Читать книгу Durch die Nacht - Martin Bischoff - Страница 5
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I‘ am the passenger and I ride and I ride
I ride through the city’s backsides
IGGY POP
Was für ein Tag, dachte Joshua, als der Regionalexpress aus Richtung Bremen endlich in den verwaisten Hamburger Hauptbahnhof einrollte.
Dabei konnte er froh sein, überhaupt noch nach Hamburg gekommen zu sein. Seit vierzehn Tagen befand sich Deutschland fest im Griff des Polartiefs Dominique. Eisige Temperaturen und ununterbrochener Schneefall hatten Deutschland ins Verkehrschaos gestürzt.
Auf den Straßen kamen die Räumfahrzeuge nicht mehr durch und die meisten Flughäfen Mittel- und Nordeuropas hatten den Flugverkehr so gut wie eingestellt. Zwar hatte die Bahn auch massive Schwierigkeiten mit vereisten Oberleitungen und eingefrorenen Weichen, aber es ging Stück für Stück voran, wenn auch langsam. Daher hatte sich Joshua nach einem Geschäftstermin in Basel für die Bahn entschieden. Vor nunmehr vierzehn Stunden war er im Baseler Schneetreiben in einen Intercity Richtung Hamburg eingestiegen und inzwischen war er bereits des Öfteren in andere Züge umquartiert worden. Erneut unterbrochen wurde die Fahrt im Bremer Schneetreiben, wo die verbleibenden Reisenden in einen Regionalexpress gesteckt wurden. Und endlich ging es weiter ins Hamburger Schneetreiben.
Die Laune des sechsunddreißigjährigen Geschäftsführers eines Galvanisierungswerks wäre nach dieser Horrortour sicherlich im Keller gewesen, wenn die Geschäfte in der Schweiz nicht so erfolgreich gewesen wären.
Eigentlich ist das Leben doch schön, grinste Joshua vor sich hin. Er hatte einen Job, mit dem er weit mehr Geld verdiente, als er ausgeben konnte. Seine Figur war bei einer Größe von knapp einsneunzig immer noch sehr sportlich und sein braunes, kurzes Haar wies noch keine altersbedingten Lücken auf. Zwar hatte er im Moment keine feste Freundin, aber die Erfahrung lehrte, dass das keineswegs ein Grund für Torschlusspanik war.
Mit einem letzten quietschen kam der Zug um 01:03 Uhr am Bahnsteig zum Stillstand.
Auch auf Karls wulstigen Lippen zeichnete sich ein glückliches Grinsen ab: »Joshua, wir haben es geschafft.« Karl war seit Freiburg Joshuas – unfreiwillige – Reisebegleitung. Joshua schüttelte unmerklich den Kopf und lächelte in sich hinein, als er daran dachte, wie sie sich kennengelernt hatten. Joshua hatte es sich in einem Abteil bequem gemacht. Der Zug war nur dünn besetzt, was an einem 29. Dezember und bei dieser Witterung nicht wirklich überraschen konnte. In Freiburg wurde seine Abteiltür rumpelnd aufgerissen und vor ihm stand ein circa einssechzig kleiner Mann, der vermutlich deutlich über hundertzehn Kilo wog. Sein schweißnasser Kopf war von einem dünnen blonden Haarkranz umgeben, der unschön an seinen Schläfen klebte. Sein brauner Cordanzug war mehr als eine Nummer zu klein und bot einen eigenartigen Kontrast zu Joshuas Maßanzug. Der seltsame kleine Mann zerrte ein uraltes, überdimensionales Koffermonstrum hinter sich her.
»Karl Müller, Vertreter für Tapetenmuster«, rief er schnaubend und eine Spur zu laut in das Abteil. »Ist hier noch was frei?«
Joshua nickte, deutete mit der Hand auf die fünf freien Plätze und stellte sich seinerseits vor, auch wenn ihm die ganze Szene einigermaßen surreal vorkam. »Frankel, Joshua Frankel.« Karl streckte ihm ein schweißnasses Patschehändchen hin, welches Joshua nur widerwillig schüttelte.
»Fahren Sie auch mit diesem Zug?«
Diese scharfsinnige Frage überraschte Joshua, als er seine Hand gerade unauffällig an seiner Anzughose abwischen wollte.
»Äh, ja«, war Joshuas perplexe Antwort.
»Na, dann sind wir ja eine Fahrgemeinschaft«, lachte Karl und zerrte das Koffermonster in das Abteil.
Joshua bot sich an, das Ding auf die Ablage zu hieven, weil offensichtlich war, dass Karl da nicht dran kam.
