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Mato Grosso

Kapitel 3


15. April 1925


Nun sind schon wieder drei volle Tage ins Land gezogen, seit wir auf die Quelle des Rio Araguaia gestoßen sind. Drei Tage ohne nennenswerte Ereignisse, sieht man einmal davon ab, dass sich die Zahl der Moskitos scheinbar täglich verdoppelt.

Wir werden dem Fluss noch drei weitere Tage tief ins Herz des Mato Grosso folgen. Dann, lange bevor sich seine Fluten mit denen des Rio Tocantins vereinen, werden wir anlanden und unseren mühsamen Marsch nach Cuiabá beginnen, der sogenannten Provinzhauptstadt des Mato Grosso. Dabei ist die Marschrichtung klar; immer gen Westen.

Dort, in Cuiabá, diesem erbärmlichen, vor Dreck starrenden, letzten Vorposten der Zivilisation, wollen wir noch einmal Atem holen, bevor es weiter geht zum Rio Xingu und dann ins Unbekannte. Sorgen mache ich mir indes keine. Mein Sohn Jack und Raleigh Rimmel scheinen dem Reiz des Regenwaldes – dieser nie enden wollenden grünen Hölle – bereits genauso erlegen zu sein, wie es bei mir der Fall ist.

Insbesondere möchte ich an dieser Stelle einmal Mr Rimmel lobend hervorheben. Zugegeben, als mein Sohn Jack mir eröffnete, dass sein Freund Raleigh Rimmel – seines Zeichens Zeitungsfotograf – uns begleiten wollte, war ich davon zunächst wenig erbaut. Da aber auch die North American Newspaper Alliance, eine der maßgeblichen Geldgeberinnen der Expedition, auf die Teilnahme eines Pressevertreters bestand, willigte ich schließlich ein. Zum Glück. Nicht nur, dass er in körperlich ausgezeichneter Verfassung ist und meinen Sohn Jack und mich unterstützt, wo er nur kann, nein auch mit seiner zurückhaltenden, freundlichen Art trifft er den genau richtigen Ton gegenüber den Indios unserer Begleitmannschaft. Auch murrt er nicht, wenn die Indios immer wieder sein feuerrotes Haar bewundern und befühlen wollen. Rimmel ist es auch, der mit seiner extrem hellen Haut am meisten unter der sengenden Sonne und den Moskitoscharen leiden muss. Aber kein Wort der Klage kommt über seine Lippen. Ein famoser Kerl und eine Bereicherung für unsere Gruppe.

Percival H. Fawcett


Gut zwei Stunden nachdem die Rita abgelegt hatte, erreichte sie die Mündung des Rio Negro in den Amazonas. Den Teilnehmern und der Besatzung bot sich ein einmaliges Naturschauspiel. Nach der Einmündung sah es viele Kilometer so aus, als würden sich zwei Flüsse ein und dasselbe Flussbett teilen. Auf der Backbordseite war das Wasser schwarz wie die Fluten des Rio Negro, steuerbordseitig bräunlich-trüb wie die des Amazonas. Erst ganz allmählich vermischten sich die Flüsse, bis schließlich die bräunlich-trübe Färbung des Amazonas dominierte. Bis auf Dr. Velmer und Ruiz hatte sich die komplette Gruppe an Deck versammelt, um dieses Phänomen zu bestaunen.

»Atemberaubend«, murmelte Brigitte an der Reling lehnend, den Blick starr aufs Wasser gerichtet.

»Ja, der Amazonas ist eine ganz eigene Welt«, steuerte Prof. Schmidt sinnierend bei. Etwas abseits von den anderen hatte sich Jack Cameron weit über die Reling gebeugt, um eifrig Fotos von den beiden Flusshälften zu schießen. Olaf und Martina bombardierten Andrea mit Fragen über den Amazonas, die diese nur zu gerne beantwortete.

