Читать книгу Josef in der Unterwelt - Martin Becker - Страница 6
Der Ausflug
ОглавлениеAm Eingang des Steinbruchs hielt ein weißer Jeep. Eva stieg aus. Sie hatte sich heute hübsch gemacht für den Ausflug. Die Haare waren locker hochgesteckt, und ihr weißgepunktetes, rotes Kleid erlaubte einen Blick auf ihre langen, schlanken Beine. Klar, dass die Jungs im Bruch sofort laut johlten und pfiffen. Und Josef schritt, in einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz, lächelnd, mit nacktem Oberkörper, sein Hemd geschultert, so männlich und heldenhaft, wie der Zigaretten-Mann zum Ausgang. Seine weißen Zähne strahlten im Sonnenlicht. Er blickte sich nicht nach seinen Kollegen um, die ihn auf seinem Weg mit Klatschen, Pfeifen und Motorengeheul aufmunterten. Er hatte seinen Blick nur noch für sie: Für seine Traumfrau.
Eva verschränkte ihre Arme, grinste und lehnte sich an den Jeep. Sie wusste, dass ihr Macho-Man diesen Abgang tierisch genoss.
Franz zündete sich einen Zigarrenstumpen an, als Josef die Baracke passierte.
„Viel Spaß, mein Junge.“
„Heute fahre ich“, lächelte sie selbstbewusst, nachdem er frisch geduscht aus dem Haus seiner Eltern kam und dabei strahlte, wie ein kleiner Junge auf dem Weg zum Jahrmarkt. Er hatte sein rotes Lieblingshemd angezogen und sah dabei einem kanadischen Holzfäller nicht unähnlich.
Die Sonne stand hoch am Himmel und hatte nicht mehr die Kraft eines Sommermittags. Dafür war das Licht so klar und hell, wie es nur im Herbst sein konnte. Die Bäume leuchteten, als hätte man sie in Brand gesteckt, dabei strahlten sie eine Ruhe und Ehrwürdigkeit aus, wie man es nur im Beisein von alten, klugen Menschen mit schneeweißen Haaren empfindet. Ein kräftiger Wind blies in die Zweige und wehte die ersten goldbraunen Blätter über die Straße. In kräftigen, runden Bogentürmen bauten sich die Wolken in den tiefblauen Himmel auf. Eva zeigte auf die Vögel, die scheinbar ohne Widerstand im Wind hin und her geweht wurden. Hinter dem weißen Jeep wirbelte das bunte Laub.
Die schmale Landstraße zur Stadt führte über den Kamm der lieblichen Hügellandschaft auf ein tiefes Flusstal zu. Josef liebte diese Strecke, die sich mit einem schnellen Auto so herrlich fahren ließ. Eva wollte jedoch nicht so schnell fahren. Sie genoss den Blick des Höhenwegs, hinweg über die bunten Laubwälder, zwischen denen kleine Dörfer und Siedlungen mit den roten Dächern hervorleuchteten, wie Fliegenpilze im Wald.
„Wir haben unheimlich viel vor“, freute sich Eva. „Zuerst müssen wir sämtliche Läden abklappern. Ich habe ja überhaupt nichts mehr anzuziehen. Dann brauche ich noch ein Geschenk für meinen Vater und ein neues Buch für mich. Und wenn wir noch Zeit haben, können wir ja noch in den Musikladen vorbei und heute Abend vielleicht ins Kino.“
Josef schaute sie von der Seite an und grinste.
„Eigentlich wollten wir noch auf die Burg spazieren“, sagte er und dachte an die schöne Parkbank, auf der es sich so herrlich schmusen ließ.
„Dazu haben wir keine Zeit. Vielleicht nach Ladenschluss. Vorher müssen wir ganz schön stressen.“
„Leider konnte ich nicht früher. Tut mir leid.“
„Warum haben dir deine Eltern auch nur den Nachmittag freigegeben. Ich fürchte, wir kommen mit dem Programm nicht ganz durch.“
„Ach, wir hatten wieder einmal eine dieser ewigen Diskussionen.“
„Das sollte dir doch langsam nichts mehr ausmachen, oder?“
Josef blieb still und schaute wie geistesabwesend vor sich auf die Straße.
„Ist was mit dir, Liebling?“ fragte Eva, die bemerkte, dass Josef schon die ganze Fahrt über recht schweigsam neben ihr saß.
„Heute bin ich in einen Steinschlag geraten“, sagte er.
