Читать книгу ZU ZWEIT DURCH DIE ZEIT - Martin Cordemann & Lucien Deprijck - Страница 6
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ОглавлениеTeer und Feder verstanden kein Wort von dem, was der Mann ihnen aufgeregt mitteilte. Ein Farbiger in Uniform, mit einer Riesen-Knarre, die mindestens so gefährlich aussah wie Ripleys Flammenwerfer in „Aliens – Die Rückkehr“. Der Soldat winkte energisch mit der Hand, was wohl heißen sollte, sie sollten hier verschwinden.
„Was um alles in der Welt hast du da eingetippt?“ fragte Teer panisch.
„London, 13. Juni 1594“, sagte Feder. „Ich kenne Shakespeares Lieblingslokal und habe eine Ahnung, wo wir ihn finden könnten.“
Teer riß ihm das Kästchen aus der Hand. „Du Idiot!“ sagte er. „Hier steht Tondon, 31. Juni 1954! Kannst du nicht ein bißchen aufpassen!“
Der Soldat wurde indessen ungeduldig.
„What are you doin’ here?“ fragte er barsch. Zwei andere Uniformierte kamen näher.
„Wo zum Henker liegt Tondon?“ keuchte Feder, dem der Schweiß ausbrach. Vor Angst. Und vor Hitze. Eine drückende, tropische Hitze.
„Offenbar in Afrika. Hier ist ja der Teufel los. Scheint irgendein Aufstand zu sein. Irgendwelche Unruhen.“
Jetzt standen drei Soldaten vor ihnen, einer davon noch fast ein Junge, und genau der legte in jugendlichem Eifer seine Waffe an und schrie: „I kill you!“
„Um Himmels willen, drück schnell irgendwas!“ zischte Teer.
„Du hast doch jetzt das Ding. Drück du! Schnell! Irgendwas!!!“
Teer drückte irgendwas.
Sie materialisierten sich in … ja, was war das eigentlich? Ein Ort? Ein Zustand? Die Hölle? Überall waberten beißende gelbe Dämpfe, es war heiß und man bekam keine Luft. Teer und Feder röchelten und waren im Begriff zu ersticken. Feder, einen halben Meter entfernt und durch die Dämpfe kaum auszumachen, gestikulierte verzweifelt, und Teer tippte hektisch auf die Tastatur im Display des Kästchens ein.
Sie materialisierten sich … ja, wo eigentlich? Es war dunkel, stockdunkel, und kaum waren sie gelandet, stolperte Teer ins Leere, griff panisch nach Feder, riß ihn mit sich – und sie befanden sich im freien Fall. Brachen unisono in ein langgezogenes „Aaaaaaahhhhhhh!“ aus. Fielen und fielen – aber um Gottes willen, wohin?!
Teer sah in diesen Augenblicken sein ganzes Leben an sich vorbeiziehen. Sah seinen Onkel, bei dem er aufgewachsen war. Auch seine Tante. Sah sie deutlich vor sich, die doch so früh verstorben war. Sah sich selbst, wie er mit Feuerwerkskörpern und mit chemischen Substanzen experimentierte und Sprengsätze anfertigte, denen bei diversen Experimenten Mülltonnen, Parkbänke und das Gartenhaus eines Nachbarn zum Opfer fielen. Hörte noch einmal die Detonation des selbstgebauten Super-Knallfroschs, dem er verdankte, daß er seit seinem elften Lebensjahr auf dem linken Ohr nur noch begrenzt hörfähig war. Sah seine Freunde und Peiniger im Internat. Sah sich mit der frühreifen Annika und mit Olga, dem drallen Dienstmädchen, seine ersten Erfahrungen sammeln – was einen unauslöschlichen Hang zu sehr griffigen Weibsbildern begründet hatte.