»Danke Herr Frank, das war sehr nett.«
»Gerne, aber ich heiße Frankel.«
»Frankel Frank? Ich dachte Joshua?«
Joshua schüttelte resigniert den Kopf.
»Wissen Sie was, nennen Sie mich einfach Joshua.
« Karl riss die Augen auf: »Ich darf Sie duzen?«
»Klar doch, wenn wir schon eine Fahrgemeinschaft sind.«
»Karl«, er streckte ihm erneut die schweißnasse Hand entgegen. Wie kann man bei minus zehn Grad nur schwitzen, dachte Joshua, als er Karls Hand erneut schüttelte. Eigentlich hatte Joshua vorgehabt, auf der Fahrt den neuesten Förster zu lesen, so aber erfuhr er die Lebensgeschichte von Karl: Sein Vater war gestorben, als er zehn Jahre alt war und nun, mit zweiunddreißig, lebte er immer noch bei seiner Mutter, die nur eine kleine Rente bekam, sein Gehalt war auch mickrig, da Tapetenmuster out waren ...
Und so weiter und so weiter. In Karlsruhe kannte Joshua alle nicht erlebten Abenteuer aus der Schulzeit... in Mannheim die nicht erlebten Abenteuer aus der Zeit danach. In Frankfurt wurde den Reisenden dann mitgeteilt, dass der Zug ausgesetzt würde. Joshua stieg mit dem überaus nervösen Karl im Schlapptau in einen Intercity um, der über Köln in Richtung Hamburg fuhr.
In Dortmund stieg ein sehr distinguiert wirkender Mittfünfziger zu und nahm schräg gegenüber von Karl Platz. Der Mann war äußerst hager und trug sein graues Haar akkurat geschnitten. Sein schwarzer Anzug war penibel gebügelt und sah sehr teuer aus. Sein Gepäck, ein länglicher Samsonite-Koffer und eine kleine Reisetasche, verstaute er auf der anderen Kofferablage. Karls überschwängliche Begrüßung quittierte er lediglich mit einem knappen Nicken.
Joshua nickte ebenfalls kurz in Richtung des Neuankömmlings. Wenn der schon so maulfaul ist, muss ich ihn auch nicht volltexten, dachte Joshua. Man merkte schnell, dass Karls Mitteilungsbedürfnis dem Mann zunehmend auf die Nerven ging. Als Joshua Karl auf einen Kaffee ins Bordbistro einlud, warf ihm der Mann einen dankbaren Blick zu.
Karl konnte den Neuen nicht leiden. Der wär was für meinen Koffer, dachte Karl. Das würde ihm Benehmen beibringen ... Abwarten, mal sehen.
Der Lehrer, so wurde der zugestiegene Reisende in seiner Branche genannt, nutzte die Abwesenheit der beiden, um seinen Samsonite-Koffer zu öffnen. Jedoch nicht, bevor er die Vorhänge sorgfältig geschlossen hatte.
Direkt neben seiner halbautomatischen Glock mit Schalldämpfer lag eine DIN A4-Mappe mit allen Informationen zu seinem Auftrag.
Der Lehrer nahm die Mappe, verschloss den Koffer wieder und legte ihn zurück auf die Gepäckablage. Er wollte die Abwesenheit von Schweinchen Dick nutzen, um nochmals alle Details durchzugehen.
Die Ausgangssituation war für den Lehrer nicht neu. In Hamburg / St. Georg war ein Bandenkrieg ausgebrochen. Es ging um die Vorherrschaft im Drogenhandel und darum, wer auf dem Straßenstrich das Sagen hatte und abkassierte. Der Lehrer schaute kurz aus dem Fenster als der Intercity über eine Weiche rumpelte.
Wenn alles gut geht, bin ich in drei Stunden in Hamburg, ging es ihm durch den Kopf. Dann stieß er ein vornehmes Hüsteln aus und vertiefte sich wieder in seine Unterlagen.
Auf der einen Seite stand Don Georg, der alteingesessene Kiez-Pate. Über Jahrzehnte hatte er unangefochten das Geschäft beherrscht. Auch als in den letzten Jahren vermehrt Osteuropäer nach St. Georg kamen, hatte sein Einfluss nicht darunter gelitten, da sie jeweils einzeln und auf eigene Rechnung agierten.