Andrea hatte schon immer ihr Wissen bereitwillig mit anderen geteilt. Zudem war ihr klar, dass es ihre Position nur stärken konnte, wenn sie ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu Schmidts Assistenten entwickelte. Ja, in den letzten Jahren hatte sie gelernt, auch taktisch zu denken. Aber vor allen Dingen musste sie sich eingestehen – taktisches Denken hin oder her – dass sie die beiden wirklich mochte.

Lennard war nach vorne zum Bug gegangen, wo er sich mit Kapitän Lucas über die weiteren Etappen der Flussfahrt unterhielt. Lucas erklärte Lennard, dass die nächsten Tage recht eintönig werden würden. Da der Amazonas zwischen Manaus und seiner Mündung im Atlantik eine stark befahrene Schifffahrtsstraße ist, herrschte für die gesamte Schifffahrt ein strenges Tempolimit.

»Ich kann es nicht ändern«, sagte Lucas schließlich, »aber wir werden wohl vier Tage brauchen, ehe wir den Rio Xingu erreichen.« Er spuckte einen Priem Kautabak über Bord. »Bis es soweit ist, werden wir Tag und Nacht mit gedrosselten Motoren den Amazonas entlangdümpeln.« Er zuckte die Schultern, kratzte sich hinterm Ohr und grinste Lennard schief an. »Genießen Sie die Zeit. Sie wissen ja nicht, was Sie danach erwartet«, verabschiedete sich Lucas alsbald auf die Brücke und ließ einen nachdenklichen Lennard am Bug zurück.

In der Tat, niemand weiß, was uns erwartet, dachte er, als er seinen Blick vom Fluss löste und gemächlich zu den anderen schlenderte.

Wie vom Kapitän bereits angekündigt, vergingen die Stunden des Tages zermürbend langsam. Nach dem gemeinsamen Frühstück versuchte jeder auf seine Art und Weise, die Zeit totzuschlagen.

Andrea und Martina hatten beschlossen, ein Sonnenbad zu nehmen. Und als die beiden Schönheiten im Bikini an Deck erschienen, um zu den Liegestühlen zu gehen, zogen sie nicht nur die bewundernden Blicke von Olaf und Lennard auf sich.

Etwas abseits hatte es sich Ruiz mit einem Buch an Deck gemütlich gemacht.

Nur Brigitte war wieder in ihre Kabine gegangen, um an einem wissenschaftlichen Artikel für ein Fachmagazin zu schreiben.

Auf dem Heck des Schiffes hatten sich Prof. Schmidt, Jack Cameron und Olaf um einen kleinen Tisch gruppiert und spielten Karten.

Lennard dagegen hatte sich einen Stuhl an die Reling gestellt und eine Angel ausgeworfen. So konnte er in Ruhe seinen Gedanken nachhängen und vielleicht etwas frischen Fisch zum Mittagessen beisteuern.

Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als Dr. Velmer neben ihm erschien. Die Expeditionsärztin trug einen Wickelrock mit einem Bikini-Oberteil, welches ihre üppige Oberweite eindrucksvoll zur Geltung brachte.

»Mr Larson, darf ich Ihnen beim Köderbaden Gesellschaft leisten?«. Sie grinste ihn frech an.

»Gerne und nennen sie mich doch bitte Lennard«, grinste er zurück.

»Nur, wenn sie mich Edda nennen.«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Ihr Händedruck war warm und fest. Als sie sich vorbeugte, um einen zweiten Stuhl an die Reling zu ziehen, konnte Lennard einen weiteren Blick auf ihren wogenden Busen erhaschen. Innerlich musste er über sich selbst den Kopf schütteln. Typisch Mann, ging es ihm durch den Kopf. Jetzt war er seit einem Tag mit Andrea zusammen und konnte es trotzdem nicht lassen, einer anderen Frau auf die Titten zu glotzen.

Inzwischen hatte Edda neben ihm Platz genommen und sie unterhielten sich einige Minuten über dies und das. Alles belangloses Zeug. Lennard kam immer mehr zu der Überzeugung, dass Edda ihm etwas erzählen wollte, aber nicht wusste, wie sie es am besten anstellen sollte. Also ergriff er die Initiative.

