Читать книгу Lizenz zum Schnüffeln - Martin Cordemann - Страница 7
Kapitel 3
Оглавление„Bringen Sie bitte Ihre Dienstwaffe...“
„Die finden Sie im Schreibtisch. Sie ist übrigens unbenutzt.“
„Und Ihre Dienstmarke!“
„Ist im Golfclub in meinem Schrank. Ich schick sie Ihnen zu.“ Dann verschwand ich. Meine Sachen hatte ich schon vorher gepackt. Die Flasche, die zwei Gläser und ein paar Taschenbücher. Als ich mit meiner Tasche über den Gang marschierte, traf ich das hinreißende Fräulein Rausch, das mich merkwürdig ansah.
„Hat man Sie... rausgeworfen?“ fragte sie.
Ich nickte. „War nett, mit Ihnen zu arbeiten“, sagte ich, trat näher an sie heran, sie roch sehr gut, hatte ich nie mitbekommen, und küsste sie sanft auf die Wange. „Machen Sie’s gut.“
„Ich werde Sie vermissen, Harry.“
„Ich Sie auch.“ Ich seufzte und machte mich auf den Weg.
„Harry!“ Ich drehte mich um. „Das ist eine Schweinerei, dass man Sie raus wirft und das wissen Sie!“
„Schönheit, das weiß jeder. Aber es tut keiner was dagegen.“ Ich lächelte. „Rufen Sie mich mal an, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben.“
Sie lächelte noch einmal herzzerreißend, oder eben berauschend, dann hatte ich einen bestimmten Abschnitt meines bisherigen Lebens abgeschlossen. Ich war die längste Zeit bei der Polizei gewesen – jetzt war ich arbeitslos.
Es gab schlimmeres.
Dachte ich mir.
Leider fiel mir im Moment nichts davon ein.
Das Problem war nur, dass ich außer der Polizeiarbeit nicht viel konnte, naja, außer schreiben oder mein Studium beenden und doch noch Lehrer werden. Vielleicht erschoss ja auch irgendjemand Prosser. Falls nicht, würde dieser bald weiter aufsteigen, er befand sich auf der Siegerleiter. Ich dagegen war auf dem Abstellgleis gelandet, auf einer Leiter, die ins Verlies hinabführte. Also fasste ich einen Entschluss: keinen Alkohol.
HARRY RHODE AUS DEM POLIZEIDIENST ENTLASSEN!
hieß es in den Morgenzeitungen, Abendzeitungen gab es nämlich keine. Jedenfalls keine wichtigen. Oder welche, bei denen ich die Redakteure kannte. Es folgte eine kurze Abhandlung über einige meiner Fälle, alles sehr nett aufbereitet von meinem alten Freund Grünspan, versehen mit der Frage, ob es richtig sei, jemanden wie mich einfach zu entlassen. Grünspan schien daran zu zweifeln. Ich ebenfalls. Was soll’s? Ein neues Leben lag vor mir. Eine neue Existenz. Nur: Welche? Die Werbebranche vielleicht? Ich könnte auch als Berater für Filme arbeiten.
Die Tage nach meiner Entlassung verbrachte ich zu Hause und las. Immerhin würde mich jetzt niemand an einen Tatort rufen. Dann, plötzlich und unerwartet, klingelte das Telefon. Dummerweise war es gerade früh am Morgen und ich schlief noch. Wenn ich etwas hasse... aber das kennen Sie ja schon. Vom Telefon geweckt zu werden gehört jedenfalls auch dazu.
„Hier ist Beatrice Braun“, sagte eine weibliche Stimme. „Ist da Harry Rhode?“
Ich brummte etwas.
„Ich möchte Sie engagieren, meinen Bruder zu suchen.“
„Warum denn das?“
„Er ist verschwunden.“
„Wieso ich? Nehmen Sie sich doch einen Privatdetektiv!“
„Sind Sie kein Privatdetektiv?“
„Nein.“
„Sie waren doch bis vor kurzem bei der Polizei.“
„Ja. Als Detektiv braucht man eine Lizenz.“
„Dann beschaffen Sie sich eine. Ich komme heute um vier bei Ihnen vorbei.“
„Okay.“ Ich legte auf. Okay? Wieso okay? Ich war kein Detektiv. Langsam rollte ich mich herum. Obwohl... Ich musste zugeben, dass die Idee etwas für sich hatte!
Mit einem Kater wachte ich spät am Morgen, etwa gegen 13.14 Uhr, auf. Das brachte mich zu der Feststellung, dass ich mich nicht an meinen Entschluss gehalten hatte, wie zu der zweiten Feststellung, dass ich mich besser an meinen Entschluss gehalten hätte. Während ich in die Küche schlurfte erinnerte ich mich düster an einen Alptraum, den ich in den frühen Morgenstunden gehabt hatte. Jemand hatte mich darin für einen Fall engagieren wollen. Als Privatdetektiv. Wie romantisch. In Amerika wurden alle entlassenen Polizisten Privatdetektive. Oder Straßenkehrer. Nein, die wurden Sicherheitsdienstler bei irgendwelchen Firmen, genau. Das andere war nur in der Schwarzen Serie so. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass mich die Idee faszinierte. Andererseits hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie man als Privatdetektiv arbeitete. Hmm, Leute beschatten, photographieren, alles haarklein aufschreiben. Also quasi das, was auch die Polizeiarbeit ausmachte – und was ich nie gemacht hatte!