„Liebling!“ rief sie erschreckt. „Hast du dich verletzt?“
„Nein, ich lag so in einem Spalt, dass die Steine über mich hinweggerollt sind.“
„Warum hast du mir das nicht gleich erzählt, als ich dich abgeholt habe?“
„Nein, nein“, beruhigte er sie. „Es ist ja nichts weiter passiert.“
„Dir sitzt aber doch noch der Schreck in den Knochen.“
„Es ist nichts passiert. Ich habe eben Glück gehabt.“
„Schatz“, Eva schaute ihn vorwurfsvoll an. „Du warst wieder leichtsinnig, stimmt’s?“
Der Weg ging steil abwärts. Die Kurven waren eng und unübersichtlich und bildeten durch das feuchte Laub gefährliche Rutschbahnen. Eva fuhr vorsichtig.
„Das ist vielleicht ein blödes Gefühl“, sagte Josef nach einer Weile, „wenn so ein Felsbrocken über dich rüberrollt.“ Er lachte verlegen und griff nach ihrer Hand.
„Sepp! Das ist nicht zum Lachen!“ sagte sie erschüttert. „Du hättest doch tot sein können!“
„Ha!“ rief Josef trotzig. „So schnell erwischt es mich nicht.“
Eva nahm ihre Hand zurück und schaute ihn von der Seite an. Dabei zog sie eine Augenbraue hoch.
„Heute habe ich mit Franz geredet“, sagte Josef schnell, um das Thema zu wechseln. „Er meint, es wäre besser, wenn ich mich mal nach etwas anderem umschaue, als noch zwanzig Jahre zu warten, bis sich meine Eltern zur Ruhe gesetzt haben.“
„Er hat Recht“, nickte sie. „An was denkst du dabei?“
„Oh, das ist ganz einfach“, sagte er und küsste erneut ihre Hand. „Wir heiraten und bekommen zehn Kinder. Du eröffnest eine Anwaltskanzlei, und ich werde dein Hausmann, hüte die Kinder und koche dein Süppchen, wenn du von der Arbeit kommst.“
Eva lachte belustigt auf. „Ist das etwa ein Antrag?“
„Ja, natürlich ist das ein Antrag. Eva. Du weißt, ich liebe dich, und ohne dich kann nicht mehr leben. Ich möchte mit dir für immer zusammen sein und uns jeden Tag lieben.“
„Ja, ja, das hättest du wohl gern. Und zwischendurch soll ich zehn Kinder bekommen?“
„Genau. Du gehst arbeiten, und ich koche, putze, hüte die Kinder und beschütze dich.“
„Wovor willst du mich beschützen?“
„Oh, ich beschütze dich vor Wölfen und Monstern, und ich beschütze dich gegen alle, die uns auseinanderbringen wollen.“
„Ist das wirklich wahr?“
„Liebling, ich schwöre es. Ich hole dich, wenn’s sein muss, vom Nordpol zurück.“
„Und wenn ich nicht am Nordpol bin?“
„Dann von überall her.“
„Na, wenn es so ist, dann kann ich wohl deinen Antrag nicht ablehnen.“ Sie zwinkerte Josef lächelnd zu.
„Ist das wahr?“ Josef war überglücklich und wollte ihr am liebsten jetzt und sofort einen dicken Kuss geben.
Er nahm ihre Hand und presste sie an seine Lippen. Plötzlich schoss vor ihnen aus der Linkskurve ein schneller Sportwagen entgegen. Das entgegenkommende Fahrzeug rutschte etwas am nassen Laub und geriet dadurch zu weit auf die Gegenspur. Eva riss das Steuer herum, um ihm auszuweichen, dabei rutschte auch ihr Wagen auf den feuchten Blättern, und die Räder gerieten von der Fahrbahn ab. Sie schaffte es nicht mehr, den Wagen rechtzeitig vor der Kurve zurück auf die Straße zu bringen, und der Jeep durchstieß mit seinen hohen Reifen die Leitplanke, hob sich in die Luft und fuhr krachend in das Gehölz des Abgrunds.
Mit voller Wucht landete der Wagen im Gebüsch des Abhangs und wurde dadurch stark gebremst. Josef und Eva hingen keuchend in den Sicherheitsgurten. Sie versuchte noch, den Wagen zu bremsen, doch das Gewicht zog den Jeep unweigerlich weiter in die Tiefe.
Josef öffnete schnell die Schnappverschlüsse der Sicherheitsgurte. „Raus, Eva, raus!“ schrie er und stieß seine Tür auf.
Da spürte er wieder eine enge Umklammerung an seinem Hals. Es war der gleiche würgende Griff, den er im Steinschlag spürte. Dieser Würgegriff, der einem den Willen raubt, sich selbst zu retten, hinaus zu springen, wurde ganz deutlich von Händen ausgeführt.
„Eva!“ brüllte Josef und griff noch an die Stelle, wo sie soeben saß. Doch er griff ins Leere. Evas Türe war geöffnet. Sie war bereits hinausgesprungen.
