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Virale Gesellschaft

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Covid-19? Ein Zufall, denn ebenso gut hätten MERS, SARS oder eine Spielart der Vogelgrippe die Pandemie auslösen können. Sehr viel erhellender ist die Einsicht, dass wir längst in einer viralen Gesellschaft leben, man sich also nicht wundern muss, einer pandemischen Heimsuchung gegenüberzustehen. Schaut man nur ein paar Jahre zurück, ist verblüffend, mit welcher Arglosigkeit Begriffe wie ›Viralität‹ oder ›Growth Hacking‹ genutzt wurden, ja, dass ein Schlachtruf wie Going viral! als Erfolgsversprechen aufgefasst werden konnte. Es liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die vernetzte Gesellschaft geradezu vorbereitet ist für einen pandemischen Ausbruch. Insofern das Virus den Trajektorien der Globalisierung folgt, könnte man es als einen dunklen Gesellschaftsspiegel auffassen. Unter diesem Blickwinkel ließe sich auch das Aids-Virus als Vorbote der Pandemie lesen. Hier war der Patient Null7 ein frankokanadischer Steward, der seine erotischen Eroberungen in verschiedenen Städten dieser Welt in einem Leporello aufgezeichnet und damit den Epidemiologen die Kontaktverfolgung und die Identifikation des Virus ermöglicht hatte. Lief die Spurensuche in den 80er-Jahren in einem medizinischen Darkroom ab, können wir uns heute glücklich schätzen, dass die Pandemie zu einem Zeitpunkt ausgebrochen ist, da Gensequenzierer eine Viren-Entzifferung in Echtzeit ermöglichen. Der Ausbruch selbst dürfte jedoch keineswegs überraschen. Schon seit geraumer Zeit hat sich der Forschungszweig der Predictive Analytics etabliert, der über die Analyse von Verkehrsrouten und Social-Media-Kanälen Krankheitsausbrüche (aber auch andere Trends) vorherzusagen bestrebt ist. Folglich stellt sich die Frage: Was hat die vernetzte Welt mit der viralen Gesellschaft zu tun? Inwiefern stehen wir hier einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel unserer Ökonomie, ja, unseres Denkens gegenüber? Um den Zusammenhang von Netzwerkgesellschaft und Viralität zu verstehen, muss man an ihre Anfänge zurückgehen – vor allem aber muss man bereit sein, das tradierte Moderne-Narrativ zu revidieren. War dieses in der Absetzbewegung der Postmoderne eine alte Bekannte, so bietet sich uns, unter einem anderen Blickpunkt gelesen, ein neues, anderes Bild. In meinem Denken liegt die Urszene der modernen Gesellschaft in der Formation jener Mönche, die sich im Jahr 1746 auf einem Feld im Norden Frankreichs versammelten, einander mit Eisendraht verkabelten und dann, auf die Berührung einer kleinen Antenne hin, in konvulsivische Zuckungen ausbrachen. Der Sinn dieser merkwürdigen Szenerie ist leicht erklärt: Weil man mit der Leidener Flasche, dem Kondensator, Elektrizität hatte speichern können, war die leitende Frage, wie schnell sich dieses elektrische Fluidum durch den Raum bewegen würde. Strukturell betrachtet enthüllt die Versuchsanordnung das Wesen der modernen Massengesellschaft: Hier kann der Einzelne, der als Spiritus Rector die Antenne berührt, dann aber zwangsläufig eingemeindet wird, nicht mehr als autonomes Subjekt begriffen, sondern muss als Einer-im-andern, als Dividuum verstanden werden. Bilden die verkabelten Mönche als Humanprozessor avant la lettre den Prototyp der vernetzten Gesellschaft, lässt sich die Formierung des Nationalstaats und seine Entgrenzung im Kolonialismus als eine Materialisierung dieses entgrenzten Gesellschaftstyps auffassen – ein Gedanke, der sich im Begriff der ›Ersten Globalisierung‹ niedergeschlagen hat und in Beziehung zum Ausbruch der Spanischen Grippe gesetzt worden ist. Gilt zu dieser Zeit die Elektrizität als conditio sine qua non der Weltbeherrschung (wie Lenin gesagt hat: »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung«), könnte man von einem fortschreitenden Deterritorialisierungsprozess sprechen: dem Versuch, die Entfernung der Welt zu entfernen. Dies entspricht der Boole’schen Logik, die sich mit der Ausarbeitung der binären Algebra von jeglichem Weltbezug löst. Kein Wunder also, dass sich die ihr zugrunde liegende Formel, das x = xn, als Inbegriff