Aber dann gab es noch andere Probleme, von meinen Kopfschmerzen einmal abgesehen. Wie kam man an Klienten? Wer hatte heutzutage Interesse an einem Privatermittler? In Phillip Marlowes Zeiten, ja, da funktionierte es gut, aber in unserer heutigen modernen Welt? Marlowe wurde zwar oft von den Verbrechern selbst engagiert, aber was sollte das schon? Bei ihm konnte man wenigstens eine romantische Arbeitseinstellung feststellen.
Und wie lief das heute? Und überhaupt: in Deutschland? Wenn ein Land Privatdetektive brauchte, dann Amerika. In Deutschland war nicht das Pflaster für die einsamen Wölfe. Ein einsamer Wolf war ich. Das stellte ich nicht erst fest, als ich bei einem Schwindelanfall in meiner Küche fast gegen den Kühlschrank knallte. Dieser verdammte Alkohol! Eigentlich hatte ich ja die richtigen Voraussetzungen für einen Privatdetektiv. Keine Arbeit, keine liebende und sorgende Frau und einen handfesten Kater. Ich beschloss, wenn nicht Fräulein Rausch bis zum Abend angerufen und sich mit mir verabredet hatte, mich um eine Lizenz als Privatermittler zu bemühen. Bis dahin verbrachte ich den Tag im Bett und pflegte meine Kopfschmerzen.
Ringend riss mich das Telefon aus meinem Halbschlaf. Ich griff nach dem Hörer und murmelte etwas hinein. Keine Antwort. Ich versuchte es noch einmal. Ich sah auf die Uhr. Es war 16 Uhr. Und es war die Türklingel. Mühsam erhob ich mich und schlurfte zur Haustür. Da ich in meinen Sachen geschlafen hatte, brauchte ich mir nichts überzuziehen. Als ich die Tür langsam öffnete, fand ich davor eine junge hübsche modisch gekleidete Frau vor, wahrscheinlich eine Avonberaterin. Oder gab’s die inzwischen gar nicht mehr? Nein, wahrscheinlich wusste niemand mehr mit dieser Anspielung etwas anzufangen!
„Verzeihung, ich lebe allein, ich habe kein Interesse an Toilettenartikeln für Damen“, wollte ich gerade sagen und die Tür wieder schließen, als sie sagte: „Harry Rhode? Ich bin Beatrice Braun, wir haben telefoniert!“
Hatten wir das? Hatte ich ein Rendezvous? Unwahrscheinlich, ich kannte die Frau ja nicht mal. Moment – Beatrice Braun. BB. Mein Traum... war kein Traum!
„Treten Sie doch bitte ein“, murmelte ich und ließ sie vorbei, versuchend, meine Gedanken zu ordnen. „Sie suchen also Ihren Bruder!?“ Es macht auf einen Klienten einen guten Eindruck, wenn man sich an alles erinnert, was man gesagt bekommen hat. Zumindest nehme ich das an.
„Er ist... verschwunden“, sagte sie und sah sich um, ob sie sich irgendwo niederlassen konnte. Ich bot ihr meinen Sessel am Fenster an und sie sank dankbar hinein, während sie in bewundernswerter Selbstbeherrschung meine Spielzeugsammlung ignorierte.
„Ja, das sagten Sie. Entschuldigen Sie, dass wir uns nicht in meinem Büro“-(-?-) „unterhalten können.“
„Sie haben ein Büro“-???-? „?“
„Nein. Deshalb die Entschuldigung.“ Ich setzte mich in meinen Fernsehsessel, stellte fest, dass ich zwar den Fernseher, nicht aber sie sehen konnte, erhob mich, drehte den Sessel, setzte mich und sah sie an. „Wie kommen Sie gerade auf mich?“
„Sie sind Harry Rhode. Ich habe viel über Sie gelesen. Sie waren ein guter Polizist. Ich glaube, Sie können meinen Bruder finden. Über die Privatdetektive, die im Branchenverzeichnis stehen, weiß ich gar nichts.“ Das war eine zufrieden stellende Antwort. Sah man davon ab, dass ich mich in der Branche überhaupt nicht auskannte, gefiel mir der Job. „Seit wann ist er denn verschwunden?“
„Seit Donnerstag.“
Heute war Freitag. „Sind Sie da nicht etwas voreilig?“
„Seit letztem Donnerstag.“
„Hmm. Könnte er nicht einfach eine kleine Tour machen? Versumpfen? Sich amüsieren? Etwas in der Richtung?“
„Er hat mir das hinterlassen“, sagte sie und reichte mir einen kleinen Bogen Papier, der einmal gefaltet war. Sie hatte blondes Haar, trug wenig Make-up und benutzte ein zurückhaltendes Parfum. Sie war ein wenig jünger als ich. Ich faltete den Zettel auseinander und las ihn. Es war eine Art Abschiedsbrief.
Liebe Beatrice,
ich habe genug von diesem spießigen Leben. Ich brauche Abwechslung. Aus diesem Grund ziehe ich mich zurück und versuche, mich selbst zu finden. Hoffentlich verstehst Du mich. Es gibt einen Weg, den ein Mann alleine gehen muss, den er nur alleine gehen kann. Wahrscheinlich wirst Du nie wieder etwas von mir hören. Trauere nicht um mich, ich muss das tun.