Der Junge wälzte sich zur Seite und fiel aus dem Fahrzeug in hartes, kratzendes Gestrüpp. Das weiße Fahrzeug rauschte krachend und polternd den steilen Abhang hinab, dicht an Josef vorbei, wie ein schmutziger Schneeball im Winter. Es überschlug sich und rollte seitwärts in die Tiefe. Noch hatte Josef keinen Halt gefunden. Der Hang war zu steil, um sich irgendwo festhalten zu können.
Da war wieder diese Umklammerung. Er fasste nach dem Würgegriff an seinem Hals und spürte einen fremden Körper. Irgendjemand war an seinem Hals und versuchte ihn zu erwürgen. Ihm wurde es schwindlig. Josef hatte keine Gewalt über sich, über seinen Sturz. Er fand keinen Hebel zum Ansetzen, um sich aus dieser Lage zu befreien. Er griff nach der Hand an seinem Hals. Mit dem Griff, den er für den Schraubenschlüssel am Lastwagenreifen brauchte, riss er die Hand von sich, befreite sich aus dem Würgegriff. Was war das? Ein Mann, eine fremde Figur. Irgendetwas Schwarzes wandte sich in seiner Hand.
Josefs Sinne kreisen. Ihm schwand allmählich das Bewusstsein. Er spürte seinen Körper nicht, wie er den Hang hinabstürzte und immer wieder an einem hervorstehenden Felsbrocken oder Busch aufschlug. Mit seinem eisernen Griff und mit seinem letzten Willen, zog er die Figur an sich heran. Der schwarze Fremde war stark und kräftig, aber Josefs Griff war so unlösbar, wie ein Schraubstock. Er umklammerte die Figur mit seinen beiden Armen und dachte an einen Lastwagenreifen, den er mit Schwung in die Achse hob. Es wurde ihm schwarz vor Augen, wie ein Nebel, der ihn umhüllte.
Als sich der schwarze Nebel vor seinen Augen verzog, lag Josef am Boden des Abgrundes und konnte sich nicht bewegen. Er konnte keinen Muskel rühren. Er konnte nicht atmen. Mühsam schlug er zunächst ein Auge auf und nach eine, ihm endlos vorkommende Zeit, das andere Auge, die beide vor Staub, Blut und Dreck verklebt waren. Die Sonne blendete ihn. Wie verkrampft lag er gekrümmt auf der fremden, schwarzen Figur und hielt sie immer noch umklammert.
Da sah Josef schemenhaft und wie im Traum, Eva in einiger Entfernung weggehen. Sie war in Begleitung einer dicken Frau, einer Nonne. Der Junge wollte ihr nachrufen, jedoch die Stimme versagte. In seinem Innern aber war die Stimme laut: „Eva, Eva! Warum gehst du weg? Wohin gehst du? Was ist das für eine fremde Frau? Eva!“
Eva drehte sich nicht um. Ihr Haar war durcheinander. Sie hinkte. „Geh nicht weg, Eva!“
Noch begriff er nicht, was mit ihm geschehen war. Zu hell schien die Sonne, um seine Freundin klar zu sehen, aber sie ging weg, und er konnte sie bald im Gegenlicht nicht mehr ausmachen.
Die Figur unter Josef zuckte und wand sich; er aber blieb liegen, ohne die Umklammerung zu lösen. Ihm war es schwindlig. Er stöhnte. Die schwarze Figur stöhnte auch. Josef schreckte zusammen. Was war das?
„Was...?“ Josef begriff nur langsam die Situation seines Autounfalls.
Der Fremde in seinen Armen stöhnte wieder.
„Lass mich los!“ brummte er.
Josef löste seine Umklammerung. Die schwarze Figur wand sich unter seiner Last und bekam eine Hand frei. Plötzlich gab er dem Jungen eine schallende Ohrfeige.
„Du sollst mich loslassen!“ brüllte er mit der Stimme eines Feldwebels. Stöhnend wälzte sich Josef zur Seite und hielt seine Hand an die Wange.
Der Schwarze setzte sich auf und wischte sich den Staub aus den Augen. Josef blinzelte in die Sonne und versuchte etwas zu erkennen. Doch er konnte die Figur nicht richtig sehen, die schemenhaft wie eine Federzeichnung vor ihm saß. Wer war das? Wo kam der Fremde her? Er konnte seine Gedanken noch nicht sammeln und begann damit, wie ein Betrunkener, die Glieder seines Körpers zu ordnen, ob alles noch dran war.