der Viralität deuten lässt. Freilich: Booles Denken war seiner Zeit ein gutes Jahrhundert voraus und wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die Computerschaltkreise integriert. Dies geschah als Antwort auf die nukleare Kettenreaktion, bei der eine gleichsam unbegrenzte Energiemenge freigesetzt wird – ein Vorgang, den man als materielle Entsprechung der Boole’schen Proliferationsdrohung lesen kann. Der Zusammenhang von Kernspaltung und binärer Logik ist weit mehr als eine bloße Analogie. Im Zeichen der Atomkraft werden wir mit der Emergenz der modernen Netzwerkgesellschaft konfrontiert, und zwar als Versuch, der atomaren Proliferationsdrohung ein digitales Überlebenssystem entgegenzustellen. Dieser Zusammenhang wird deutlich, wenn man sich fragt, was bei einem Atombombenabwurf passiert. Im Umfeld der Abwurfstelle kommt es zu einer elektromagnetischen Entladung (EMP), einer Störung des Magnetfeldes, welche bewirkt, dass weder Motoren noch Telefonie nutzbar sind. Diese Störung wiederum kann dazu führen, dass die Kapitale eines Landes nicht weiß, dass sie gerade von einem Atombombenangriff überrascht worden ist. Um dies zu verhindern, verfiel man auf eine Logik, bei der die SOS-Botschaften – in Form eines symbolischen Fallouts – an alle erdenklichen Netzknoten gesendet werden sollten. Waren diese vital, schockten sie die Botschaft an alle erreichbaren Verbindungen weiter – in der Hoffnung, dass man auf diese Weise die Kapitale würde erreichen können. Diese Form der Versendung erforderte, dass man zum einen den Erfolg oder Misserfolg eines Kommunikationsversuchs festhalten musste – in Gestalt eines Versandprotokolls –, zum andern, dass man sich einer digitalen Codierung bediente (denn sie allein verhinderte, dass ein mehrfach kopiertes Signal im analogen Rauschen untergehen würde). Dies war die Geburtsstunde des Arpanets: als digitales Überlebenssystem.

Mit den frühen 70er Jahren erlebte diese militärische Ausrichtung eine grundlegende Umdeutung. In der Ära des Pop und der Bewusstseinsentgrenzung kam es, dem Geist der Zeit folgend, zu einer Privatisierung des Netzes: dem Ethernet. In diesem Sinn lässt sich der Beginn der Computerzeit am 1.1.1970 (die Unix-Zeit) als Geburtsdatum der Netzwerkgesellschaft auffassen. Der überwältigende Erfolg, welcher dem Ethernet in seiner weltweiten Fassung als Internet zuteilwurde, lässt die Widerstände in Vergessenheit treten, auf die Robert Metcalfe, sein Erfinder, selbst bei seinen computeraffinen Kollegen traf. Der Grund ihres Unbehagens: Man fürchtete, dass der vernetzte Kollege die Gelegenheit nutzen würde, um auf dem eigenen Schreibtisch zu wildern, sich die eigene Arbeit anzueignen etc. Definieren wir die conditio humana in der Netzwerkgesellschaft als Einer-im-andern (als Dividuum, das sich in der Mitteilung und der Kommunikation mit anderen erhält), ist es nicht verwunderlich, dass das solcherart vergesellschaftete Sein die Idiosynkrasie des Eigentumsdenkens evoziert: die Furcht vor dem Verlust oder dem Diebstahl der Identität. Zweifellos ist hier ein Tabu unseres kulturellen Selbstverständnisses berührt, jedoch erwies sich die Netzarchitektur als die überlegene gesellschaftliche Machtbatterie. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass die alte, zentralperspektivische Logik durch eine neue Peer-to-peer-Logik ersetzt wird. Ein frühes, wenngleich nicht ursächlich damit in Zusammenhang stehendes Beispiel dafür ist das Ende von Bretton Woods. Hier wird die Macht über die Geldzeichen den Finanzmärkten, genauer: den anonym agierenden Spekulanten überantwortet; andererseits kommt es zu einer graduellen Entmachtung des Nationalstaats. Haben wir uns daran gewöhnt, dies nur in Begriffen des Schwunds und des Verschwindens zu deuten (Zygmunt Baumans Flüchtige Moderne wäre ein Beispiel), wird übersehen, dass das Netz strukturell sehr viel resilienter ist als die klassische Top-down-Hierarchie. Der Grund ist ein mathematischer: Verknüpft man die Netzknoten miteinander, kommt es zu einem quadratischen Wachstum der Verbindungen.8 Haben fünf Netzknoten lediglich zehn Verbindungen, liegt die Zahl bei hundert Netzknoten bereits bei 4.450 