»Edda, du willst mir doch sicher nicht nur beim Köderbaden zusehen, also raus damit.«

»Bin ich so leicht zu durchschauen?« Sie lächelte ihn gequält an und fuhr sich durchs Haar. Lennard schüttelte beruhigend den Kopf.

»Nein, aber ich habe ein ganz gutes Gespür dafür, wenn jemandem etwas auf den Nägeln brennt.«

»Also gut. Es geht noch mal um den Anschlag auf Andrea.«

»Ja?« Lennard war sofort hellhörig geworden.

»Als wir gestern Abend unsere Kabinen an Bord bezogen, bemerkte ich, dass die Tür der Kabine mir gegenüber nur angelehnt war und da …« Edda zögerte und wich Lennards Blick aus. Er musste schmunzeln.

»Edda, du bist eine Frau. Du musst dich für deine Neugier nicht entschuldigen.«

»Idiot!«, blaffte sie ihn an, fügte dann aber hinzu: »Ja, du hast aber recht. Ich drückte die Tür vorsichtig auf. Ich wollte doch nur wissen, wer mein Zimmernachbar von gegenüber ist«, rechtfertigte sie sich.

»Und weiter?«

»In der Kabine kniete Alberto Ruiz auf dem Boden und räumte seinen Koffer aus.«

»Ja und?«, forderte Lennard sie auf, endlich zum Punkt zu kommen. Edda blickte tief in seine Augen.

»Auf dem Bett stand genauso ein mit Holz verstärkter Schuhkarton, wie wir ihn in Andreas Zimmer gefunden haben. Bis auf die Luftlöcher im Deckel waren die Kartons vollkommen identisch.«

Andrea und Martina genossen die warmen Strahlen der äquatorialen Sonne, wobei Martina wegen ihrer hellen Haut eine Sonnencreme benutzte, deren Schutzfaktor vermutlich nur eine Nuance unter der Schutzwirkung einer Wolldecke lag. Andrea konnte da entspannter sein. Das Leben in Manaus hatte ihrer Haut eine bronzene Grundfärbung beschert.

»Dich hat es ganz schön erwischt, was?«

Andrea schlug die Augen auf und blickte zu Martina. Die hochaufgeschossene junge Frau hatte sich auf ihrer Liege aufgesetzt und grinste jetzt zu Andrea rüber.

»Was erwischt?«, war Andreas verblüffte Gegenfrage. Sie hatte eine Hand gehoben, um die Sonne abzuschirmen, damit sie Martina besser sehen konnte.

»Na, Lennard mein ich. Dass du in ihn verschossen bist.«

Erschrocken setzte sich jetzt auch Andrea auf und schaute Martina einen Moment fassungslos an. Dann lächelte sie. »So offensichtlich?«

Martina nickte bedächtig. »Für mich schon.«

»Und für die anderen?«

Martina winkte mit der Hand ab. »Keine Spur. Die haben keine Ahnung.«

»Und Olaf?«

»Ach, hör mir mit Olaf auf. Den musste ich fast dahin prügeln, dass er merkte, dass er mich liebt und ich ihn. Aber«, fügte sie hinzu, »ihm würde ich es gerne erzählen. Den anderen natürlich nicht.«

»Versprochen?«

»Hoch und heilig.«

Die nächste halbe Stunde unterhielten sich die beiden mit verschwörerischem Gekicher über ihre Freunde, deren Eigenheiten und die Spezies Mann im Allgemeinen. Schließlich wanderten die beiden wieder zu ihren Kabinen. Sie wollten sich vor dem Mittagessen noch frisch machen.

Als Andrea ihre Kabine betrat, lächelte sie. Sie war froh, dass Martina sie auf Lennard angesprochen hatte. Irgendwie tat es gut, eine Freundin gefunden zu haben, mit der sie über ihr Glück sprechen konnte. Hoffentlich bin ich nicht knallrot angelaufen wie ein pubertierender Teenager, befürchtete sie ins geheim. Ach Quatsch, doch nicht mehr in meinem Alter, dachte sie, als sie unter die Dusche ging.