Josef bewegte die Fußzehen, die Finger. Sein Körper war übersät mit schmerzhaften Stellen, doch es ging. Er konnte sich bewegen und zog die Knie an seinen Körper heran. Eva! Er musste sofort versuchen, Eva nachzulaufen. Sie war sicher schon recht weit weg. Oh, verflixt! Ihm tat aber auch alles weh! Er stöhnte. In seinem Mund schmeckte es nach Staub und Blut. Das Autowrack lag auf dem Dach. Schade um den schönen, weißen Jeep, der nur noch einen Haufen Schrott Wert war. Was wird Mutter wohl sagen?
„Aaah! Das Licht! Die Sonne!“ sagte der Fremde und stand auf.
Er ging einige Schritte, reckte sich, dass es knackte, wackelte mit den Hüften und hob einen alten Zylinderhut auf. Mit seinem Ärmel wischte er den zerschlissenen Hut und setzte ihn sich auf. Josef konnte die Figur nur schwer ausmachen, aber er gewöhnte sich allmählich an das grelle Licht der Sonne und betrachtete den Mann.
Dieser stellte sich breitbeinig dem Licht entgegen und hob die Arme.
„Ist das nicht herrlich? Die Sonne! Wunderbar!“ Mit ausgestreckten Armen ging er einige Schritte auf die Sonne zu.
„Endlich scheint die Sonne! Aaaah! Herrlich!“ Er hielt inne und blickte sich um.
Hinter ihm lag das umgekippte Autowrack und nicht weit davon entfernt Josef, der damit kämpfte, dass seine Augen offenblieben.
„Da haben wir den Salat“, brummte der Schwarze und seine gute Laune verschwand.
Es war ein alter, hagerer Typ mit buschigen, grauen Augenbrauen, tiefen Wangenfurchen und Falten im Gesicht. Dabei war er ganz in schwarz gekleidet, mit einem schäbigen, speckigen alten Frack und glanzlosen, ausgetretenen Lackschuhen. Der Alte sah aus, wie der Brautvater einer Bettelhochzeit, der die Gesellschaft verloren hatte. Sein Zylinderhut zeigte eine leichte, windschiefe Drehung im Körper. Während er noch spuckte und röchelte, fingerte der Schwarze in seiner Brusttasche herum, zog eine krumme Zigarette hervor, zündete sie an und fing an zu husten, als ob er seine Lungen aushängen wollte.
„Da haben wir den Salat“, wiederholte er nochmals, diesmal aber etwas ärgerlicher.
„Natürlich, natürlich!“ schimpfte er und stellte sich vor Josef hin.
Dieser war bestürzt, konnte aber wegen des Schwindels im Kopf nicht sogleich aufstehen. Er hielt sich die Hand an den Kopf.
„Oouuhhh!“ Dies war sein erster Ton, der klang, als hätte man seinen Kehlkopf mit einer Schippe getroffen.
„Was...wo bin ich?“ fragte er und erkannte seine Stimme nicht mehr.
Der Schwarze blickte ihn ärgerlich an: „Unten. Wir sind unten, du Dussel.“
Er zog hektisch an der Zigarette und steckte seinen Daumen in den Mund. „Mmmh, ich klaupe, ich hape mir ten Taumen verchtaucht. Tach tasch jetcht auch noch pachieren muchte!“
Josef sammelte seine Sinne, wie zerbrochenes Glas im Kehrblech. Er stützte sich mit den Händen vom Boden ab, fiel aber gleich wieder zur Seite.
„Ouuuh! Verflixt!“ stöhnte er.
„Warum hast du das gemacht?“ fragte der Schwarze.
Minuten vergingen. Josef versuchte wieder aufzustehen. Er hockte auf seinen Knien und kam zuerst mit einem, dann mit dem anderen Bein zum Stehen. Schließlich stand er da, wie ein neugeborenes Kalb, stützte sich am umgekippten Auto und hielt sich den Kopf.
„Oouhhh!“ Seine Knie wurden wieder weich. Er setzte sich.
Für Josef waren das zu viele Eindrücke nach dem Erwachen. Er konnte jetzt nicht nachdenken, nicht kombinieren. Was war das alles nur? Die Gedanken schwirrten umher, wie Wespen um einen faulen Apfel. Wo war Eva? Wer war der Mann?
„Na los, gib endlich Antwort.“
„Warum haben Sie das gemacht?“ Josef Stimme klang schwach.
„Das habe ich dich doch gerade gefragt.“
„Was?“
„Warum du das gemacht hast?“
Josef zog sich langsam an der offenen Fahrertür hoch und blinzelte in die Sonne.
„Was?“ wiederholte er.
Der Schwarze zog seine Augenbrauen hoch. „Was?“ Er baute sich drohend vor Josef auf, aber Josef überragte den Alten um Haupteslänge.
„Mich festgehalten. Warum hast du dich an mir festgehalten? Ich meine, was sollte das?“
Josef wischte sich das Blut von den Mundwinkeln.
