Читать книгу Durch die Nacht - Martin Bischoff - Страница 6
ОглавлениеZWEI
And the waitress is practicing politics
As the businessman slowly gets stoned
Yes, they’re sharing a drink, they call loneliness
But it’s better than drinkin‘ alone
BILLY JOEL
Als Mehmet 1 und Mehmet 2 den Hauptbahnhof durch den Ausgang Süd verließen, folgte ihnen Karl mit nur zehn Metern Abstand. Sie gingen links herum, dann am Hotel Atlantic mit seinem Globus auf dem Dach vorbei. Bei Udo brannte noch Licht, deutete Mehmet 2 nach oben. Dann überquerten sie die Straße und begaben sich ans Alsterufer. Die zugefrorene Binnenalster bot einen einmaligen Anblick.
»Au«, schrie Mehmet 2 auf, als ihn die Wespe in den Nacken stach. Jetzt leben die Viecher sogar noch im Winter, dachte er, bevor er zusammenbrach. Mehmet 1 betrachtete gerade die weihnachtlichen Lichter, die vom Jungfernstieg herüberleuchteten und sich in bunten Kaskaden auf dem Eis der Alster brachen, als sich der Körper von Mehmet 2 knirschend in den Schnee grub. Mehmet 1 riss überrascht die Augen auf, aber nur einen Moment lang, dann hatte auch ihn die Wespe gestochen.
Durch den Raum voll Rauch und Stimmen sah ich zu dir hin. Und dein Blick hielt meinen fest und fühlte wer ich bin; erinnerte sich Joshua an die frühere Diebels-Alt-Werbung, als er in die rauchgeschwängerte Sportbar am oberen Ende des Steindamms trat.
Eine Gruppe englischer Touristen nahm den kompletten Tresen in Beschlag. Joshua vermutete eine Fußballmannschaft, da es sich ausnahmslos um Männer zwischen zwanzig und dreißig handelte. Engländer, so wusste Joshua, besuchten häufig Hamburg, um die Verlockungen der Reeperbahn und deutsches Bier zu genießen. Vermutlich will diese Combo Silvester in Hamburg feiern und dann am zweiten Januar zurück nach England fliegen, wenn alle ihren Rausch ausgeschlafen haben, dachte er gerade, als er am Ende des Tresens doch noch ein freies Plätzchen entdeckte. Joshua zwängte sich an den Engländern vorbei und schwang sich am Ende des langen Tresens auf einen der letzten beiden freien Barhocker. Die Sportbar bestand eigentlich nur aus einem zehn Meter langen Tresen, über dem sechs Flachbildschirme Sport aus aller Welt zeigten, und einer Reihe Tische, die entlang einer ähnlich langen Sitzbank positioniert waren. Joshua winkte der Wirtin freundlich zu und bestellt ein großes Duckstein.
»Gute Wahl«, lachte die Wirtin und begab sich zum Zapfhahn. Die Mittvierzigerin war ihm mit ihrer herzlichen Art sofort sympathisch. Zu ihrer schlichten weißen Bluse trug sie eine klassische Wirtschürze und flache Turnschuhe. Ihr dunkles Haar war etwa schulterlang. Die schummrige Beleuchtung machte es unmöglich zu erkennen, ob es schwarz oder dunkelbraun war. Sie war ein wenig stämmig, aber das passte irgendwie gut zu ihr. Alles in allem eine gestandene Frau, eine gestandene Wirtin.
