Читать книгу DIE REICHE VON ITHOR - Martin Cordemann - Страница 8

Kapitel 5

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Ron starrte noch immer auf die Schrift an der Wand. Das Flackern der Fackel ließ sie noch eine Spur unheimlicher erscheinen. Es war wie die Stimme eines Toten, die ihm sagte, die Götter seien zurückgekehrt, um sie alle zu vernichten. Er musste schlucken. Ein großer Kampf stand ihm bevor. Ein Kampf… in seinem Innern. Bei dem der Verstand, all das, was er von Kindes Beinen an gelernt hatte, die Schlacht gegen Mythen und Sagen gewinnen musste. Das war das Knifflige daran, wenn man in dem Glauben aufwuchs, dass es keine Götter gab – weil man sie erschlagen hatte. Denn wenn man sie erschlagen hatte, hatte es vorher welche gegeben, also gärte der Glaube, dass es sie vielleicht doch geben könnte, irgendwo tief in ihm. Oder war es nur… eine Möglichkeit? Jedenfalls schloss er es nicht sofort aus, dass die Schrift an der Wand die Wahrheit wiedergeben mochte. Eine schreckliche Wahrheit, wie er fand. Denn sollte sie der Wirklichkeit entsprechen, und sollten die Mythologien und Legenden seines Volkes der Wirklichkeit entsprechen, dann wären die Götter nicht zurückgekehrt, um sie für ihr tolles Leben zu belohnen, sondern um sich für das zu rächen, was ihnen die Vorfahren der Kelldorianer angetan hatte.

Kell-dor, Mörder Gottes, wie eine alte Schriftrolle vermittelte. Vielleicht hätten sie ihre Tat gegenüber den Göttern nicht in dem Namen anpreisen sollen, den sie für ihr Volk gewählt hatten. Wäre er an Stelle der Götter gewesen, er hätte ebenfalls Rache geschworen… wenn es sie denn gab. Und genau das galt es herauszufinden.

Langsam übernahm sein Verstand wieder sein Denken. Auch das hier konnte ein Trick sein, eine Finte, eine Waffe. Die Angst zu verbreiten, dass die Götter zurückgekehrt wären, um den Feind allein durch diese Furcht zu schwächen. Wenn es denn so wäre, wäre das ein genialer Plan. Doch ein Plan, den es zu durchkreuzen galt, bevor man ihn in bewohnteren Gebieten umsetzen konnte, wo sich die Gerüchte schneller verbreiteten.

Ron hatte die Waldgrenze abgesucht, aber keinerlei Spuren gefunden. Er vermutete, wohin auch immer diejenigen, die das Kloster zerstört hatten, geflohen waren, sie waren nach Norden gegangen. Dort würde er nach ihnen suchen, Götter oder nicht. Er würde sie aufspüren, er würde nach einer Streitmacht schicken lassen und er würde sie vernichten. Doch zunächst galt es, sie zu finden.

Er ritt hinauf über den Pass, von dem es eine Schlucht in den Norden gab… und blieb mit offenem Mund stehen. Eine Lawine hatte die gesamte Schlucht unter sich begraben. Das musste der Donner gewesen sein, den er vor einiger Zeit gehört hatte. Eine gewaltige Schneemasse, die ihm den Weg versperrte. Hier gab es kein Durchkommen, nicht in den nächsten Monaten. Wenn er in den Norden wollte, musste er das Eisgebirge umrunden, doch dazu reichten seine Vorräte nicht aus.

Ein Vogelschrei riss ihn aus seinen Gedanken. Der Schatten des Flugtiers verdüsterte die Sonne und ihm war, als würden riesige Flügel die Luft durchschneiden. Als er aufblickte, sah er jedoch nur einen kleinen Vogel, der dicht über ihm kreiste und ihn mit weniger und weniger Interesse anstierte, bevor er davon flog, wobei er noch einmal diesen merkwürdigen Laut ausstieß, den Ron zuvor gehört hatte. Er kannte die Vogelart. Wegen genau dieses Geräusches, an dem man sie erkennen konnte, nannte man sie „Drachenfinken“… und mit einemmal wusste er, was hier geschehen war.