Geändert hatte sich das erst, als ein Mann auftauchte, dem es gelang, die Osteuropäer zu organisieren und so ein größeres Stück vom Kuchen abzubekommen. Dieser Mann hieß auf dem Kiez nur der Albaner und er hatte in den letzten Jahren ständig an Einfluss gewonnen, was den Machtbereich von Don Georg deutlich verkleinerte. Mehrere Treffen der Bandenchefs mit dem Ziel, den Kiez einvernehmlich aufzuteilen, verliefen am Ende ergebnislos im Sand.
Als vor zwei Wochen auch die Bremer Reihe – eine der verruchtesten Adressen im ganzen Bezirk – an den Albaner fiel, hatte Don Georg beschlossen, das Spiel nach seinen Regeln zu beenden: Der Albaner musste weg und der Lehrer sollte ihn Don Georg vom Hals schaffen – der Auftrag war da unmissverständlich. Diese Gefälligkeit ließ sich der Lehrer mit vierzigtausend Euro entlohnen. Zwanzigtausend Euro hatte er bereits kassiert. Die weiteren zwanzigtausend würden folgen, sobald der Auftrag ausgeführt war.
Don Georg hatte ihm natürlich Fotos des Albaners zukommen lassen. Sie zeigten einen breitschultrigen Mann von circa einsfünfundachtzig, sehr muskulös. Sein braunes, langes Haar hatte er zu einem Zopf gebunden. Seine braunen Augen versprühten einen harten Glanz. Unterstrichen wurde der finstere Eindruck noch durch eine vielleicht vier Zentimeter lange Narbe auf der rechten Wange. Der Lehrer schätzte en Mann auf ungefähr fünfzig. Die reinste Schlägervisage. Der Lehrer schüttelte in Gedanken versunken den Kopf.
Um zu wissen, mit wem er es zu tun hatte, hatte er sich Fotos von Don Georg aus dem Internet besorgt. »Leute gibt‘s«, murmelte der Lehrer vor sich hin. Der Mann auf dem Foto war ein gealterter Pseudo-Elvis; silbergraue Haartolle, silbergraue Koteletten und – das Schrägste überhaupt – einer dieser unsäglichen, überdimensionalen Glitzeranzüge, wie sie der King bei seinen späten Auftritten getragen hatte. Der Lehrer hatte die Mappe gerade wieder verstaut, als Karls Geschnatter im Gang die Rückkehr seiner Mitreisenden ankündigte.
Den Rest der Fahrt schaute der Lehrer auf das Schneetreiben vor dem Fenster oder döste vor sich hin. Zumindest so weit das möglich war. Der kleine Fettsack schwätzte die ganze Zeit über auf den anderen Mitreisenden, scheinbar einen Geschäftsmann, ein. Eigentlich hätte der Mann ihm Leid tun müssen, aber mit so etwas Profanen wollte er seinen Geist nicht belasten. Er war voll und ganz auf seinen Auftrag fokussiert. Dann kündigte der knarrende Lautsprecher endlich an, dass der Hamburger Hauptbahnhof in wenigen Minuten erreicht würde. Gott sei Dank.
Als sich die Hydrauliktür mit dem typischen, dumpfen Zischlaut öffnete, wartete Karl bereits mit Joshuas Reisetasche im Gang.
Joshua wuchtete gerade schwungvoll den Monsterkoffer von der Ablage, als sich auch der Lehrer erhob. Die rechte untere Kofferecke traf ihn genau an der linken Schläfe, ohne dass es Joshua aufgefallen wäre. Der Lehrer verharrte einen Augenblick in seiner Position und sackte dann in seinen Sitz zurück.
Joshua hatte das Abteil bereits verlassen. Eisig schlug ihm die Hamburger Nachtluft entgegen, als er gefolgt von Karl auf den Bahnsteig trat.
»Vielen Dank für den Kaffee und das tolle Gespräch«, versuchte Karl den anfahrenden Zug zu übertönen, der sich auf den Weg zur Endstation Hamburg–Altona machte.
»Gerne, so ist die Zeit doch für uns beide schneller rumgegangen«, log Joshua.
Sie schüttelten sich noch einmal die Hand und verabschiedeten sich voneinander. Karl wollte noch schnell zu McDonalds und dann in sein Hotel. Joshua hatte vor, sich vom Bahnhofsvorplatz aus im Taxi auf den Heimweg zu machen.
Am Geländer des Rundgangs, eine Etage oberhalb der Gleise, standen zwei arabisch aussehende Männer, die in ihren Kreisen als Mehmet 1 und Mehmet 2 bekannt waren.
Mehmet 1 versuchte, möglichst unauffällig in sein Handy zu zischen: »Ey Halbaner, du kannst deinem Vater ausrichten, jetzt wird’s voll ernst. Der Lehrer is gerade angekommen.«
Dann legte er auf und blickte wieder in Richtung Joshua.