Joshua ließ seinen Blick an den Tischen entlangwandern und stellte mit einem kleinen Lächeln fest, dass die anderen Gäste in ihrer Gesamtheit dieses ganz eigene St. Georg-Gemisch darstellten. Das ist schon fast idealtypisch im Sinne von Max Weber, dachte Joshua bei sich. Die ersten beiden Tische hatte eine Gruppe schwarzafrikanischer Asylanten in Beschlag genommen. Sie diskutierten in einem Joshua unbekannten Dialekt vermutlich darüber, wie kompliziert doch das Leben in Deutschland ist. Die beiden Männer am nächsten Tisch gehörten eindeutig der Regenbogenfraktion an, die ihr Zentrum in St. Georg hat und waren wahrscheinlich unterwegs zu einem der Schwulen-Clubs des Viertels hier hängengeblieben. Viel Leder, viel Schmuck, viele Küsse; eindeutig, dachte Joshua. Die nächsten beiden Tische beheimateten das alte Jugoslawien: Serben, Kroaten und Kosovo-Albaner hatten verschworen die Köpfe zusammengesteckt. Hier gab es keine ethnischen Konflikte, denn die gemeinsamen kriminellen Aktivitäten einten die Völker Südost-Europas in St. Georg. Die beiden obligatorischen alten Männer folgten am nächsten Tisch. Und wie in jeder anderen Bar und zu jeder anderen Tageszeit lamentierten sie darüber, dass früher alles besser war: Früher, als ab der unteren Brennerstraße noch nicht jede zweite Bar oder Kneipe mit einer bunten Regenbogenfahne geschmückt war. Früher, als die Mieten auf der Langen Reihe noch erschwinglich waren und die Straße noch nicht zur Szene-Ecke für Yuppies mutiert war, und natürlich waren auch früher die Huren am Steindamm, am Hansaplatz und den verbindenden Quer- und Parallelstraßen hübscher gewesen.
Als Joshuas Augen weiterwanderten, sah er, dass am letzten Tisch, kurz vor der Treppe, die zu den Toiletten in den Keller führte, zwei dieser besonderen Streetworkerinnen saßen, um sich aufzuwärmen. Die ältere der beiden mochte um die vierzig sein und hatte sich eigentlich ganz gut gehalten. Nur der stumpfe Glanz ihrer Augen und ein harter Zug um ihren Mund verrieten, dass sie in ihrem Leben nicht nur eine enttäuschte Hoffnung hatte wegstecken müssen. Die andere, vielleicht halb so alte, hatte ein wirklich hübsches Gesicht, wobei ihr Körper kindlich, ja, fast unterentwickelt aussah. Joshua wusste, dass dies ein Zeichen für den jahrelangen Konsum harter Drogen war und er wusste auch, dass der jetzt noch so offenkundige Altersunterschied zwischen den beiden Frauen in einigen Jahren verwischt sein würde.
Eine Bewegung direkt an seiner Seite riss Joshua aus seinen schwermütigen Gedanken. Neben ihm stand die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte.
Ihre schwarze Haut schimmerte sogar im fahlen Licht der Bar und ihre perfekten Kurven zeichneten sich unter einem knielangen, dunkelroten Samtkleid ab, das sich weich um ihre vollen Brüste schmiegte. Für ihre umwerfende Figur hatte Joshua jedoch im erst Moment kein Auge, weil ihn das Gesicht der Schönen ganz in seinen Bann geschlagen hatte. Sie hatte ihr langes schwarzes Haar zu einem strengen Pferdeschwanz nach hinten gebunden, sodass nichts von ihren zarten, fast europäischen Zügen ablenkte. Wie eine Äthiopierin, durchzuckte es Joshua und er meinte, sich zu erinnern, im Geschichtsunterricht gelernt zu haben, dass im Römischen Reich die Äthiopier als schönstes aller Völker gegolten hatten. Komisch, dachte er noch, an was man sich aus dem Unterricht so erinnert, als sich ihr schöner Mund zu einem strahlenden Lächeln öffnete und sie ihn mit einer etwas rauchigen, wohltönenden Stimme fragte, ob der Hocker neben ihm noch frei sei.
Es dauerte einen Moment, bis sich Joshua im Hier und Jetzt gesammelt hatte. Mit einer kleinen Verzögerung und einem etwas dümmlichen Gesichtsausdruck deutete er auf den Hocker: »Bitte«.