„Ich habe sie nicht festgehalten.“
„Oh, doch! Oh, doch!“ Der Alte war recht ärgerlich und tippte Josef mit dem Finger auf die schmerzhafte Brust. „Du hast dich an mir festgehalten. Du hast mich festgehalten.“
„Nein, nein“, sagte Josef schwach und schüttelte den Kopf. Dabei fasste er an seinen Hals. „Sie wollten mich würgen.“
„Natürlich wollte ich dich würgen.“
„Sie wollten mich würgen? Wieso?“
„Weil ich musste. Frag nicht, wieso“, antwortete ihm der Alte und schnippt die Zigarette weg.
Allmählich kam Josef zu sich. Die laute und penetrante Stimme des Alten wirkte wie ein Wecker um sechs Uhr morgens.
„Aber ich hätte jetzt tot sein können“, sagte Josef verwundert.
„Ja.“
„Aber wieso?“
„Frag nicht.“
„Sie können mich doch nicht einfach zu Tode würgen!“
„Natürlich kann ich das. Alles ging gut, bis du dich an mir festgehalten hast.“
„Ich habe nicht... Ich meine Sie haben mich...“ Josef Stimme war noch immer nicht stabil und er schluckte den Dreck im Mund hinunter.
„Ach“, sagte der Schwarze. „An mich denkst du dabei wohl nicht, was? Wer hat hier wen festgehalten? Hä? Ich lag eine Stunde unter dir begraben.“
„Sie wollten mich umbringen!“ sagte Josef und konnte es nicht fassen, „Aber wieso, was sollte das?“
„Was das sollte? Es sollte sein. Das sollte es.“
Der Alte ging einige Schritte hin und her und setzte sich auf einen Stein. Er schien sich jetzt etwas zu beruhigen.
„Aber sie können mich doch nicht einfach...“ Josefs Stimme überschlug sich. Er schluckte. So allmählich ging ihm der Alte auf die Nerven.
„Bitte schrei hier nicht so herum“, sagte der Schwarze mit tiefer und pädagogischer Stimme, „wir müssen jetzt überlegen, was wir tun können.“
„Überlegen?“ Josef kam die Situation so fremd vor, dass er selbst nicht daran glaubte. „Ich finde, Sie sind nicht ganz normal. Was gibt's da zu überlegen?“
Der Alte hob den Zeigefinger und richtete ihn auf Josef.
„Sei jetzt still. Hör mir zu“, sagte er, und seine Stimme klang dabei gezwungen ruhig.
„Natürlich wollte ich dich nicht umbringen. Ich wollte mich von dir trennen, und das hat nicht geklappt. Das ist ein Unterschied, hörst du? Und jetzt setz dich, wir müssen überlegen.“
Josef ging nervös einige Schritte hin und her und versuchte, den Schmerz aus seiner Hüfte zu drehen, dann blieb er mit finsterem Blick vor dem Mann stehen.
„Ich sage Ihnen eins:“ brummte er, und klang mit seiner Stimme nicht sehr überzeugend. „Ich kann unheimlich wütend werden. Sagen Sie mir, was das alles zu bedeuten hat.“
Der Alte schaute ihn ruhig an. „Wir mussten uns trennen, verstehst du? Komm, setz dich.“
Josef setzte sich widerwillig neben den Alten auf den Stein.
„Weißt du, Josef“, sagte er und machte dabei eine künstlich lange Pause, „Ich bin dein Schatten.“
„Was?“ Josef lachte ungläubig auf.
„Ich bin dein Schatten“, wiederholte der Schwarze, „dein Schatten.“
Der Junge blickte ihn von der Seite an und zog seine Augenbrauen nach oben.
„Ich warne Sie, halten Sie mich nicht zum Narren.“
„Siehst du die Sonne? Ja? Schau jetzt hinter dich auf den Stein. Siehst du? Wo ist dein Schatten? Da ist kein Schatten. Das bin nämlich ich.“
Josef betrachtete verwundert die Stelle, wo sich sein Schatten befinden sollte. Aber er hatte keinen Schatten. Die Sonne war unerträglich grell.
Der Mann deutete auf sich. „Ich bin dein Schatten. Normalerweise bin ich da, wo dein Schatten sein sollte, aber jetzt sitze ich neben dir. Siehst du. Ich bin dein echter Schatten.“
Der Alte grinste breit über das faltige Gesicht und zeigte dabei seine großen Zähne.
„Mein Schatten?“ fragte Josef und kapierte jetzt gar nichts mehr.