»Ja, Sportkamerad Helbig«, strahlte ein sichtlich zufriedener Prof. Schmidt, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und betrachtete den großen Stapel Streichhölzer vor sich, »wenn wir um Euros und nicht um Streichhölzer gepokert hätten, könnte das Institut Ihr Gehalt für das nächste halbe Jahr auf mein Konto überweisen.«

»Sie hatten doch nur Glück, Herr Professor«, erwiderte Olaf leicht mürrisch.

»Ah, Sie verwechseln Glück mit Können. Schauen Sie, Mr Cameron hat gut die Hälfte seiner Streichhölzer an mich verloren. Sie haben alles verloren. Daraus folgt: Ich bin ein guter Pokerspieler, Mr Cameron, na, sagen wir mal ein mittelmäßiger Spieler und sie lieber Olaf …« Schmidt schüttelte immer noch strahlend den Kopf: »Tja, was ist eigentlich die Steigerung von katastrophal?«

Auch Jack Cameron musste breit grinsen. Er konnte mit den wohlwollend spöttischen Bemerkungen gut leben. Der ansonsten doch eher reservierte Prof. Schmidt war während des Kartenspiels aufgetaut und hatte gezeigt, dass er auch eine sehr humorvolle Seite hatte.

Und auch Olaf musste jetzt kopfschüttelnd grinsen und hob schließlich an: »Ich werde mich rächen, Meister Yoda.«

»Das Spiel Padawan verstehen nicht«, entgegnete Schmidt schlagfertig. Wenig später erhoben sie sich dann, um sich ebenfalls noch etwas frisch zu machen, jedoch nicht ohne sich vorher für den Nachmittag zur nächsten Runde zu verabreden.

Brigitte konnte sich nicht recht auf ihren Aufsatz über Meeresschildkröten konzentrieren. Ihr war, als sie über das Meer nachdachte, noch eine weitere Idee zur Sucuriju Gigante in den Sinn gekommen.

Einige Meeresbiologen hatten die Theorie aufgestellt, dass der Megalodon, ein fast zwanzig Meter langer Urhai, der die Meere der Kreidezeit bevölkert hatte, im Laufe von Millionen Jahren zu seinem heutigen Cousin, dem weißen Hai, geschrumpft sei. Wenn sie diese Theorie nun übertrug, würde das bedeuten, dass die Sucuriju Gigante eine uralte Art sein könnte, die vielleicht schon Jagd auf die mächtigen Dinosaurier gemacht hatte. Und die Anakonda wäre dann ihre geschrumpfte neuzeitliche Variante. Ja, auch das wäre möglich, stellte Brigitte für sich fest. Aber auch diese Idee brachte sie nicht entscheidend weiter. Alles stand und fiel mit der Frage, ob sie da draußen auf einen isolierten Lebensraum stoßen würden, der der Sucuriju Gigante das Überleben ermöglichte. Das Einzige, was ihre Überlegung ihr eingebracht hatte, war die Erkenntnis, dass dieser isolierte Lebensraum viel urzeitlicher aussehen müsste, als sie es sich bisher hätte vorstellen können.

Schließlich rief sie sich selbst zur Ordnung und zwang sich wieder an ihren Aufsatz. Nicht aber, ohne vorher ihr Bullauge aufzureißen. Die Luft wirkte trotz der extremen Luftfeuchtigkeit erfrischend auf sie. Sie wollte fertig werden. Spätestens übermorgen wollte sie sich Martina und Andrea beim Sonnenbaden anschließen. Kaum hatte sie an Andrea gedacht, schauderte es sie auch schon bei der Erinnerung an den Anschlag. Energisch schüttelte sie den Kopf. Manaus liegt weit hinter uns, reiß dich jetzt zusammen, sonst wird das nie was mit dem Sonnenbad, ermahnte sie sich abermals.