In Liebe
Dein Claus
„Wenn er nicht erst 7 ist, ist dagegen wohl nichts einzuwenden, oder?“ meinte ich und reichte ihr den Bogen.
„Er würde nie so einfach weggehen!“
„Sind Sie sicher, dass er nur Ihr Bruder ist?“
„Er ist mein Bruder!“ Ihre Augen wurden klein. „Nicht mein Geliebter, falls Sie das denken!“
In der Tat schwebte mir etwas Derartiges vor.
„Herr Rhode, ich weiß, dass er nicht einfach so verschwinden würde. Und da ist noch etwas: Er hat nichts von seinen Sachen mitgenommen. Nicht einmal seinen Inhallator.“ Ich sah sie fragend an. „Er leidet unter Asthma.“
In dem Fall plante er tatsächlich ein neues Leben – eins nach dem Tod. „Ich darf dem wohl entnehmen, dass Sie den Verdacht hegen, dass Ihr Bruder nicht freiwillig gegangen ist, sondern entführt wurde.“
„Ja.“ Sie nickte.
„Hätten sich die Entführer dann nicht schon gemeldet?“
„Ich weiß nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Vielleicht steckt er auch nur in der Klemme. Ich weiß, er braucht Hilfe.“
„Hmm“, sagte ich, „möglicherweise haben Sie recht.“
„Helfen Sie mir?“
„Im Moment kann ich gar nichts für Sie tun.“ Ich sah sie an, dann aus dem Fenster. Ich war erst vor wenigen Tagen gefeuert worden, was sollte diese falsche Scham? Wie es aussah hatte ich kaum Möglichkeiten, in irgendeine zufrieden stellende Arbeit zu kommen. Ein Mann in meinem Alter und mit meinen Qualifikationen wird entweder Clochard oder Schriftsteller. Und es hatte nicht den Anschein, als würde man sich um meine Memoiren reißen. Rosig sah meine Zukunft also nicht gerade aus. Wie lange würden meine Ersparnisse noch reichen?
Ich sah sie an, wie sie in meinem Sessel saß und auf meine Antwort wartete. Naja, irgendwas musste ich ja tun, ich brauchte das Geld. Warum sollte ich nicht ihren Bruder suchen? „Ich kann erst etwas für Sie tun, wenn ich meine Lizenz habe“, sagte ich. Sie erhob sich. „Kommen Sie doch bitte morgen um 3 Uhr bei mir vorbei und bringen Sie alles über Ihren Bruder mit, das mir bei der Suche nach ihm von Nutzen sein könnte.“ Ich brachte sie zur Tür. Dann fiel mir ein essentieller Punkt ein: „Ähm...“
„Die Bezahlung?“ erleichterte sie ihn mir.
„Ja.“ Ich nannte eine horrende Summe als Tagessatz plus Fahrtkosten und Spesen. Sie war einverstanden. Ich war verblüfft. An der Tür trat sie nahe an mich heran und sagte leise: „Finden Sie meinen Bruder.“ Dann ging sie, meine erste Klientin.
Da ich jetzt Privatdetektiv war, tat ich das einzig richtige, was man in einer solchen Situation tun konnte: ich grub meine alten Raymond Chandler Krimis wieder aus. Wenn man in der Welt der Privatermittler Hilfe braucht, dann ist er, bzw. sein Phillip Marlowe der einzige, der einem sagen kann, wo es lang geht.
Es gab da ein paar Dinge, die ich herausfinden musste. Ich war immerhin seit kurzem nicht mehr bei der Polizei, was mich jedoch nicht daran hinderte, im Präsidium anzurufen und mich mit Emil Schlüter verbinden zu lassen. Er sollte den Computer befragen und herausfinden, was es über Beatrice Braun und ihren Bruder Claus herauszufinden gab.
„Hat man Sie nicht entlassen?“ fragte mich Schlüter, als ich ihm meine Bitte vorgetragen hatte.
„Glauben Sie, die würden mich entlassen?“
„Ja.“
„Aber nicht wegen guter Führung.“
„Das sicher nicht.“
Viel fand er nicht. Beatrice Braun war die Tochter von Heinrich T. Braun, einem reichen Industriellen. Sie war verheiratet mit Robert C. Düsenberg, einem ebenfalls reichen Industriellen. Die Ehe ging jedoch vor drei Jahren in die Brüche und sie nahm ihren Mädchennamen wieder an. Düsenberg heiratete sechs Monate nach seiner Scheidung Felicitas Gerhard, die Tochter des, raten Sie mal, richtig, Industriellen Thomas Gerhard. Claus Braun war Asthmatiker.
Ich bedankte mich für die Informationen und bemühte mich um meine Lizenz als Privatermittler. Dank meinen Beziehungen sagte man mir, ich könne sie morgen um 9 Uhr abholen.
Prima. Ich lehnte mich zurück und betrachtete das Telefon. Ich war also im Geschäft, meine Kopfschmerzen waren weg und ich hatte eine Klientin. Es fing gar nicht übel an, fand ich. Obwohl ich bei der Polizei einen Dienstwagen gehabt hatte und mein Benzin nie selbst bezahlen musste. Diesen Punkt hatte Prosser in meiner Akte vergessen. Ich verzichtete darauf, ihn darauf hinzuweisen.