Verbindungen, bei 20.000 Netzknoten (der Einwohnerzahl einer Kleinstadt) bei stattlichen 190 Millionen. Hier spätestens zeigt sich, dass ein solches Netz eine sehr viel größere Informationsdichte besitzt als jedes noch so mächtige Broadcast-Modell. Dass eine laterale Ordnung, die einen geradezu ans Anarchische grenzenden Hierarchiemangel aufweist, sich an die Stelle eines pyramidalen, streng geschichteten Zentralstaatsmodells setzen kann, bedeutet eine grundstürzende Veränderung des Machtparadigmas: von der Politik der Repräsentation hin zur Politik der Simulation (eine Zäsur, die uns im Folgenden als Leitmotiv begleiten wird). In jedem Fall aber lässt sich die Netzwerkgesellschaft, welche Raum, Zeit und Materialität in die Postmaterialität transzendiert, nicht mehr in klassischen Begriffen verstehen. Die Losung der neuen Ordnung lautet: Anything, Anytime, Anywhere. Etwas expliziter und fasslicher formuliert: Was immer elektrifiziert werden kann, kann digitalisiert werden; und weil ein weltumspannendes Netz existiert, ist das digitalisierte Objekt allüberall und jederzeit abrufbar. Obschon nichts weniger als eine Revolution, ist bemerkenswert, dass sich dieser Umsturz unterhalb der Wahrnehmungsschwelle abgespielt hat. Denn obschon die Digitalisierung zum entscheidenden Triebwerk der Wirtschaft wurde, zog man es vor, ominös von der Globalisierung zu sprechen (womit sich ein schwer zu fassender Dämon im Diskurs etablierte). Im Maße der allgemeinen Beschleunigung virtualisierten sich immer mehr Bereiche des ökonomischen und politischen Lebens. Begann es damit, dass man die Lager evakuierte und unter dem Schlagwort der Just-in-time-Produktion die Güter auf die Landstraße verlagerte, spannte man darüber eine digitale Membran, welche die Echtzeit-Verfolgung und Lokalisierung der einzelnen Güter etablierte. Idealbild all dieser Lieferketten jedoch bildete der instantane Download, der die Ländergrenzen und die Materialität des Objekts überhaupt überwindet.

Der technischen Revolution folgte jedoch nicht die entsprechende geistige Erneuerung. Ganz im Gegenteil: Der Limbo-Logik der Aufmerksamkeitsökonomie folgend, begnügte man sich, die vertrauten Objekte immer preisgünstiger herzustellen, verwandte aber wenig Mühe darauf, sich in die symbolische Membran einzuarbeiten. Psychologisch verständlich, gewiss. Wer mag sich schon mit den Abgründen der objektorientierten Programmierung beschäftigen, noch dazu, wenn derlei auf eine narzisstische Kränkung hinauslaufen muss – die Erkenntnis, dass man in der Netzwerkgesellschaft nur mehr Dividuum sein kann? Gesamtgesellschaftlich freilich hat sich mit diesem Eskapismus ein Gestus kollektiver Blindheit etabliert. Wenn uns die Pandemie überrascht, so deswegen, weil sich die Netzwerkgesellschaft nur in abgespaltener, technischer Form realisiert hat – oder genauer: weil sie in den Maschinen, wie in einer Blackbox, verstummt ist. Mit einem solchen Vergessen gesegnet, konnte sich ein allgemeiner Konsumismus, geradezu eine Internationale der Konsumisten herausbilden. Ein neuer Typus von Massengesellschaft entstand: die virale Gesellschaft. Alles an ihr trägt eine digitale Signatur: Man kommuniziert transmedial, lichtgeschwind und peer-to-peer, vorbei an den Schleusenwärtern des guten Geschmacks. Anstatt jedoch mit der neuen symbolischen Ordnung eine neue, geistige Weltläufigkeit zu kultivieren, begnügt man sich umgekehrt damit, das Dorf – und damit die eigene Beschränktheit – zur Welt zu machen. Die kognitive Dissonanz zwischen einer hochgradig elaborierten Infrastruktur einerseits und einem zunehmend depravierten Geistesleben andererseits ist das Hauptcharakteristikum der viralen Gesellschaft. In ihr manifestiert sich das Paradox, dass man sich zwar der neuen Möglichkeiten bedient, aber nur, um mit einer Rolle rückwärts zum status quo ante zu finden, in eine Welt, die nur mehr als geistiges Heimatmuseum existiert. So besehen ist die pandemische Anfälligkeit der Netzwerkgesellschaft in den Shitstorms der sozialen Medien vorweggenommen, zeichnet sich der Zeitgeist durch einen stupenden Mangel an Geistesgegenwart aus.

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