, wohl gesonnen.
Ganz sicher werden Sie, geneigte Leserin und Leser, alsbald Ihren Schatten mit ganz anderen Augen ansehen.