„Oh mein…“ entfuhr es ihm. Was mit dem Kloster passiert war, war das Werk eines Draaken oder Drachen, wie er in manchen Regionen genannt wurde. Ein sagenumwobenes Tier, das dereinst auf ihrer Welt gewandelt und sich dann in einen tiefen Schlaf gelegt haben sollte, weil die Menschen es gejagt und… erschlagen hatten, ja, das schien irgendwie ein fester Bestandteil seines Volkes zu sein. Nur, dass die Drachen in allen Legenden erschlagen worden waren. Einer seiner Urahnen war ein Jens Drachentöter gewesen, so hieß es jedenfalls. Aber vielleicht waren diese Legenden falsch? Vielleicht hatte es Überlebende gegeben, die sich für einen Jahrhunderte währenden Winterschlaf in die Berge zurückgezogen hatten? Und nun war einer von ihnen erwacht.

Ron musste lächeln. Mit einemmal ergab alles einen Sinn! Draaken konnten Feuer speien und damit Stein zerfließen lassen. Draaken konnten fliegen, also würden sie keine Spuren auf dem Boden hinterlassen. Und Draaken hassten die Menschen, also würden sie nicht zögern, sie zu vernichten, wenn sich ihnen die Gelegenheit bot.

Schwert seufzte. Das war eine soviel bessere Erklärung als die, dass die Götter zurückgekehrt waren. Sicher, er war sich bewusst, dass er nur eine Legende gegen eine andere ausgetauscht hatte, aber die mit den Draaken erschien ihm soviel glaubwürdiger. Sie würden eine Armee aufstellen, um den Draaken zu töten, ja, das war etwas, mit dem man im Volk den Mut zum Kampf schüren konnte – und nicht die Angst vor irgendwelchen Göttern, die zurückgekehrt waren. Aber bevor sie sich für den Kampf gegen die Feuer speienden Monster rüsteten, musste er erst einmal herausfinden, wo diese zu finden waren. Doch das würde wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Ron seufzte ausgiebig, warf noch einen letzten Blick auf die versperrte Schlucht, dann ritt er langsam zurück zum Kelldorianischen Stützpunkt.

Zu ihrer Linken konnten sie das Kap des Verderbens sehen, die südlichste Spitze von Vant. Auch wenn es ein sonniger Tag war und die See sich von ihrer besten Seite zeigte, so wusste Stan Kapitän aus Erfahrung, dass die Reise ums Kap nicht so leicht war, wie es das Meer einen an Tagen wie diesem glauben machen wollte. Viele Schiffe waren dort zerschellt, die Felsklippen voll von morschem Holz verfaulender Schiffskadaver, die hier ihr Ende gefunden und dem Kap seinen Namen gegeben hatten. Die Reise nach Kapstadt, für die man das Kap erst besiegen musste, stand heute nicht auf ihrer Tagesordnung, auch, wenn er sie schon mehrmals unternommen hatte.

Er hatte viele Meere bereist und war ein erfahrener Seemann. Er kannte sich gut aus. Gerade hatten sie das Flackernde Leuchtfeuer passiert, das auf der Westseite der Südspitze Vants auf das Kap hinwies. Auf der Ostseite gab es das Stetige Leuchtfeuer, und zwischen ihnen Kapstadt. Es waren Zeichen, an denen man sich als Seemann orientieren konnte.