»Danke«, lächelte sie, als sie Platz nahm, ihre schlanken Beine übereinanderschlug und eine Schachtel Philips Morris aus ihrer Handtasche hervorkramte. Bevor Joshua ihr Feuer anbieten konnte, hatte sie sich schon eine Zigarette angezündet und blies den Rauch nachdenklich in Richtung Decke. Joshua überlegte fieberhaft, wie er mit der Schönheit ins Gespräch kommen konnte, als diese sich ihm immer noch lächelnd zuwandte, ihn einen Augenblick mit ihren braunen Mandelaugen studierte und schließlich sagte: »So, Sie sind also der Lehrer. Ich hätte Sie mir älter vorgestellt, so lange wie Sie schon im Geschäft sind.«
Der Halbaner, der gerade mal einsachtundfünfzig kleine, schmächtige Sohn des Albaners, stürmte in das Büro seines Vaters. »Es geht los, Vater«, sprudelte es aus ihm heraus. »Mehmet 1 und Mehmet 2 ... sie sind beide tot.«
Der Albaner blickte von seinem Schreibtisch auf und betrachtete seinen Sohn einen Moment: »Setz dich und dann noch mal der Reihe nach, Sohn.«
Der junge Mann nahm Platz, versuchte sich zu beruhigen und sagte: »Vater, der Lehrer ist da und ... und ... er ist wahnsinnig, voll krass irre.«
»Der Reihe nach, der Reihe nach, Sohn.« Der Halbaner atmete tief durch und setzte erneut an: »Als sich Mehmet 1 und Mehmet 2 nicht mehr gemeldet haben, bin ich mit Mehmet 3 und 4 ihre Runde abgegangen. Wir haben sie an der Alster gefunden. Und das war echt megakrass. Sie lagen auf dem Rücken, ausgebreitet wie Schneeengel. Alles war voller Blut und«, hier stockte der Halbaner kurz und schloss die Augen, »und im Mund von Mehmet 2 steckte der abgeschnittene Schwanz von Mehmet 1 und umgekehrt. Und ... und das krasseste überhaupt ... der Lehrer hat ihre Eier mitgenommen.«
Einen Moment herrschte Schweigen, dann räusperte sich der Albaner: »Sohn, woher kennst du den Schwanz von Mehmet 1?«
Erneutes Schweigen, dann ein kleinlautes: »Sag ich nicht.« Der Albaner schüttelte den Kopf langsam, während er sein Gesicht in den Händen vergrub. »Geh jetzt, Sohn, ich muss nachdenken.«
Als der Albaner allein war, erhob er sich und ging langsam auf ein Fenster zu. Von hier oben, aus dem obersten Stockwerk des Hotels Graf Zeppelin hatte er einen fantastischen Blick auf die Straßen St. Georgs, auf sein Reich. Nun denn, dachte er, dann hat mein Spitzel in den Reihen Don Georgs also recht behalten: Don Georg hat einen Auftragskiller auf mich angesetzt.
Zwar passte die Beschreibung des Lehrers als extrem auf seine Zielperson fokussiert, jedes überflüssige Blutbad vermeidend und fast ausschließlich mit Schusswaffen agierend nicht zu dem Gemetzel, aber was machte das schon?
Der Albaner streckte sich und ging zu seinem Schreibtisch zurück, schnappte sich das Telefon und rief seine Jungs zusammen. Als er auflegte, stand sein Entschluss fest. Dieser Kiez verträgt nur einen König. Lass es uns heute Nacht klären, ein für alle Mal, Don Georg, dachte der Albaner grimmig.
»Der wer?« fragte Joshua irritiert nach.
»Der Lehrer«, wiederholte sie ruhig.
»Nun, um Ihnen einen Gefallen zu tun, wäre ich sehr gerne der Lehrer, aber, um ehrlich zu sein, bin ich Geschäftsführer eines Unternehmens in der Chemiebranche. Mein Name ist Joshua Frankel und ich bin hier gestrandet, weil die S-Bahnen noch nicht fahren und kein Taxi zu kriegen ist, sorry.«
»Natürlich, wer denn auch sonst?«, schmunzelte sie.
Joshua runzelte die Stirn. »Ich weiß zwar nicht, warum sie mir nicht glauben, aber noch mal: ich bin kein Lehrer, war kein Lehrer und werde wohl auch nie Lehrer sein.«
»Ist ja gut. Ich hege keine Sympathien für den Albaner. Machen Sie mit ihm, was sie wollen. Mich interessiert nur Don Georg.« Joshua verdrehte unbemerkt die Augen. So schön und so gaga, ging es ihm durch den Kopf, als er antwortete: »Ich weiß nicht, ob es Sie überrascht, aber ich kenne keinen Albaner und vor allen Dingen auch keinen Don Georg.«
Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und schaute ihn weiter schmunzelnd an.