„Normalerweise bin ich immer bei dir“, erklärte der Alte weiter und zeigte auf die Stelle auf dem Stein, an der er sich befinden sollte.“ Ich war schon immer so bei dir. Pass mal auf, ich erkläre dir das: Immer wenn ein Licht auf dich fiel, war ich bei dir. Ja, du warst immer zwischen dem Licht und mir. Wir beide haben dich zwischen uns gehalten, dein ganzes Leben lang.“
Josef schüttelte den Kopf. „Ich versteh das nicht, tut mir leid.“
„Ist das so schwer zu verstehen?“ Dem Alten begann das Gespräch allmählich Spaß zu machen.
An seinen listigen Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen bis zum Haaransatz.
„Vergiss doch einfach, dass es nur Dinge gibt, die du sehen und hören kannst. Ich war bei dir, dein Leben lang.“
Josef betrachtete die hagere Figur von der Seite: „Aber wieso kann ich Sie erst jetzt sehen und vorher nicht?“
Der Alte lachte auf. „Du kannst mich immer noch nicht sehen. Ich bin nur verkleidet, siehst du?“
Er stand auf und zeigte sich Josef in ganzer Schönheit. „Weißt du, was ich bin? Na? Ein Totengräber. Haahaahaa.“ Er beugte sich vor Lachen. „Gut nicht? Steht mir gut, gell? Haahaahaa.“
Er wischte mit dem Ärmel über den Zylinderhut.
„Ich musste das tun. Ich muss mich verkleiden, sonst glaubst du mir nie, verstehst du? Ich muss mich personizifizieren, oder so, damit du mich sehen und hören kannst. Perfekt, was?“
Josef schaute ihn mit finsterem Blick an und konnte nicht mitlachen. „Jetzt im Ernst: Was wollen Sie von mir?“
„Was ich will?“ Der Alte setzte sich wieder neben Josef.
„Ich will mich von dir trennen, das will ich. Es muss sein.“
Josef zeigte mit der Hand in die Ferne. „Ich halte Sie bestimmt nicht auf. Bitte, Sie können gehen.“
Er stand auf. „Außerdem muss ich Eva, meine Freundin suchen gehen. Sie ist weggegangen, mit einer Frau. Wo ist sie?“
Der Alte zog Josef sanft am Hosengurt wieder zurück auf den Stein.
„Nein, nein, das geht nicht so leicht. Die Sonne. Immer, wenn das Licht scheint, muss ich bei dir sein. Ich kann mich nicht einfach so von dir trennen.“
Josef wurde ungemütlich „Dann warten wir eben bis heute Abend, und dann können Sie gehen.“
Der Alte tätschelte ihn auf die Schulter.
„Josef“, sagte er ruhig und gedehnt, „du verstehst mich falsch. Ich muss mich von dir trennen. Das geht nicht so einfach. Du kannst ja auch nicht einfach dein Bein wegschicken und sagen: `Geh doch` Ich gehöre zu dir, wie dein Bein, hörst du?“
Josef wollte sich nicht beruhigen lassen. „Warum machen Sie dann diesen Aufstand? Mich nervt das langsam. Wissen Sie was? Ich glaube, Sie ticken nicht ganz richtig.“
Der Alte stand auf und sammelte einige Steine. Er begann, mit den Steinen ein Feld von zwei Mal einen Meter abzustecken. Während dieser Beschäftigung redete er ruhig weiter. Josef schaute ihm zu.
„Das einzige, was ich will, ist mich von dir trennen. Das ist alles.“
„Trennen“, sagte Josef weiter. „Was soll denn das Ganze mit der Trennung? Wir sind doch getrennt. Ich bin hier, und Sie sind dort.“
„Nein, nein, nein“, sagte der Totengräber und stellte sich vor Josef hin. „Die Trennung zwischen uns beiden ist nicht körperlich zu sehen. Du kannst tausend Meter weg von mir sein, und doch sind wir nicht getrennt.“
„Ja, wie denn sonst?“
„Das ist wie bei einem Ehepaar: Die sind zusammen, auch wenn sie voneinander getrennt sind. Verstehst du? Wenn sie sich wirklich trennen wollen, dann müssen sie sich scheiden lassen. So ähnlich ist das mit uns beiden auch. Wir müssen uns scheiden lassen.“
„Aber wieso wollen Sie sich von mir scheiden lassen?“ Josefs Stimme schlug Kapriolen.
„Mein Josef“, sagte der Schwarze unbeirrt, „du warst schon immer ungeduldig. Was glaubst du, wie oft ich dir schon das Leben retten musste, weil du so ungeduldig warst? Weißt du noch, als ihr den Baum fällen wolltet, und damals, als du wegen der Katze aufs Scheunendach geklettert bist? Oder als ihr eine Bombe basteln wolltet? Wer, glaubst du wohl, hat dir jedes Mal das Leben gerettet? Hä? Dein Schutzengel, mmh? Nee, das war ich, mein Lieber.“
Der Alte nickte und tippte sich dabei auf die Brust.