Am nächsten Tag holte ich meine Lizenz ab, ließ sie kopieren und beglaubigen und machte mich auf den Weg in mein Büro-???-??. Ich hatte zwar immer noch keins (aha!), aber dafür war ich den letzten Abend auch nicht untätig gewesen: Ich hatte mich mit Marlowe zusammengesetzt und versucht, von ihm zu lernen. Ein Motto von ihm war, nie mit einem Klienten zu schlafen, und wenn sie noch so weiblich waren, von den Männern mal ganz abgesehen. Das war ein Grundsatz, den ich, sollte sich die Gelegenheit geben, nicht unbedingt übernehmen musste. Und auf das Geld kam es Marlowe auch nicht an. Aber mit seinen 35 Dollar am Tag plus Spesen kam man heutzutage nicht weit. Tja, die Zeiten hatten sich geändert.
Außerdem war Marlowe größer als ich, war rasiert und sah gut aus, während meine unrasierte Erscheinung keineswegs ein Frauentyp war. Um es kurz zu machen: ich entsprach in keiner Weise der Erscheinungsform, die man von einem Privatdetektiv erwartet. Außerdem hatte ich keine Lust, mich ständig zusammenschlagen zu lassen, wie Marlowe das regelmäßig mit sich machen ließ. Und auch mit einem Schießeisen konnte ich nicht aufwarten. Wahrscheinlich würde ich innerhalb der nächsten Woche erschossen werden, wenn ich mit meinen Ermittlungen in ein Wespennest stieß. Wahrscheinlicher war jedoch, dass ich Claus Braun mit irgendeiner Frau in irgendeinem Hotel auflesen würde.
Naja, man hatte mich engagiert, also würde ich mein bestes tun. Und kein Alkohol mehr. Wozu brauchte ich ihn? Damit es mir schlecht ging? Ich konnte mich eben so gut mal wieder unglücklich verlieben, dann würde es mir auch schlecht gehen.
Um Punkt drei Uhr schellte es an meiner Tür. Ich war gerade damit beschäftigt, Marlowes Revolver zu reinigen. Ich legte das Buch beiseite und öffnete. Da stand sie, in einem grünen Kleid, das bestimmt nicht aus irgendeinem Sonderangebot stammte. Sie war genauso geschminkt wie am Vortag, das gleiche leichte Parfum und sie trug kaum Schmuck. Eine Halskette und ein silberner Ring waren die einzigen Anhängsel. Ihre Haut war leicht gebräunt. Ich ließ sie herein und schloss die Tür. Sie setzte sich in den gleichen Sessel wie gestern, den am Fenster, von dem man auf die Bäume hinaussehen kann. Marlowe hätte an ihr seine helle Freude gehabt. Wahrscheinlich hätte er ihr gleich ein paar geknallt.
„Guten Tag, Herr Rhode“, sagte sie und lächelte zurückhaltend.
„Tag“, sagte ich und setzte mich ihr gegenüber. Ihr Blick fiel auf eins der Chandler-Bücher.
„Fachliteratur“, sagte ich. „Kann ich von der Steuer absetzen.“ Sie lächelte, nicht verführerisch oder einladend. Marlowe hatte es da einfacher. Aber sie war ja extra zu mir gekommen, was konnte man da erwarten? „Möchten Sie etwas trinken?“ fragte ich.
„Oh nein, danke, aber ich bin mit dem Wagen hier.“ Sie kramte in ihrer Handtasche und förderte einen Umschlag zutage. „Ich habe hier ein paar Fotos von meinem Bruder.“ Sie reichte ihn mir. Er enthielt ein paar Bilder von einem schüchtern aussehenden jungen Mann, keine Ähnlichkeit mit ihr.
„Was hatte er für einen Bekanntenkreis?“
„Oh, seine Kommilitonen“, sagte sie und betupfte sich mit einem Taschentuch die Nase. „Er studiert Physik.“
„Dann wird man ihn wohl wegen einer weltumwerfenden Entdeckung jagen“, murmelte ich und betrachtete die Bilder. Er sah nicht nach einem blassen Jüngelchen aus, das asthmatisch Physik studierte, eher wie ein sonnengebräunter Strandaufreißer. Jemand, der mehr mit den unteren Regionen seines Körpers dachte als mit den oberen. Vielleicht irrte ich mich. „Wo studiert er?“
„Hier in Köln.“
„Hmmm“, hmmmte ich. Ich würde mich da mal ein bisschen umsehen. Vielleicht erfuhr ich dort mehr über ihn als sie mir sagen konnte oder wollte. Ich war lange nicht mehr da gewesen – obwohl ich immer noch eingeschrieben war.
„Hatte er eine Freundin?“
„Nein. Ich glaube nicht.“
„Standen Sie in engem Kontakt zu Ihrem Bruder?“
„Warum sprechen Sie von ihm in der Vergangenheit?“
„Eine Angewohnheit, die man sich bei der Mordkommission zulegt. Ich meine natürlich, bevor er verschwand.“
„Er hat mich jeden Tag angerufen.“
Das bedeutete: er war ein Klotz am Bein!