Plötzlich hatte Joshua eine Idee. Er kramte kurz in seiner Reisetasche und knallte dann eine Unternehmensbroschüre vor ihr auf den Tresen. »Bitteschön, Sie finden mich gleich auf Seite 2.«
Lachner Galvanisierungswerke GmbH, las sie auf dem Cover und tatsächlich fand sie auf Seite 2 sein Foto mit einer kurzen Vita. Ziemlich viel Aufwand für eine Tarnung, ging es ihr durch den Kopf, als sie die Internetadresse der Firma entdeckte. Und vor allen Dingen, warum verriet er ihr seine Tarnung? Merkwürdig. Mehr als merkwürdig sogar.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, lächelte sie Joshua an, »bin sofort wieder da.«
Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und verschwand die Kellertreppe zu den Toiletten hinunter. Auf der Damentoilette aktivierte sie die Internet-App ihres Smartphones und ging auf die Homepage der Lachner Werke. Schnell fand sie im Archiv einen Ordner mit Fotos von Firmenveranstaltungen der letzten Jahre. Ihr Tresennachbar war bei allen Veranstaltungen dabei gewesen.
Scheiße, er ist nicht der Lehrer, wurde ihr schlagartig klar. Joshua hatte sich gerade eine Camel angezündet, als die unbekannte Schöne wieder am Treppenabsatz auftauchte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, als sie zu ihm trat: »Es ist mir schrecklich peinlich, aber ich habe sie tatsächlich verwechselt.«
»Kein Problem«, lächelte Joshua zurück.
»Antoinette Laveau«, streckte sie ihm ihre zierliche Hand entgegen. »Immer noch Joshua Frankel«, erwiderte er lakonisch und schüttelte ihre angenehm kühle Hand.
Die nächste dreiviertel Stunde verging wie im Fluge. Antoinette bestellte sich einen Tequila Sunrise und noch ein Duckstein für Joshua. Sie bestand – wegen der blöden Verwechslung – darauf, ihn einzuladen und Joshua gab sich schließlich geschlagen.
Er erfuhr, dass sie aus Jamaika stammte, wo ihre Eltern zu den wenigen wohlhabenden Grundbesitzern gehörten. Diesem Umstand verdankten sie es auch, dass sie ihre Tochter auf ein Internat in der Schweiz hatten schicken können, was wiederum erklärte, warum Antoinette so gut deutsch sprach.
»Ich denke die ganze Zeit schon über ihren Familiennamen nach«, hakte Joshua nach. »Ich war vor Jahren mal in New Orleans und habe auf dem St. Louis Cemetery No. 1 das Grab der berühmten Voodoo-Queen Marie Laveau gesehen.« Antoinettes Lachen unterbrach ihn. »Zwei Dinge Herr Frankel. Zum einen nennen sie mich bitte Jamaika wie alle meine Freunde in Deutschland.«
»Wenn sie mich Joshua nennen, gerne. «
Sie nickte ihm kurz lächelnd zu, bevor sie fortfuhr. »Und ja, ich bin tatsächlich entfernt verwandt mit Marie Laveau.«
»Dann habe ich also quasi schon einmal am Grab deiner Ururgroßmutter gestanden«, lachte Joshua.
»Ja, wenn man so will«, lächelte sie zurück. Was für ein Lächeln. Hammer.
Sie hatte gerade erzählt, dass sie als Auslandskorrespondentin für eine amerikanische Fernsehgesellschaft arbeitete und dabei sei, für eine Serie über das Nachtleben in Deutschland zu recherchieren als Joshua merkte, dass er ein menschliches Bedürfnis nicht länger ignorieren konnte.
»Entschuldigst du mich mal eben?«
»Aber natürlich.« Wieder dieses Lächeln. Und der dazu passende Augenaufschlag.
Mit schnellen Schritten eilte er die Treppe hinunter. Jetzt, wo er wusste, dass sie doch nicht gaga war, wollte er dieses Traumwesen auf keinen Fall lange warten lassen. Zum Glück war das Herrenklo leicht zu finden und sogar halbwegs sauber, obwohl sich Joshua ein wenig über die Spiegelreihe über den Pissbecken wunderte. Er fummelte an seiner Anzughose herum. Endlich hatte er seinen Freund befreit und begann, sein Geschäft zu verrichten, als sein Blick wieder nach oben zu den Spiegeln wanderte.