»Und«, rief Martina über die Schulter in Richtung Olaf, der sich auf das Bett gelümmelt hatte, »als ich ihr auf den Kopf zugesagt habe, dass sie in Lennard verknallt ist, ist sie tatsächlich knallrot angelaufen wie ein Teenager. Süß, was?«

»Mhm, aber eins musst du mir verraten. Bist du Hellseherin? Wie in drei Teufelsnamen bist du drauf gekommen, dass Andrea ein Auge auf Lennard geworfen hat?«

Martina hatte mittlerweile ihren Bikini abgestreift und war auf dem Weg ins Bad. Mit dem Rücken zu Olaf grinste sie und verdrehte die Augen. Ohne ihm zu antworten, ging sie unter die Dusche. Olaf folgte ihr keine Minute später.

Alberto Ruiz‘ Gedanken waren immer wieder von seiner Lektüre abgeschweift und hatten sich um die Expedition und ihre Teilnehmer gedreht. Er war von der brasilianischen Regierung und der Society tief enttäuscht. Seiner Meinung nach hätte mindestens die Hälfte der Teilnehmer Brasilianer sein müssen. Und dies galt natürlich auch für die Leitung der Expedition. Immerhin waren sie in Brasilien. Fawcetts Tagebuch war in Brasilien gefunden worden und zwar aus seiner Sicht unter sehr fragwürdigen Umständen in den Besitz der deutschen Wissenschaftlerin gelangt. Wie sollte Brasilien jemals den Status eines Schwellenlandes verlassen, wenn sich die Regierung so unterbuttern ließ? Er fühlte sich tatsächlich in die Kolonialzeit unter portugiesischer Regentschaft zurückversetzt. Nur dass die Portugiesen durch die Deutschen ersetzt worden waren. Unfassbar. Wobei er sich eingestehen musste, dass er gegen die Teilnehmer der Expedition eigentlich nichts hatte. Im Gegenteil, sie waren fachlich sicherlich alle qualifiziert und ihm größtenteils sogar sympathisch. Es war das System, das ihn krank machte. Und er hatte beschlossen, dagegen ein Zeichen zu setzten. Widerstand zu leisten. Allerspätestens beim ersten Kontakt mit einem indigenen Stamm würde er die Expedition scheitern lassen. Er, Alberto Ruiz, würde Manoa für das brasilianische Volk bewahren.

Lennard hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben. Er beobachtete gerade mit Edda, wie ein Arakanga – ein hellroter Ara – über der Rita seine Bahnen zog und erzählte der jungen Ärztin, dass es bei den Arakangas genauso Rechts- und Linkshänder gäbe, wie bei den Menschen, als endlich ein Fisch anbiss. Vorsichtig holte Lennard die Angel ein, bis endlich ein Tucunaré die Oberfläche des Amazonas durchbrach. Die delikate Buntbarschart konnte fast einen Meter lang werden, wobei es Lennard vollkommen genügte, dass sein Exemplar gerade mal fünfzig Zentimeter maß. Als Bereicherung des heutigen Speiseplans war der Fisch allemal groß genug.

»Jetzt kommt der unangenehme Teil«, wandte er sich an Edda, nachdem er den Fisch an Bord gehievt hatte.

»Ich weiß, aber das gehört nun mal dazu. Als Kind bin ich oft mit meinem Vater zum Angeln gegangen«, antwortete sie schulterzuckend.

Lennard schnappte sich einen an der Reling hängenden Knüppel und erledigte die Sache mit einem gezielten Schlag. Edda ging in ihre Kabine, um sich für das Mittagessen umzuziehen und Lennard verschwand mit dem Tucunaré in Richtung Kombüse.