Sie ließen die Westküste von Kelldor hinter sich und schipperten geradewegs nach Süden. Wären sie, wie er es schon oft getan hatte, der Küste gefolgt und hätten in Richtung Osten das Kap umrundet, würden sie schon bald die Türme von Kapstadt erspähen und den fauligen Geruch der Metropole riechen, der weit über das Meer trieb und bei Nebel ein besseres Orientierungsmittel war als die beiden Leuchttürme. Und wenig später hätten sie auf diesem Kurs die Insel des Spuckenden Feuers rechts vor sich…

Der Kapitän sah Richtung Osten. Der Himmel war klar und blau, aber irgendwo direkt hinter dem Horizont hing eine kleine dunkle Wolke in der Luft. Dort befand sich die Vulkaninsel. Bei Tag war es eine gute Navigationshilfe, bei Nacht, wenn man von Süden kam und man vor sich das Flackernde Leuchtfeuer und rechts von sich den dünnen Feuerschein sah, dann wusste man, dass man zu Hause war, in Kelldor.

…und wenn sie sie mit ihren Feuerspeienden Bergen zu ihrer Rechten hatten, konnten sie die Südspitze Vants umrunden und an der Ostküste entlang weitersegeln nach Norden, bis man zur Pyramidenstadt mit ihren acht Pyramiden kam, deren Funktion noch niemand entschlüsselt zu haben schien. Von dort war er schon mehrfach mit dem Lord Botschafter und seiner Dame des Schwertes nach Savaan im Osten gereist, wo sie mehrfach die Glocke der Trunkenheit geläutet hatten, ebenso wie die Glocke des Katers und die Glocke der Morgendlichen Übelkeit.

Aber auch auf der anderen Seite des Kontinents kannte er sich aus. Er hatte so manche Insel des Inselreichs bereist, das westlich vom Kontinent lag. Nur in den Süden war er bislang kaum vorgestoßen, aber das war niemand aus Kelldor, zumindest nicht in den letzten Jahren. Es war weitestgehend unbekanntes Gebiet für sie.

Vor ihrer Abreise hatte er sich mit den Botschaften, die sie von den Spionen über das Seevolk erhalten hatten, auseinandergesetzt und er hatte eine überraschende, ja erschreckende Entdeckung gemacht. Wenn man die Nachrichten so las, wirkte es fast so, als hätte man über die Jahre immer wieder Berichte von den Spionen erhalten, doch bei näherer Betrachtung stellte sich das als falsch heraus. Denn zwar waren in den letzten Jahren immer mal wieder Schriftrollen aufgetaucht, was den Anschein eines stetigen Flusses an Informationen vortäuschte, aber tatsächlich datierte die letzte „aktuelle“ Meldung etwa 50 Jahre zurück. Seit 50 Jahren waren keine neuen Informationen mehr nach Kelldor gelangt.

Man hatte viele der Berichte mit Nachrichtenmöwen geschickt. Darin wurde berichtet von dem, was sich beim Seevolk so tat. Ein Bericht hatte den Kapitän ein wenig amüsiert. Er sprach davon, dass man die Insel, auf der man lebte, zu einem riesigen Schiff umbauen wolle. Das klang selbst für einen gelangweilten Spion ein wenig weit hergeholt. Andere Schriftstücke sprachen von ausuferndem Abholzen der Wälder, um ein riesiges Schiff oder eine riesige Flotte Schiffe zu bauen, da schien man sich nicht ganz einig. Vom Verlassen der Insel war mehrfach die Rede. Aber wovon würde das Seevolk leben, wenn es die Insel verließ? Von Fischen vielleicht. Aber wenn sie nur noch auf ihren Schiffen leben wollten, gab es keine Felder – und vor allem kein Trinkwasser. Dafür hätten sie sich die riesigen Meeressäuger Untertan gemacht, hieß es. Damit beherrschten sie riesige Tiere, die im Meer lebten. Ein faszinierender Gedanke. Der Kapitän würde all das nur zu gerne sehen – wenn es denn existieren würde. Was er bezweifelte. Diese Spione hätten Abenteuererzählungen verfassen sollen, so viel Phantasie steckten sie in ihre Arbeit.