»Das is also der Lehrer«, begann er. »Vierzigtausend Morde zu dreißig Euro.«
»Andersrum.«
»Wie jetzt, der Lehrer is andersrum?«
»Die Zahlen andersrum, Idiot. Dreißig Morde je vierzigtausend Euro.«
»Selber Idiot. Warst du nich Schule, oder was? Vierzig mal dreißig oder dreißig mal vierzig is das Gleiche.«
»Stimmt.«
»Krass.«
»Ja, voll krass, Digger.«
Karl musste schmunzeln, als er daran dachte, dass Joshua noch nicht einmal gemerkt hatte, dass er den Sack in der Bahn ausgeknockt hatte. Noch komischer war, dass das dem Kerl vermutlich das Leben gerettet hatte, denn Karl hatte Hunger, großen Hunger, und den würde er natürlich nicht bei McDonalds stillen. Er verstaute den Monsterkoffer in einem Gepäckschrank, nachdem er einige Utensilien und einen kleinen Rucksack entnommen hatte. Naja, dachte er, wenn schon nicht den mürrischen Anzugträger, dann vielleicht einen der Araber, die uns beobachtet haben? Oder gar beide? Ihm lief ein wohliger Schauer über den Rücken. Ja, überlegte er, die wären nach meinem Geschmack. Er machte sich auf den Weg.
Als der Lehrer kurz hinter dem Hauptbahnhof wieder zu sich kam, bebte er vor Wut. So etwas war ihm noch nie passiert! Schade, dass ich den Kerl wohl nie wiedersehen werde, ärgerte er sich. Seine Laune erreichte den endgültigen Tiefpunkt, als er in Hamburg-Altona aufgrund des Wetters und eines Streiks der Hamburger Taxifahrer keinen Wagen fand, der ihn zurück nach St. Georg hätte bringen könne. Da die nächsten S- und U-Bahnen auch erst frühestens in drei Stunden den Betrieb aufnehmen würden, entschied er sich, den Weg zu Fuß in Angriff zu nehmen. Genau wie Karl suchte er sich ein Schließfach und verließ zehn Minuten später mit zwei Glock-Halbautomatik-Waffen, sechzig Schuss Munition, der zusammengerollten Infomappe und viel, sehr viel Wut im Bauch den Bahnhof Altona in Richtung Innenstadt.
Als Joshua im leichten Schneetreiben auf den Bahnhofvorplatz trat, erwartete ihn ein trostloser Anblick. Kein Taxi weit und breit. Er erinnerte sich noch vage an eine Streikandrohung der Hamburger Taxifahrer. Hm, überlegte er, die erste S-Bahn Richtung Pinneberg ginge in zweieinhalb Stunden. Ach, was soll’s, grinste Joshua vor sich hin, ich war schon lange nicht mehr zu so einer Uhrzeit in St. Georg unterwegs. Hier gab es genug Kneipen, Bars, ja Spelunken, die rund um die Uhr geöffnet waren. Joshua überquerte die Kirchenallee an der sich die altehrwürdigen Hamburger Hotels mit gelassener Erhabenheit aufreihten und bog schließlich in den Steindamm ein.
Mal schauen, in welcher ruhigen Kneipe ich mir die Wartezeit mit dem einen oder anderen gemütlichen Bier versüße, pfiff Joshua im Angesicht der Lichter von St. Georg vor sich hin.
Wobei ihm klar war, dass ruhig und St. Georg nicht so recht zusammenpassten. In diesem schillerndsten und ambivalentesten aller Hamburger Stadtteile war es niemals ruhig. Yuppie-Partys, die Schwulen- und Lesbenszene, Drogenhandel und Prostitution, bildeten in St. Georg ein spannendes, aber auch gefährliches Konzentrat. Joshua erinnerte sich nur zu gut an das erstaunte Gesicht eines Geschäftspartners, als er ihm in St. Georg eins der berühmten Waffenverbotsschilder gezeigt hatte. Vor einem gelben Hintergrund wurde darauf hingewiesen, dass das Mitführen von Schusswaffen, Schlagstöcken, Messern und Reizgas in St. Georg polizeilich untersagt war. So etwas gab es nur hier und in St. Pauli und zwar aus gutem Grund. Na, was soll’s, dachte Joshua, als er sich von einer schreiend grünen Leuchtreklame in eine Sportbar auf dem Steindamm locken lies. Ich suche ja keinen Streit, sondern nur einen warmen Platz und ein kühles Bier.