Das Mittagessen in der kleinen, aber gemütlichen Messe wurde von der euphorischen Stimmung der Teilnehmer dominiert. Es wurde viel und herzhaft gelacht. Nur Lennard war etwas abwesend. Er sah immer wieder zu Ruiz hinüber. Hat Eddas Beobachtung wirklich etwas zu bedeuten oder war das nur ein Zufall?, fragte er sich ununterbrochen. Pausenlos und ohne Ergebnis. Er hatte die ganze Zeit gehofft, dass der Anschlag die Tat eines Irren in Manaus war. Dass Andrea ein zufälliges Opfer war. Auch wenn er das nach wie vor hoffte, hatte ihn Edda daran erinnert, dass es auch anders sein könnte. Aber Ruiz? Das ergab doch keinen Sinn. Dass er Ruiz im Auge behalten würde, war natürlich klar, aber Andrea wollte er erst am Abend in seiner Kabine einweihen. Sie verstand sich scheinbar ausgezeichnet mit Martina. Sollte sie doch den Nachmittag genießen, er würde auch sie im Blick behalten.

Anders als für die anderen Teilnehmer vergingen die Stunden des Nachmittags für Lennard viel zu langsam. Er brannte natürlich darauf zu erfahren, was Andrea zu Eddas Beobachtung sagte und natürlich brannte er noch viel mehr darauf, Andrea endlich wieder in seinen Armen zu halten. Eigentlich ging ihm das mit Andrea alles irgendwie viel zu schnell. Aber vielleicht hatte er auch nur zu lange in der Vergangenheit gelebt. Darüber wollte er jetzt auch gar nicht grübeln. Er fand es gut, so wie es jetzt war. Er hatte schon fast nicht mehr gewusst, wie es sich anfühlte, glücklich zu sein.

Umso froher war er, als mit Einbruch der Dämmerung die Gesänge der Amazonaspapageien wieder einsetzten, als sie zu ihren Schlafplätzen zurückkehrten. Eine Gruppe Brüllaffen stimmte in das Konzert ein und die Tiere machten ihrem Namen alle Ehre. Untermalt wurde das Ganze vom monotonen Bass der stetig tuckernden Dieselmotoren.

Da für die meisten Teilnehmer die vergangene Nacht doch eher kurz ausgefallen war, verlief das Abendessen in gedämpfter Atmosphäre und alle schienen froh, sich gegen 22:00 Uhr auf ihre Kabinen zurückziehen zu können.

Gegen halb elf klopfte es dann endlich an Lennards Kabine und Andrea schlüpfte durch die Tür. Ohne vorher ein Wort zu sagen, nahmen sie sich in die Arme und küssten sich lange. Als sich ihre Münder endlich voneinander trennten, ließ es sich Andrea nicht nehmen, ihm als Erstes von dem Gespräch mit Martina zu berichten. Soll sie doch ruhig, dachte Lennard, sie wirkt glücklich. Er würde ihr die gute Laune früh genug verderben müssen. Aber irgendwann konnte er es dann natürlich doch nicht mehr hinauszögern und er berichtete ihr von seiner Unterhaltung mit Edda. Andrea reagierte fassungslos.

»Ruiz? Das macht doch keinen Sinn!« Sie sah ihn mit großen, fragenden Augen an.

»Ich weiß.« Lennard zuckte mit den Schultern.

»Und nun, was sollen wir jetzt machen?«

»Tja, vor allen Dingen die Ruhe bewahren. Ich behalte Ruiz im Auge und du hältst dich von ihm fern. Viel mehr können wir nicht machen. Der Besitz der Kiste beweist schlussendlich ja gar nichts. Wer weiß, wie viele von diesen Dingern in Manaus im Umlauf sind.« Er zuckte abermals mit den Schultern.

Dann nahm er sie wieder in den Arm und Andrea schmiegte dankbar ihren Kopf an seine Brust. Später, lange nachdem sie miteinander geschlafen hatten, schlummerte Andrea eng an Lennard gekuschelt in seiner schmalen Koje ein. Lennard genoss das Gefühl ihrer Nähe, ihrer Wärme und das leichte Kitzeln ihres Atems auf seiner Brust. Gegen 1:00 Uhr übermannte dann auch Lennard der Schlaf.