Einer der letzten Berichte, der eingetroffen war, sagte noch einmal, dass das Seevolk eine neue Flotte bauen würde. Das war eine beunruhigende Nachricht, oder wäre eine gewesen, wenn sie aktuell gewesen wäre. Doch sie war nur als letzte eingetroffen, datierte aber auch auf eine Zeit vor vielen Jahrzehnten zurück.

Stan fand eine Erklärung dafür. Viele dieser Nachrichten waren vor vielen Jahren abgeschickt worden. Man hatte sie in einem wasserfesten Futteral an einer Nachrichtenmöwe befestigt und abgeschickt. Doch viele dieser Möwen hatten ihr Ziel nicht erreicht, oder erst auf Umwegen. Manche schienen einen anderen Kurs gewählt zu haben, hatten Zwischenstopps auf der Insel des Spuckenden Feuers gemacht, waren im Inselreich gelandet oder in Savaan und waren erst viele Jahre später zu ihrem Ausgangspunkt in Kelldor zurückgekehrt, noch immer die unversehrte Nachricht mit sich tragend. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, das Datum näher zu begutachten, man nahm es als neue Information hin und vermerkte nur das Ankunftsdatum, nicht aber das des Verfassens.

Andere Möwen hatten weniger Glück. Sie wurden gefangen oder von Fischen gefressen. Die Fische wurden von anderen Fischen gefressen oder von Fischern gefangen und als man sie zubereitete, fiel den jeweiligen Fischhändlern oder Köchen die Botschaft in die Hände, die an der Möwe befestigt war. Die brachte man dann umgehend dem Bürgermeister, der sie an die zuständige Stelle im Reich weiterleitete. So kam es, dass es niemandem aufgefallen war, dass die Spione sich seit 50 Jahren nicht mehr gemeldet hatten.

Was mochte aus ihnen geworden sein? fragte sich Stan Kapitän. Hatte man sie entdeckt? Hatte man sie hinrichten lassen? Oder waren sie mit auf die große Flotte aus Holz gezogen, in der es keine Nachrichtenmöwen mehr gab, mit denen sie ihre Berichte aussenden konnten? Es war ein Geheimnis, eins von vielen. Der Kapitän läutete die Glocke des Fehlers und berichtete Sigrid Bürgermeisterin, der Bürgermeisterin von Residenzstadt unterhalb der Sommerresidenz, von seiner Entdeckung und sie erklärte aufgeregt, sie würde sofort eine Depesche an den König entsenden. Nur wenig später stach der Kapitän in See.

Er warf noch einen letzten Blick auf den Flackernden Leuchtturm, der nun langsam hinter dem Horizont verschwand. Er war schon öfter nach Süden gereist, aber nicht weit, nur ein paar Seemeilen, kaum weiter als die Insel des Spuckenden Feuers vom Festland entfernt lag. Es gab noch mehr Vulkaninseln im Süden, aber keine von ihnen war je bewohnt gewesen. Und weiter hinaus als bis zur Insel der Glühenden Steine war er nie gesegelt. Doch heute würde sich das ändern. Er würde bis in den tiefsten Süden reisen, wenn das nötig sein sollte, weit über den Äquator hinaus und bis zu den Feldern des schwimmenden Eises am Ende der Welt. Sie hatten genug Verpflegung für eine lange Reise und dies würde eine lange Reise werden, da war er sich sicher. Eine Reise ins Ungewisse, denn die Seekarten, die sie von südlich der Insel der Glühenden Steine besaßen, waren mehr als dürftig. Sie zeigten eine Menge Meer an, mit der Möglichkeit auf ein paar Inseln. Stan ließ sich den Wind um die Nase spielen und lächelte. Die Karte hatte viele weiße Flecken aufzuweisen. Er nahm sich vor, das zu ändern.

DIE REICHE VON ITHOR

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