Entsetzt schrie Joshua auf. Die Reflexion im Spiegel ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken und er bemerkte erst gar nicht, dass er sich einen satten Strahl lang auf den linken Schuh schiffte.
Im Eingang der Herrentoilette lehnte eine dicke, alte Frau mit zerzaustem grauem Haar. Mein Gott, aus welchem Albtraum stammt denn die, dacht Joshua. Ihr aufgedunsenes Gesicht war ungesund talgig weiß oder stellenweise mit roten Pusteln überwuchert. Die Lumpen – Kleidung konnte man das nicht nennen – die sie trug, schienen nur gerade so von Schmutz und Dreck zusammengehalten zu werden. Oh Gott, jetzt kommt sie auch noch rein, nahm Joshua entsetzt aus dem Augenwinkel war.
»Für’n sehner süttel ich ihn dir aus«, nuschelte sie beim Näherkommen.
Als sie den Mund dabei zu einem Lächeln öffnete, wusste Joshua auch warum sie so nuschelte.
Ein Zahn, sie hat tatsächlich nur einen einzigen Zahn im Mund, den linken unteren Eckzahn, ansonsten gähnende Leere. Das sieht aus, als würde man einer Kuh ins Arschloch gucken, durchzuckte es ihn. Schneller pinkeln, ich muss schneller pinkeln, sie ist gleich da! Und wenn ich ihn einfach einpacke? Klar Kumpel, um dann mit vollgepisstem Schritt neben Jamaika zu sitzen, ist das dein Plan?
Wilde Gedankensplitter schossen ihm durchs Hirn, als ihn die Alte erreichte. Endlich, Joshua ließ die Boxershorts gerade über seinen Penis gleiten, als sie ihm von Hinten in den Schritt griff.
»Für’n fünsiger blas ich dir auch einen, Süser.«
Joshua hatte sich automatisch auf die Zehnspitzen hochgedrückt, aber das half ihm herzlich wenig.
»Na, komm son, keine lutst dir deinen Korken so wie ich.«
Mit Sicherheit nicht und lutschen trifft es ja wohl voll und ganz, schüttelte es Joshua. Er drückte ihre Hand mit den vor Dreck starrenden Fingernägeln aus seinem Schritt, wirbelte herum und stürzte an ihr vorbei aus der Toilette. Unterschwellig nahm er dabei ihren Gestank nach Pisse, Schweiß und abgestandenem Fusel wahr.
»He, must ne alte Lady doch nicht subsen. Hättest doch gleich sagen können, dass du swul bist!«, hörte er sie hinter sich keifen, als er drei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinaufjagte.
»Du siehst aus, als ob dir der Leibhaftige begegnet wäre«, begrüße ihn Jamaika, als er seinen Hocker erreichte.
»Der war‘s nicht, aber ich glaube, der wäre bei dieser Begegnung auch ganz schön blass um die Nase geworden«, antwortete er mit noch ganz wackeligen Knien. Die Wirtin grinste zu ihm rüber. »Na, hat dich die Zahnfee erschreckt?« Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause und zwinkerte ihm zu. »Die ist harmlos, hat bei uns einen Kellerraum angemietet, wo sie wohnt und ihre Kundschaft bedient.«
Kundschaft?, staunte Joshua, so viele Perverse kann es doch in St. Georg, in Hamburg, ach Quatsch, auf der Welt nicht geben, als dass die von ihren Einnahmen leben könnte. Joshua zündete sich mit immer noch etwas zittrigen Fingern eine Camel an und bestellte sich zur Beruhigung einen Ouzo.
Nachdem er etwas lockerer geworden war, bemerkte er, dass Jamaika sanft lächelnd nach unten deutete. Ihrem Blick folgend, erkannte Joshua, dass sein Hosenstall sperrangelweit offen stand. Licht aus, Joshua leuchtet, erinnerte er sich an einen blöden Spruch aus Kindertagen, als er spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Betreten murmelte er eine Entschuldigung und zog den Reißverschluss hoch.