Das war alles richtig: Die Bombe war wunderbar explodiert und hätte Josef und seinen Freund beinahe zerfetzt. Doch ihnen war nichts passiert, während die Garagenwand gespickt war mit Metallsplittern. Josef war erschreckt darüber, dass der Alte diese Geschichte aufzählen konnte, die nicht einmal seine Eltern, geschweige denn der Garagenbesitzer kannte. Und das Scheunendach. Josef war im freien Fall vier Meter in den Misthaufen gefallen, mit der kleinen Katze fest in beiden Händen. Da war kein Mensch weit und breit, der diese Geschichte hätte weitererzählen können. Er hatte aber so gestunken, dass er noch Tage lang den Mistgeruch in den Hautporen roch. Allmählich schien es Josef zu dämmern. Anscheinend hatte der alte Mann doch recht, oder schien nicht der Verrückte zu sein, für den er ihn hielt.
„Wer sind Sie?“ fragte Josef.
In seiner Stimme war der ganze Unwillen gewichen in Neugier.
„Dein Schatten“, lächelte der Alte, „Ich bin dein Schatten. Und weil du so ein Dussel bist, hast du die ganze Sache durcheinandergebracht.“
Josef zeigte auf sich. „Ich?“
„Ja, du“, nickte der Alte. „Du hast dich an mir festgehalten. Du hättest das nicht tun sollen. Jetzt sind wir beide noch am Leben, und ich weiß nicht mehr weiter.“
Josef lachte ungläubig auf. „Aber, ich wollte mich doch retten.“
„So ein Quatsch, retten. Meinst du, mir hat das Spaß gemacht?“ der Alte klatschte sich an die Stirn. „Ich habe mir auch etwas dabei gedacht.“
Josef schaute ihn an.
„Und wie konnten wir diesen Sturz überleben?“
„Weil ich schon einen Körper hatte“, erklärte der Schwarze und hob den Finger. „Ich hatte schon einen Körper und daher durfte ich nicht sterben. Schatten dürfen niemals als Körper sterben, nur als Schatten. So ist die Regel.“
„Regel?“
„Schatten dürfen nicht mit sterben, sie müssen sich trennen, verstehst du? Sie müssen sich trennen.“ Der Schatten klang wie Josefs alter Mathematiklehrer.
„Und du hast dich an mir festgehalten. Du bist ein selten dämlicher Idiot. Ich musste mich retten und deshalb sind wir am Leben. Jetzt müssen wir überlegen, wie wir uns am besten trennen können.“
Josef tat, was er beim Mathematiklehrer auch immer tat, er ging zum Schein auf dessen Problematik ein, ohne im Geringsten zu kapieren, was er wollte.
„Und wie können wir uns trennen?“ fragte er schlau.
Der Schatten stand auf. „Ich habe keine Ahnung“, sagte er. „Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, was du angerichtet hast? Mit welchem Recht glaubst du denn, darfst du in dein Schicksal eingreifen?“
Dass darauf keine Antwort kam, wusste der Schatten.
„Du hast dich eigenmächtig in meine Angelegenheiten gemischt“, sagte er und arbeitete weiter.
„Das ist bisher in der Geschichte der Menschheit noch niemals vorgekommen. Du solltest dich schämen. Es ist kaum mehr wiedergutzumachen.“
Er drehte sich zu Josef um. „Es sei denn...“
Josef zog die Augenbrauen hoch. „Es sei denn, was?“
Der Schatten bückte sich wieder um einen Stein abzulegen.
„Es sei denn, du wiederholst mit mir diesen Sturz.“
„Wiederholen, von da oben?“ Josefs Stimme überschlug sich ungläubig.
„Ja, aber wehe, du wehrst dich wieder.“
„Aber dann bin ich doch tot.“
„Ja.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage.“
Der Schatten kam beschwörend auf Josef zu. Er fasste ihn am Kragen und schüttelte ihn. Josef wehrte sich nicht.
„Du musst das tun, du musst das tun“, sagte der Schatten und pfiff dabei leicht aus den Bronchien.
„Es gibt keine andere Lösung. Komm mit nach oben. Wir müssen den Sturz wiederholen. Na, los! Du hast den Fehler begangen, also musst du ihn auch wiedergutmachen.“
Josef schüttelte den Kopf und befreite sich sanft aus dem Griff des Alten.
„Nein, nein, nein. Ich mach nicht mit. Das geht nicht.“
„Ha!“ Der Alte ging ärgerlich einige Schritte hin und her. „Das geht nicht, das geht nicht. Natürlich geht das!“
„Aber ich kann doch nicht einfach wieder hochgehen und mir das Leben nehmen“, sagte Josef, und seine Stimme überschlug sich abermals.