Auch in dieser Nacht plagte ihn der Traum, aber in einer milden, abgeschwächten Form. Zwar schreckte Lennard kurz hoch, doch sein Puls beruhigte sich schnell wieder, als er Andrea neben sich spürte. Er schmiegte sich eng an sie und kaum eine Minute später schlief er bereits wieder.

Plötzlich wurde Lennard heftig an den Schultern geschüttelt. »Wach auf, schnell, komm schon«, riss ihn Andreas eindringliche Stimme aus dem Schlaf.

Als er die Augen aufschlug und ihr bleiches, entsetztes Gesicht über sich sah, war er sofort hellwach.

»Was ist?«, fragte er besorgt, während er sich aus der Koje schwang.

»Sei leise und komm mit«, flüsterte Andrea, die fast schon wieder an seiner Kabinentür war. Nur mit Boxershorts bekleidet folgte er ihr hastig zu ihrer Kabine. Andrea zog ihn am Arm in den Raum und schloss dann leise die Tür hinter ihm. Lennard war von dem Auftritt immer noch verwirrt.

Andrea deutete auf ihr Bett und als Lennards Blick ihrer Geste folgte, stieß er erschrocken den Atem aus. In Andreas Kopfkissen, genau da, wo ihr Kopf gelegen hätte, wenn sie in ihrer Koje geschlafen hätte, steckte der Pfeil einer Harpune. Mit zwei Schritten war Lennard am Kopfende des Bettes. Der Pfeil hatte das Kopfkissen durchschlagen und war dann noch knapp zwei Zentimeter tief in den hölzernen Bettrahmen eingedrungen.

Fassungslos blickte er Andrea an. Hätte sie im Bett gelegen, hätte die Hochdruckharpune ihren Schädel durchbohrt wie nichts.

Schlagartig wurde Lennard klar, dass auch der Anschlag im Hotel kein Zufall oder eine Verwechslung war. Die dumpfe Befürchtung war zur Gewissheit geworden. Jemand versuchte gezielt, Andrea umzubringen, und da sie an Bord eines Schiffes waren, musste dieser Jemand entweder einer der Teilnehmer oder eines der fünf Besatzungsmitglieder sein. Sie fuhren zum Rio Xingu … mit einem Mörder an Bord.

Lennard schüttelte den Kopf. Sollte dieser Jemand tatsächlich Ruiz sein? Er wusste es nicht. Als er bemerkte, dass Andreas Unterlippe zu zittern begonnen hatte. Vermutlich hat sie erst jetzt die gesamte Tragweite der Situation erfasst, dachte Lennard. Er ging zu ihr und nahm sie in den Arm, lange und fest.

Schließlich hatten sie den Schock überwunden und schlichen zurück in Lennards Kabine, um die Lage zu analysieren. Zunächst einmal war klar, dass der Täter den Generalschlüssel benutzt haben musste, da Andrea ihre Kabinentür abgeschlossen hatte. Leider hing dieser für alle zugänglich an einem Brett direkt am Aufgang zum Deck. Und natürlich hatte der Täter durch den Generalschlüssel auch Zugang zur Waffenkammer und damit zu den Harpunen. Diese Überlegung brachte sie also nicht wirklich weiter. Ferner war ihnen klar, dass der Täter in das dunkle Zimmer hineingeschossen haben musste. Hätte er in der Kabine Licht gemacht, hätte er ja gesehen, dass Andrea gar nicht im Bett lag und folglich hätte er erst gar nicht geschossen. Licht war auch nicht zwingend notwendig, da alle Kabinen exakt gleich aufgebaut waren und er also genau wusste, wo ihr Bett stand.

Der Mörder hatte also in die dunkle Kabine geschossen, aber was dann? Vermutlich, schlussfolgerten die beiden weiter, war er direkt nach dem Schuss geflohen. Und als in der Folgezeit keine Schreie aus ihrem Zimmer drangen oder Andrea gar selbst auf dem Flur erschien, um die anderen zu alarmieren, musste er davon ausgegangen sein, dass er getroffen hatte und Andrea tot in ihrem Bett lag.