Unbemerkt von Jamaika hatte ein weiterer Kosovo-Albaner in Joshuas Abwesenheit die Sportbar betreten. Zielstrebig war er an den Tisch der Osteuropäer getreten und hatte kurz, aber heftig auf sie eingeredet. Dann war er wieder in der Nacht verschwunden.
Joshua überlegte gerade, wie er nach dieser peinlichen Pause den Faden für das Gespräch mit Jamaika wieder aufnehmen konnte, als er bemerkte, dass sich die Osteuropäer, die vorhin noch am Tisch gesessen hatten, um ihn scharrten. Ein grobschlächtiger Kerl mit einer angegrauten braunen Igelfrisur und einer Nase, der man ansah, dass sie schon mehrmals gebrochen war, sprach ihn schließlich an: »Na, wie war’s denn heute in der Schule, Herr Lehrer.«
Joshua schaute ihn vollkommen entgeistert an. Er fragte sich gerade, ob die Irrenanstalt in Hamburg-Ochsenzoll heute wohl Tag der offenen Tür hatte, als sein Gegenüber fortfuhr:
»Komm mit, der Albaner will dich sehen.«
Jetzt reichte es Joshua. Jamaikas warnenden Tritt ignorierend, antwortete er und wurde dabei langsam immer lauter:
»Prima, dass ihr mich daran erinnert habt, dass ich der Lehrer bin, ich hatte das nämlich schon vollkommen vergessen.«
Die beiden alten Männer unterbrachen ihr Gespräch und schauten zu der Gruppe hinüber.
»Und dann erst der Albaner, na? Ha, ich werd verrückt«, legte Joshua nach.
»Ey, keine krummen Touren, Mann!«, zischte sein Gegenüber und schlug die Jacke ein wenig zurück, sodass Joshua den Kolben einer Schusswaffe im Schulterhalfter erkennen konnte.
»Ah, hat der Albaner dir die Waffe als Geschenk für mich mitgegeben oder war das etwa der andere Schwerenöter, Don Georg, das alte Haus?«, steigerte sich Joshua weiter in die ganze Angelegenheit hinein und ignorierte den nun deutlich festeren Tritt von Jamaika.
Mittlerweile hatte er die Aufmerksamkeit der ganzen Bar auf sich gezogen. Selbst das schwule Pärchen, die beiden Huren und die Asylanten starrten gebannt zum Tresen. Die Osteuropäer waren ständig nervöser geworden und warfen unsichere Blicke in die Runde.
Die Wirtin klärte die Situation schließlich, als sie von hinter der Bar an den Tresen trat und die Osteuropäer anfuhr: »Hey, kein Stress in meiner Kneipe! Klärt das meinetwegen draußen, aber nicht hier, verstanden?«
Mehmet 5, so hieß der grobschlächtige Kerl mit der lädierten Nase, bebte vor Wut, kam aber zu der Einsicht, dass ein Mord vor so vielen Zeugen eine schlechte Idee wäre. Er knallte der Wirtin fünfzig Euro auf den Tresen, murmelte: »Stimmt so«, und marschierte mit dem Rest seiner Truppe im Schlepptau zur Tür. Irgendwann musste der Kerl ja rauskommen! Wut kochte in seinem Bauch, als er in die bitterkalte Nacht trat.
Als Joshua seinen Blick wieder Jamaika zuwandte, schaute sie ihn traurig den Kopf schüttelnd an. »Dir ist gar nicht bewusst, dass du dich gerade um Kopf und Kragen geredet hast, oder?«
»Wieso das denn. Die Masche ist aus einem alten Cary Grant- Film, North by Northwest. Wenn du bedroht wirst, musst du Aufmerksamkeit erregen«, grinste Joshua sie an.
Sie blickte ihn vollkommen perplex an. Entweder der Kerl ist unglaublich abgezockt oder aber er begreift noch nicht einmal im Ansatz, in welcher Gefahr er schwebt, schoss es Jamaika durch den Kopf.