„Das lass dann meine Sorge sein“, brummte der Schatten.
„Ich mache dabei nicht mit. Aus. Basta. Amen.“ Josef wischte seine Handfläche vor sich weg, wie einen Schwamm an der Tafel. Über so ein verrücktes Angebot wollte er nicht weiterreden.
„Außerdem habe ich keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten“, sagte Josef und stand auf. In seinem Kopf kreisten noch die Wespen. „Ich muss Eva suchen gehen. Wo ist sie?“
Er wandte sich vom Alten ab und blickte sich suchend um. Wäre der Wagen oben hundert Meter weiter vom Weg abgekommen, wäre das ein freier Fall geworden. Es war Glück im Unglück, dass er noch lebte, und dass Eva noch lebte. Was war das für eine Nonne, mit der Eva wegging, und wohin gingen sie weg? Er drehte sich wieder zum Alten um.
„Na gut, na gut“, sagte der Schatten. leicht nervös, „dann schlage du was vor. Mache du uns einen Vorschlag, und den befolgen wir dann.“
„Ich kann Ihnen keinen Vorschlag machen“, winkte Josef ab, „denn in solchen Sachen kenne ich mich nicht aus. Sie sind doch der Fachmann. Was schlagen Sie vor?“
„Also gut, also gut“, resümierte der Alte. „Du willst den Sturz nicht wiederholen. Wir müssen uns aber trennen. Wir könnten versuchen uns sanft zu trennen, oder sonst irgendwie schmerzfrei.“
„Ja, genau. So irgendwie.“
„Aber da kenne ich mich auch nicht aus, in solchen Dingen.“
„Wieso nicht?“ fragte Josef.
„Hör mal!“ protestierte der Alte. „Da klebe ich als Schatten dein Leben lang an deinen Füßen und soll mich dabei noch schlau machen, wie ich mich saaanft von dir trennen soll, wenn es anders viel einfacher geht.“
„Vielleicht können wir jemanden fragen?“ überlegte Josef
„Fragen, ja, das ist gut.“ Der Alte grinste böse. „Also, der Herr Josef wollte jemanden fragen gehen. Das ist gut.“
„Ja, genau.“
„Entschuldigen Sie bitte“, äffte der Alte und streckte seine Zunge heraus. „Ich möchte mich von dem da trennen. Können Sie mir da helfen? Vielleicht sind Sie ein Scheidungsanwalt, hä?“
„So meine ich das doch nicht. Sie machen sich lustig über mich.“ Josef ärgerte sich über ihn.
„Oder einen Schreiner?“ provozierte der Alte weiter. „Sollen wir vielleicht einen Schreiner bitten, dass er uns auseinandersägt? Hä? Wir zeigen ihm nur die Stelle, wo wir zusammengewachsen sind und schon haben wir die Lösung, oder was?“
„Ach verflixt, ich weiß es doch auch nicht?“ Josef ging weg. „Mit Ihnen kann man überhaupt nicht reden. Ich schau jetzt selber nach.“
„Wie? Lässt du mich jetzt allein?“
Er drehte sich nicht mehr um. „Sie können ja bleiben.“
Josef ging an die Stelle, wo er unter dem senkrechten Abgrund stand. Die Schmerzen ließen allmählich nach. Er blickte sich um, aber der Alte folgte ihm nicht. Seltsam: Josef ohne Schatten. Er hatte Schwierigkeiten, mit dieser neuen Situation. Es war wie in einem schlechten Traum, oder wie im Kino. Anscheinend musste der Schatten jetzt nicht auf Schritt und Tritt am Körper haften, wie bisher. Doch er sollte bleiben, wo er war. Der alte Mann wollte nichts Gutes von ihm.
Er schaute nach oben. Die hohen, steilen Felsen standen bedrohlich über ihm. Dort oben verlief die Straße mit der gefährlichen und verhängnisvollen Kurve. Von irgendwoher rann Wasser aus der Wand und benetzte das Gestein, das im flachen Winkel des Sonnenstrahls glitzerte. Hier etwa hatte er Eva zuletzt gesehen, als sie mit der Frau wegging.
„Eva!“ rief er, wie nach einem verlorengegangenen Kätzchen. Keine Antwort.
Da, ein Spalt in der Wand. Eine Höhle. Vielleicht war sie hier. Josef untersuchte den engen Eingang. Er rief wieder. Seine Stimme hallte zurück. Es musste eine große Höhle sein. Er zwängte sich durch den scharfkantigen Spalt hindurch. Der Felsen war nass und roch modrig.
Ein Duft drang in seine Nase, nur ganz leicht, ganz sanft. Es war Evas Parfüm. Er kannte den Duft.
„Eva!“ Josef konnte es nicht glauben, dass Eva hier war.