Die beiden fassten einen Plan. Lennard würde zum Frühstück gehen, Andrea sich in seiner Kabine einschließen. Wenn dann alle Teilnehmer beisammen wären, würde er sich unter einem Vorwand entschuldigen und Andrea Bescheid geben, dass alle da wären. Dann würde er zum Frühstück zurückkehren und die Gesichter und Reaktionen der Teilnehmer genau beobachten, wenn Andrea eine Minute später den Raum betrat. Ruiz würde er dabei besonders gut im Auge behalten.

Der Plan funktionierte tatsächlich reibungslos. Nur leider blieb die gewünschte Reaktion aus. Ruiz lächelte Andrea freundlich zu, als sie den Raum betrat und auch die anderen Teilnehmer verhielten sich vollkommen natürlich. Keinem war auch nur ein Hauch von Überraschung anzumerken. Nichts, aber auch gar nichts, ließ darauf schließen, dass einer der Teilnehmer der Täter war.

Dann berichtete Andrea den anderen von dem Attentat und Lennard beobachtete die Gesichter und Reaktionen der anderen. Alle, durch die Bank alle, waren geschockt. Als Andrea erwähnte, dass sie dem Attentat nur entgangen sei, weil sie bei Lennard übernachtet hatte, drehten sich einige Teilnehmer überrascht zu ihm, aber Lennard verzog keine Miene. Er war sogar froh, dass das Versteckspiel jetzt ein Ende hatte. Es war ja nun wirklich auch nichts Verbotenes, mit einer attraktiven Frau liiert zu sein.

Als Kapitän Lucas in den Raum kam, wurde natürlich auch er über die Vorkommnisse unterrichtet. Lucas reagierte genauso entsetzt wie die anderen, schwor aber Stein und Bein drauf, dass niemand aus der Crew als Täter in Betracht käme.

»Das ist ein Zeichen, eine Warnung der Geister. Kehren Sie um, solange es noch nicht zu spät ist«, orakelte Lucas düster und zupfte dabei nervös an seinem Ohrläppchen. »Glauben Sie mir Mr Larson, Lucas weiß, wovon er spricht«, flüsterte er Lennard noch zu, bevor er sich aufmachte, die Waffenkammer zu inspizieren. Vergeblich. Beide Harpunen hingen an ihrem Platz. Nur ein Pfeil fehlte.

Alle weiteren Bemühungen, dem Mörder auf die Spur zu kommen, verliefen genauso erfolglos wie die bisherigen. Als dann auch der Letzte realisierte, dass man sich in Gesellschaft eines Mörders befand, sank die Stimmung auf den Tiefpunkt. Sämtliche Vorfreude war verflogen. Unterschwellig hatte sich Misstrauen an Bord geschlichen. Das Misstrauen eines jeden gegen fast jeden anderen. Zwar wahrten alle den Schein der Normalität und gingen ihren normalen Aktivitäten nach, doch wusste jeder, dass unter der Fassade dieser Normalität das Böse lauerte.

Der monotone Schiffsalltag, während die Rita den Amazonas entlangtuckerte, trug natürlich auch nicht zur Besserung der Gemütslage bei. Die drückende Luft, die Moskitos, angelockt von menschlichem Schweiß, zerrten zudem an den Nerven aller. Nur ganz langsam entspannte sich die Situation wieder. Dies war sicherlich dem Umstand geschuldet, dass die folgenden Tage ohne nennenswerte Vorkommnisse dahinschlichen. Und es kam einem befreienden Aufatmen gleich, als die Rita drei Tage später endlich die Mündung des Rio Xingu erreichte und in den Nebenfluss des Amazonas hineinsteuerte.

Trotzdem, dachte Lennard, er stand an der Reling und betrachtete das Wellenspiel des Rio Xingu, die Expedition steht unter keinem guten Stern. Erst als Andrea zu ihm trat, hellte sich seine Miene auf.

Sucuriju Gigante

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