„Wollte er Geld?“
„Nein.“ Ihr Blick zeigte Entrüstung. „Wir haben miteinander gesprochen.“ Sie blickte zu Boden. „Schon seit wir Kinder waren haben wir uns alles anvertraut.“
„Wer kommt für seine Ausgaben auf?“
„Vater. Er hat ihn immer unterstützt. Auch finanziell. Er meinte, wenn Claus Physik studieren würde, könnte das für das Unternehmen nur von Nutzen sein.“
„Und Claus war damit einverstanden?“
„Natürlich.“
Ich warf noch einen Blick auf die Bilder, dann legte ich sie auf einen Tisch. „Wie steht es mit illegalen Sachen oder Glücksspiel?“
„Ist Glücksspiel nicht illegal?“
„Das lassen wir mal dahingestellt.“
„Nein.“
„Drogen?“
„Nein, Herr Rhode. Claus hat sich nur für sein Studium interessiert.“
Das sollte mich wundern. Dieser Strandasthmatiker hatte bestimmt auch andere Hobbys, als seiner hübschen Schwester sein Herz auszuschütten. Vielleicht schüttete er ja noch ein bisschen in gewissen Etablissements, die darauf spezialisiert sind?
„Wie steht denn der alte Herr zu seinem Verschwinden?“ fragte ich.
„Vater möchte wissen, wo Claus ist und ob er unsere Hilfe braucht.“
Mit Hilfe meinte sie wahrscheinlich Geld. Das schien wirklich ein typischer Fall zu sein, wie ihn Marlowe auch so oft vor sich gehabt hatte. Blieb abzuwarten, in welcher Kneipe er abgestürzt war.
„Hatte er Feinde, von denen Sie wissen?“
„Nein, hatte er nicht.“
Jeder hatte Feinde. Reiche Strandburschen besonders.
Sie hatte mir alle Fragen, die ihren Bruder in ein schlechtes Licht setzen konnten, mit Nein beantwortet. Mir gefiel nicht, dass er eine derart weiße Weste hatte, der reinste Saubermann. Nicht einmal der Papst konnte mit Claus Braun mithalten, außerdem verstand er wohl wenig von Physik. Entweder das Bübchen hatte seiner Schwester nicht sein ganzes Herz ausgeschüttet oder sie verheimlichte mir etwas. Oder es gab tatsächlich so etwas wie das Gute im Menschen, aber diese Möglichkeit war mehr als gering.
„Tja“, meinte ich und erhob mich. „Wenn es nichts mehr gibt, was Sie mir über ihn sagen können, werde ich dann jetzt mit meinen Ermittlungen anfangen.“
Auch sie erhob sich. „Harry“, sagte sie mit dem gleichen schmachtenden Blick, den sie gestern auch schon draufgehabt hatte: „Helfen Sie Claus.“ Dann gab sie mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange – er war genauso aufdringlich wie ihr Parfum – und verschwand. Zwischen den Bildern von ihrem Bruder befand sich ein Zettel mit ihrer Adresse, sowie der ihres Bruders. Es konnte also losgehen.
Als erstes fuhr ich zu Claus Brauns Wohnung. Er wohnte in einem Haus mit billigen Appartements in einem billigen Teil der Stadt – also rechtsrheinisch. Seine Wohnung befand sich im dritten Stockwerk, er wohnte alleine, nicht in einer WG. Mir war vor kurzem aufgefallen, dass ich meine Polizeimarke nicht, wie ich irrtümlich angenommen hatte, im Golfclub vergessen hatte, sondern sie ständig mit mir herumtrug. Das war ausgesprochen praktisch.
Mit keuchendem Atem und erhöhtem Puls erreichte ich den dritten Stock – kein Aufzug im Haus, versteht sich. CLAUS BRAUN stand auf einem kleinen Schild über der Klingel. Die Luft war stickig. Hätte ich eine Krawatte getragen, ich hätte sie lösen können. Auch die drei obersten Knöpfe meines Hemdes standen schon offen. Meine einzige Rettung wäre ein Sauerstoffzelt gewesen. Ich schellte. Wie zu erwarten gewesen war öffnete niemand.
Aus der Tatsache, dass Claus Braun in dieser Gegend wohnte, schloss ich, dass seine Verbindung zu seinem Vater entweder doch nicht so gut war, dass er sich fern aller materiellen Genüsse nur auf sein Studium konzentrieren wollte oder dass er sein Geld für wichtigeres brauchte. Vielleicht bedeutete Geld ihm auch einfach nichts. Es gab aber nur wenige, denen Geld nichts bedeutete. Einer davon war Marlowe. Aber der war nicht hier. Ich hatte unten ein Schild mit der Aufschrift HAUSMEISTER gesehen, also begann ich mit dem Abstieg und dann mit der Suche nach dem Hausmeister selbst. Ich fand ihn in einem kleinen Hof, wo er gerade damit beschäftigt war, seinen Rasenmäher oder ein Mofa oder beides auseinander zu nehmen.
„Sind Sie der Hausmeister?“ fragte ich.
Sein ölverschmiertes Gesicht wandte sich mir zu. „Und wen stellen Sie dar?“
„Harry Rhode, Mordkommission“, sagte ich und zeigte meine alte Dienstmarke. Amtsanmaßung war die genaue Bezeichnung, eine durchaus illegale Tat. Neugierig betrachtete er die Marke.