»Okay«, begann sie, »hör mir jetzt bitte zu.« Als er sie unterbrechen wollte, schüttelte sie den Kopf und legt ihm einen Finger auf den Mund. »Ich hab jetzt keine Zeit für lange Erklärungen. Nur so viel: Diese Typen halten dich für einen Auftragskiller und halb St. Georg ist auf den Beinen, um dich umzulegen. Ich versuche jetzt, die fünf Kerle abzulenken, damit ...« Diesmal unterbrach er sie: »Einen Auftragskiller? Gerade sollte ich doch noch Lehrer sein. Ist das die St. Georg-Version von Was bin ich? Heiteres Beruferaten in der Sportbar?«
»Hör mir verdammt noch mal zu. Der Lehrer ist der Auftragskiller, Joshua. Und von wegen Was bin ich ... eher Scottland Yard und du bist Mr. X, den alle jagen.«
»Und du meinst wirklich, die warten draußen auf mich?«
»Selbstverständlich, was denkst du denn!«, zischte sie ihn an. »Also, ich versuch die Kerle jetzt zu beschäftigen, damit du verschwinden kannst, aber du musst schnell sein, verstanden?«
»Hoffentlich geht das mit meiner Reisetasche«, warf er ein.
»Scheiß auf die Reisetasche«, fauchte Jamaika, packte die Tasche und wuchtete sie auf den Tresen. »Tina, kannst du die für mich verwahren?«
»Klar, Jamaika«, antwortete die Wirtin und verstaute die Tasche unter dem Tresen.
»Aber ...«, wollte Joshua gerade ansetzen, als er ihren Finger erneut auf seinen Lippen spürte. »Joshua, entweder wir holen die Tasche nachher ab oder du befindest dich auf einer Reise, auf der du kein Gepäck mehr brauchst.«
»Aber warum rufen wir nicht die Polizei?«, fragte Joshua.
»Weil die fünf mit Verstärkung hier sind und dich mit Gewalt rausholen, bevor die Polizei hier ist – falls die Polizei dir überhaupt glaubt und dich nicht für einen Spinner oder Spaßvogel hält.«
»Also, los jetzt!«, schaltete sich die Wirtin unwirsch ein.
»Hier.« Jamaika drückte Joshua einen Zettel in die Hand.
»Wenn die Luft rein ist, stehe ich in einer dreiviertel Stunde vor der Normannen-Schenke. Die Adresse steht auf dem Zettel. Wenn ich nicht da bin, musst du versuchen, dich zum Bahnhof durchzuschlagen, sobald die Bahnen wieder fahren.«
»Jamaika, bitte«, drängte Tina zum Aufbruch.
»Wenn du den Tumult draußen hörst, kommst du raus und rennst den Steindamm runter, auf gar keinen Fall rauf, da würdest du ihnen genau in die Arme laufen. Renn, so schnell du kannst und versteck dich in einem Hinterhof, irgendwo unter einer Mülltonne, oder besser in einer Mülltonne.« Jamaika schaute ihn einen Moment lang an, bewegte sich vor und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Viel Glück!«
»Dir auch«, antwortete Joshua verdattert. Jamaika war aufgestanden und flüsterte einem der Engländer etwas ins Ohr. Dieser riss die Augen auf und winkte aufgeregt seine Kumpels zusammen. Knappe zehn Sekunden später schob sich die Gruppe durch den Ausgang.
Joshua saß vollkommen konsterniert auf seinem Hocker. In was für einen Albtraum war er hier hineingeraten? Das konnte doch alles gar nicht wahr sein! Vor gerade mal zehn Minuten hatte er hier noch lachend mit Jamaika am Tresen gesessen. Dann war er zur Toilette gegangen und irgendwie war die Welt aus den Fugen geraten. Unterschwellig nahm er von draußen die Geräusche einer Schlägerei wahr, als Tina ihn mit einem: »Los jetzt!«, aus seiner Apathie riss.
Jamaika, warf ihm einen langen Blick zu und fragte: »Bereit?« Joshua zuckte die Achseln: »So bereit, wie man sein kann«.
Sie nickte ihm zu, schob ihn durch die Kneipentür, und Joshua wandte sich ohne zögern nach rechts. Er begann zu laufen, erst noch zögerlich, dann etwas schneller und schließlich, ja schließlich rannte er durch die Nacht.