Читать книгу Going Viral! - Martin Burckhardt - Страница 6

Realitätsschock

Оглавление

Stellen wir uns einen Menschen vor, der erfährt, dass er über Jahre hinweg von seinem Ehepartner betrogen oder – wie zu Zeiten der DDR – bespitzelt und an die Staatssicherheit verraten worden ist. Mit einem Schlag bricht, was ein Fundament, ja, ein selbstverständlicher Teil des eigenen Lebens war, einfach weg, während umgekehrt die Vergangenheit in ein neues, fremdes Licht getaucht wird. Wie der Herbststurm, der die Blätter vom Boden aufwirbelt, wühlt diese Offenbarung das Vergangene auf; das Denken gerät in einen Strudel von Erinnerungen, die sich, von einem gleißenden Blendstrahl erfasst, urplötzlich als Täuschung erweisen. Eine Geste der Anteilnahme? Doch eher ein infamer Spionageversuch! Eine Vertrautheit? Nein, ein Fallstrick, der einzig darauf abzielte, eine Selbstentblößung hervorzukitzeln! Im Nachhinein treten die Bruchlinien und Ungereimtheiten hervor, über die man großzügigerweise hinwegsah. Jetzt aber, da die Wahrheit ans Licht gekommen ist, geben die Misstöne ihren eigentlichen, verborgenen Sinn zu erkennen. Und es bleibt nichts als die Verwunderung über die eigene Gutgläubigkeit, die unerschütterliche Bereitschaft, sich in falscher Gewissheit zu wiegen. Indes beschränkt sich dieser Moment des Sich-selber-fremd-Werdens nicht auf die Vergangenheit. Wenn vermeintliche Normalität nichts ist als Täuschung, wenn Liebe die Maske des Hasses, Nähe abgründige Fremdheit sein kann, worauf ist dann noch Verlass? Wie kann man seinen Augen, seinem Sinnesapparat trauen? Wie kann man auf die Zukunft bauen, wenn man schon in der Vergangenheit nur ahnungslos durch ein Labyrinth geirrt ist? Sind diese Fragen für den Einzelnen bereits eine existenzielle Erschütterung, um wieviel größer wird dieser Schock wohl sein, wenn er eine ganze Gesellschaft affiziert? Hier nähern wir uns jener Logik, die Adorno mit dem Begriff des ›allgemeinen Verblendungszusammenhangs‹ gefasst hat. Denn die Bereitschaft, sich in falscher Gewissheit zu wiegen, kann ihrerseits zu einer Ökonomie, ja, zu einer systematisch betriebenen Form der Wirklichkeitsverweigerung werden. In diesem Sinn verschlägt es nicht viel, ob der eine oder andere Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns hegt – entscheidend ist allein die gesellschaftliche Valorisierung bestimmter Vorgänge: sie bestimmt, ob eine Geste ihr Geld wert ist oder nicht. Weil man die conditio socialis für das Realitätsprinzip hält, lässt sich leicht übersehen, dass die miteinander interagierenden Elemente vor allem der Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Scheins dienen, während sich untergründig eine tektonische Verschiebung eingestellt hat. Weil das Gesellschaftssystem ein langsamer Tanker, zugleich auf das Feinste kalibriert und austariert ist, ist die Begegnung mit dem Fremdkörper (dem Einer-im-andern) von immenser Wucht. Hätten die Passagiere der Diamond Princess ahnen können, dass die Reise, die sie bei der Carnival Corporation gebucht hatten, in einen Horrortrip einmünden würde, ja, dass das Kreuzfahrtschiff, der Inbegriff des luxurierenden Daseins, sich zu einem mobilen Versuchslabor wandeln würde? Gewiss wohnt dem Ausbruch der Pandemie eine gewisse Zufälligkeit inne, dennoch mutet das zur Quarantänestation gewordene Kreuzfahrtschiff wie eine Metapher an: Hier schlägt die Weltflucht des letzten Menschen in blanken Horror um. Dieser Stimmungsumschlag vertreibt nicht nur die heitere Sorglosigkeit der Kreuzfahrerschar, sondern zieht vor allem das geistige Navigationssystem, das Selbstverständnis in Mitleidenschaft. Bis zum Ausbruch der Pandemie nämlich hätte ein jeder den Gedanken, Teil eines viralen Gesellschaftsgefüges zu sein, mit Vehemenz von sich gewiesen. Das postmoderne Narrativ jedenfalls, das sich mit dem Beginn des Computerzeitalters herausgebildet hat, behauptet das ganze Gegenteil. In dessen Geschichte tritt das selbstbestimmte Individuum aus dem Dunkel der gesellschaftlichen Normen und ihrer Beschränktheit heraus und erlebt, enthusiasmiert, die Verheißung des Anything goes: die Freiheit, sich selbst realisieren zu können.9 Dieses Pathos der Selbstzeugung konfligiert mit einer sonderbaren Gleichschaltung der Lebensstile. Die Königskinder, die uns auf ihren Instagram-Accounts mit ihrer Weltsicht beglücken, erweisen sich, dem Beuys’schen Generalverdacht spottend (»Jeder ist ein Künstler«), bestenfalls als Kopisten, ihre unverdrossene Behauptung, ganz sie selbst zu sein, als heilige Einfalt: I, me and myself. So realisiert sich der Influencer, indem er das eigene Leben zum Verkaufskatalog macht, verendet umkehrt das heroische Selbstverwirklichungsprojekt in der Identitätspolitik – in jedem Fall aber hat man es mit einem Abgesang auf das postmoderne Freiheitsversprechen zu tun.

Going Viral!

Подняться наверх