„Was kann ich für Sie tun?“
„Ich würde gerne mit Claus Braun, dritter Stock, sprechen, aber er ist nicht zu Hause.“
„Hat er was ausgefressen?“ Der Mann schien Feuer und Flamme.
„Es besteht der Verdacht, dass er das Geld aus einem Banküberfall in seiner Wohnung versteckt hat. Wir haben den Tipp von einem Informanten aus dieser Gegend bekommen. Eine reine Routineuntersuchung. Wann haben Sie Braun das letzte Mal gesehen?“
„Vor einer Woche. Oder zwei?“
„Was ist er für ein Mensch?“
„Bezahlt immer pünktlich seine Miete, soviel ich weiß. Ein ruhiger Typ. Hatte selten Besuch.“
„Könnten Sie mir bitte seine Wohnung aufschließen?“ Ich lächelte höflich.
„Na... ich hab keinen Schlüssel von ihm bekommen.“ Er lächelte entschuldigend. „Geld aus einem Bankraub sagten Sie?“
„Es gibt einen Finderlohn für das Geld. Nun, verständigen Sie uns, sollte Braun wieder auftauchen.“ Ich drehte mich um und verschwand im Hausflur. Ich zog die Haustür auf, ließ sie zu krachen und verschwand so schnell es ging nach oben. Schnaufend erreichte ich den vierten Stock, dort setzte ich mich auf eine Stufe und wartete.
Wenig später vernahm ich Schritte auf der Treppe, sie hielten einen Absatz unter mir, verharrten und dann hörte ich das metallische Geräusch, das entsteht, wenn man einen Schlüssel in ein Schlüsselloch steckt. Ich warf einen schnellen Blick über das Geländer um mich zu vergewissern, dann sprintete ich die Treppe herunter. Ich erwischte den Hausmeister gerade bevor er die Tür zu Brauns Wohnung hinter sich schließen konnte.
„Aha“, sagte ich und schob ihm meinen Kuli in den Rücken. „Keinen Schlüssel, was?“
„Sie sagten was von einer Belohnung.“
„Für ehrliche Finder, wobei die Betonung wohl auf ehrlich liegt.“ Ich schob ihn hinaus auf den Gang. „Eintritt nur gegen Vorzeigen Ihrer Einladung. Lassen Sie die Finger von dieser Wohnung, wenn Sie keine Schwierigkeiten wollen.“ Ich nickte ihm zu. „Schönen Tag noch.“
Mürrisch zog er ab. Hier konnte er keine schnelle Mark machen. Oder einen schnellen Euro. Oder wie immer man das heutzutage nannte. Lächelnd schloss ich die Tür hinter mir. Schon das zweite Vergehen heute: illegale Durchsuchung. Vielleicht konnte man als Nummer 3 noch Einbruch hinzufügen, mit Sicherheit aber Hausfriedensbruch! Obwohl, man hatte mich ja hereingelassen, wenn auch nicht unbedingt freundlich.
Die Wohnung entsprach nicht ganz den Erwartungen, die man von ihr in dieser Gegend gehabt hätte. Sie war modern eingerichtet, wenn auch nicht im Stile der Plastikmoderne, nicht unbedingt billig, aber auch nicht zu teuer. Dennoch hätte ein normaler Student ohne die Rücklagen, die Braun offensichtlich aufweisen konnte, sich eine solche Einrichtung schwerlich leisten können, jedenfalls nicht ohne nebenbei mit Rauschgift zu dealen oder fremderleute Grundstücke zu verhökern. Die Wohnung war sauber aufgeräumt und erleichterte das Suchen. Noch mehr hätte sie es mir erleichtert, wenn sie mir auch gesagt hätte, was ich suchen sollte.
Die Luft war noch stickiger als im Flur, eine Staubschicht überzog die glatten Flächen der Schränke. Braun hatte keine Putzfrau oder er hatte im Moment keine und die Wohnung war seit längerer Zeit nicht mehr benutzt worden. Eine Woche konnte hinkommen, vielleicht auch länger. Auf dem ordentlichen Schreibtisch fanden sich Bilder von Beatrice Braun, einem älteren Ehepaar, von dem ich annahm, dass es die Eltern Braun waren und das Bild einer hübschen, jedoch älteren Frau, älter als Claus jedenfalls. Ich nahm das Photo aus dem Rahmen und steckte es ein. Diebstahl? Naja, ich würde es ja zurückbringen. Wahrscheinlich. In den Regalen standen viele Physikbücher, aber auch Literatur. Nichts von Chandler. Er brauchte das ja auch nicht zu lesen, immerhin war ich der Detektiv. Oder sollte es zumindest sein.
Die Untersuchung der Schubladen ergab nichts. Kein Rauschgift, keine Pornokassetten, nicht einmal Zigaretten oder Alkohol. Als Asthmatiker sollte er auch besser nicht rauchen. Seinen Inhallator fand ich im sauber aufgräumten Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch. Es sah nicht so aus, als hätte man Kleider aus seinem Kleiderschrank mitgenommen. Ich sah unter die Teppiche, fand aber weder Blut- noch sonst irgendwelche Spuren.
Der Kühlschrank unterstützte die Annahme, dass hier seit langem niemand mehr gewesen war: Die Milch war auf dem besten Weg zum Käse und einige Obstsorten schienen ähnliche Evolutionen durchzumachen. Kein Alkohol. In der Wohnung gab es auch keinen einzigen benutzten Aschenbecher. Falls sie jemand durchsucht hatte, hatte er eine sehr saubere und gründliche Arbeit geleistet. Hätte sie jemand fluchtartig verlassen, hätte sie unaufgeräumter aussehen müssen. Vielleicht hatte auch seine Schwester, Beatrice, aufgeräumt. Ich würde sie zu gegebener Zeit danach fragen.
Nachdem ich mich noch einmal kurz umgesehen hatte, auch Zahnpasta, Zahnbürste und Rasierapparat befanden sich in der Wohnung, ging ich. Unten stieß ich noch einmal mit dem Hausmeister zusammen. Ich hielt ihm das Bild unter die Nase und fragte ihn, ob er die Dame hier schon mal gesehen habe. Er verneinte.
„Wer besitzt alles einen Schlüssel für die Wohnung?“
„Keine Ahnung“, sagte er und verschwand in den Hof. Ich sah ihm nach und betrachtete dann noch einmal das Photo. Ein nettes Gesicht. Interessant. Interessant war auch, was auf der Rückseite des Photos stand.
Noch am gleichen Nachmittag versuchte ich, an der Uni etwas über ihn herauszufinden. Durch das wilde Herumzeigen seines Photos stieß ich auf ein Mädchen, das zusammen mit ihm eine Veranstaltung in Mathematik besuchte. Sie war nicht der Ansicht, dass er besonders großes Interesse an seinem Studium hatte. Für ihn wäre das ja sowieso egal, sein Vater hätte genug Geld, damit er gar nicht arbeiten musste.
Ich fragte sie, wie es denn mit Mädchen so um ihn stehe. Naja, sagte sie, sie habe nie großes Interesse an ihm gehabt. Manchmal hatte sie sogar den Eindruck gehabt, er sei schwul, also nichts gegen Schwule, so meine sie das nicht, nur, dass er sich halt nicht für Mädchen zu interessieren schien. Blieb herauszufinden, wer die Frau auf dem Bild war. Ich zeigte es ihr. Sie kannte sie nicht. Dann verdunkelte plötzlich ein riesiger Schatten die Sonne – ihr Freund, jemand der aussah, als könnte er eine Lokomotive wegschieben, zu einer sinnvolleren Beschäftigung schien er allerdings nicht fähig. Ich unterließ in weiser Voraussicht Bemerkungen in dieser Richtung, was mir wahrscheinlich das Leben rettete.
Ich beschloss, am kommenden Tag zur Uni zurückzukehren und fragte mich, was ich bis dahin machen konnte. Nachdem ich mich in meinen Wagen geschwungen und mich wieder auf den Weg gemacht hatte, fiel mir ein blauer Mercedes auf, der mir zu folgen schien. Er war relativ weit hinter mir, so dass ich den Fahrer nicht erkennen konnte. Ruhig fuhr ich weiter und beobachtete meinen Verfolger. Hatte ich mit meinen Ermittlungen jemandem auf die Füße getreten? Es sah ganz so aus.
Ich bog auf eine breite stadtauswärts führende Straße. Der Wagen folgte mir. Noch immer hielt er einen großen Sicherheitsabstand ein. Also bog ich ab und kam auf eine Straße, die mich wieder in die Innenstadt brachte. Ich wollte sicher sein. Der Wagen blieb dran. Sehr schön. Es war das erste Mal, dass ich verfolgt wurde. Oder es war das erste Mal, dass ich es mitbekam. Vielleicht war es ja einer von Prossers Leuten. Dann musste es jemand von außerhalb sein, oder die Dienststelle hatte einen neuen Wagen. Wäre es Prosser selbst, wäre der Wagen bestimmt grau, nicht blau.
Über eine Nebenstraße gelangte ich auf eine Route, die durch einen ruhigen Vorort führte. Dort würde ich ihn kriegen. Ich gab ein bisschen Gas, um eine geeignete Stelle zu finden. Bald hatte ich sie. Ich fuhr um eine Kurve und als mein Verfolger mich nicht sehen konnte, fuhr ich in eine Einfahrt zu einer Garage. Im Rückspiegel sah ich, wie der Wagen vorbeirauschte. Also drehte ich den Spieß um und hängte mich an ihn dran. Er fuhr nun langsamer, so, als würde er etwas suchen. Mich wahrscheinlich. Ich kam nahe genug heran, um die Nummer lesen zu können. Ich notierte sie mir. Es war ein Wagen von außerhalb. Aber kein Dienstwagen. Ich würde die Nummer durch den Computer laufen lassen. Tja, so einfach konnten sie es sich nicht machen.
Langsam wurde ich nervös. Er musste doch wissen, dass ich an ihm dranhing. Es war merkwürdig. Wollte er seine Tarnung aufrechterhalten? Dachte er, ich hätte ihn nicht durchschaut? Nein, die Erklärung war viel einfacher: Er wollte mich nicht dahin führen, wohin er mich führen sollte. Wo immer das sein mochte. Langsam bog der Wagen in eine Einbahnstraße ein. Ich befürchtete eine Falle, doch ich folgte ihm. Was hatte er vor? Kurz darauf wusste ich es: er war eine sie. Und sie war so um die 70. Sie besuchte ihre Kinder und Enkelkinder. Peinlich!
Der Weg nach Hause führte mich durch einen merkwürdigen Zufall direkt am Polizeipräsidium vorbei. Ich parkte auf meinem üblichen Parkplatz und ging dann ein bisschen in die Stadt. Ich hatte noch ein paar Besorgungen zu machen. Anschließend war es spät genug, kaum noch jemand im Präsidium anzutreffen, immer angenommen Prosser arbeitete streng nach Dienstplan und -zeit.
Vorsichtig betrat ich das Gebäude. Der Pförtner grüßte mich. Langsam ging ich weiter, kam zu den Aufzügen und wartete. Die Doppeltüren öffneten sich, aber niemand trat heraus. Dafür trat ich herein.
Zuerst ging ich in mein altes Büro-das-zwar-niemals-diese-Bezeichnung-verdient-hatte-aber-mir-inzwischen-weitaus-lieber-war-als-Prosser, aber es war niemand da, nicht einmal ich. Bevor ich mich von romantischen Gefühlen übermannen lassen konnte, ging ich hinüber in Prossers Büro-das-nahezu-ebenso-unsympathisch-war-wie-er-selbst. Er war auch nicht da. Ich legte meine Marke auf seinen Schreibtisch, überlegte es mir noch einmal und steckte sie dann wieder in meine Tasche. Das konnte noch ein bisschen warten.
Auch die Computerabteilung war so gut wie unbesetzt. Ich grüßte und setzte mich an einen der Rechner. Niemand nahm Notiz von mir. Der Wagen, der mich verfolgt hatte, war auf eine Rentnerin zugelassen – ich hatte sie selbst gesehen. Eine Spur, die im Sande verlaufen war. Auch über Claus Braun wusste der Computer nicht viel zu sagen. Ich ließ alle Akten von Kranken- und Leichenschauhäusern mit einer Personenbeschreibung kontrollieren. Nichts.
Mir fiel nichts mehr ein, was ich den Computer fragen konnte. Meine Ermittlungen gediehen nicht besonders gut. Hätte ich die richtige Frage gewusst, hätte mir der Computer vielleicht behilflich sein können. Aber ich wusste sie nicht. So schlenderte ich zurück in Prossers Büro-das-ihm-an-Kälte-und-Unsympathie-(-falls-es-das-gab-)-in-nichts-nachstand und wartete noch ein bisschen. Als ich annahm, dass er beim Abendessen sein würde, rief ich bei ihm zuhause an.
„Prosser“, sagte eine dunkle kalte geschäftliche graue Stimme dunkel kalt und geschäftlich grau.
„Hier ist der Polizeipräsident“, sagte ich mit verstellter Stimme. „Kommen Sie sofort ins Präsidium. Es geht um Harry Rhode. Ich bin in Ihrem Büro-(…)!“ Dann legte ich auf und wartete.
Eine Viertelstunde später erschien ein atemloser Chef der Mordkommission in seinem Büro-das-jedem-Vergleich-mit-Prosser-standhalten-konnte. Wahrscheinlich hatte er sich ein paar Verkehrsregeln nicht gebeugt. Von seinem Platz hinterm Schreibtisch lächelte ich ihn an. Nachdem er sein Atemproblem überwunden hatte, fand er Zeit, Gelegenheit, Lust und Laune für Hass.
„Was machen Sie denn hier?“
„Warten.“
„Wo ist...“
„Der Polizeipräsident? Ist schon gegangen. Er meinte, wir könnten das alleine miteinander abmachen.“
„Abmachen? Was denn abmachen?“
„Das hat er mir nicht gesagt. Wissen Sie es denn nicht?“ Ich sah ihn scheinheilig an, um ihn aus der Fassung zu bringen.
„Verschwinden Sie, Rhode!“ zischte er zischend.
„Das ist aber ein gar unfreundlicher Ton.“ Ich erhob mich langsam. „Da fällt mir ein: Sind Sie eigentlich korrupt? Ich meine, das ist nur eine Frage. Sie können sie mit ja oder nein beantworten...“
Der Humor, den er nicht hatte, hatte ein Ende gefunden. „Raus!!!“ schrie er mehr als kursiv. Im Vorbeigehen ließ ich meine Marke vor seinem Gesicht schweben.
„Deswegen bin ich ja hier. Quittieren Sie bitte.“
Wütend wollte er zum Schreibtisch, aber ich reichte ihm das Formular, das ich aus seinem Schreibtisch hatte. Er unterschrieb.
„Sie sind ein toller Polizist“, sagte ich, als er vom Schreibtisch zurückkam, wo er das Formular zu meinen Akten gelegt hatte. „Danke.“ Ich küsste ihn auf die Wange. Als ich ihm meine Marke in die Hand drückte, warf er sie sofort in den Papierkorb. Hinter mir schloss er das Büro-das-mehr-Erfahrung-im-Polizeidienst-hatte-als-Prosser ab und vergewisserte sich, dass ich das Gebäude auch wirklich verließ. Dann vergewisserte ich mich, dass er das gleiche tat. Die Mülleimer würden geleert werden, noch bevor er seinen Dienst am Morgen wieder antreten würde. Damit würde die Marke für immer verloren sein. Und niemand würde herausfinden, dass die Marke, die ich ihm gegeben hatte, gerne von Kindern benutzt wurde – ich hatte sie ja auch aus einem Spielwarengeschäft!