Er sah sich als Student, als Doktorand und später im Standesamt und vor dem Traualtar. Dann vor dem Scheidungsrichter. Weil Thekla ihn mit diesem Thai-Mädchen bei der Spezial-Massage erwischt hatte. Sah sich endlos debattieren, debattieren, debattieren, mit Feder.
Feder!
Als sie im freien Fall kollidierten, spürte Teer, wie Feder ihm das Kästchen aus der Hand riß.
Und dann saßen sie plötzlich auf einem Bootssteg, an einem silberglänzenden See in den Bergen. Treibende Nebelschwaden, angenehm kühle Luft. Ruhe. Frieden. Statt Aufprall und Tod.
Feder war kreidebleich, er zitterte noch. „Was hast du da bloß gedrückt?“ fragte er, fast stimmlos.
„Na, irgendwas!“ sagte Teer. „Sollte ich doch. Und ich hab doch gar keine Ahnung, wie man das Ding richtig bedient.“
Er sah sich um. „Das ist doch der Waldsee bei der alten Jagdhütte deines Großvaters!“ sagte er. „Wo wir mal geangelt haben.“
„Ja“, sagte Feder. „Gott sei Dank!“ Er schnaufte gewaltig. „Also, paß auf“, sagte er. „Ich erklär dir jetzt erst mal dieses kleine Gerät. Den TTT.“
„TTT?“
„Time Travel Transponder. Eine erstaunliche Errungenschaft moderner Technik. So mancher würde es als völlig absurd bezeichnen. Hier: Einschalten … so. Auf Eingabe gehen. Und dann gibst du einen Ort und ein Datum ein. So genau wie möglich. Mit Uhrzeit, wenn’s geht.“
„Und wenn nicht?“
„Dann landest du bei adäquater Tageszeit, also so, wie du gestartet bist.“
„Okay. Und wie weißt du, wo du landest? Ich meine … zum Beispiel London. London ist ziemlich groß.“
„Das Gerät sucht nach Koordinaten. Das ist seine eigentliche Aufgabe. Du kannst sie ihm ganz genau vorgeben, aber nur indem du einen Ort so genau wie möglich angibst. Dann werden die Koordinaten errechnet. Bei ungenauen Angaben sucht das Ding nach günstigen Koordinaten. Das ist allein schon wichtig, weil wir ohne genaue Koordinaten irgendwo im Weltall landen würden. Wenn du nämlich, sagen wir mal, einen Tag in die Vergangenheit reist, dann ist die Erde nicht da, wo sie heute ist, sondern wo sie gestern war – und das rechnet das Steuerelement genau aus. Dieses kleine Ding ist ein hochentwickelter Computer mit größeren Kapazitäten, als je ein Gerät dieser Größe gehabt hat.“
Teer blickte es ehrfürchtig an. Sowas imponierte ihm, der einen ganzen Nachmittag in einem Dampfmaschinenmuseum verbringen oder sich stundenlang Konstruktionspläne von Hochbahnen und Wasserkraftturbinen anschauen konnte.
„Ist es nicht ganz erstaunlich, ja, geradezu unglaublich, daß du das in einem einzigen Tag bauen konntest?“
„Nein“, sagte Feder. „Nein!“ Teer zuckte mit den Schultern.
Feder fuhr fort. „Außerdem verfügt der TTT über einen Relief-Sensor. So errechnet er die günstigsten Koordinaten auch vor Ort. Schließlich wollen wir nicht in einem Steinblock materialisieren oder dort, wo früher ein Hügel war.“
Teer bekam jetzt erst einen Begriff davon, wie kompliziert Zeitreisen eigentlich war. Über solche Dinge hatte er sich vorher nie Gedanken gemacht. Ihm war es nur um das Prinzip gegangen, um die Formel, die es erklärte – und ermöglichte. Er war Mathematiker, Ballistiker, er verstand mehr von Theorie als von Praxis. Wenn man von seinem pyrotechnischen Unwesen in der Jugend einmal absah. Feder hingegen war der geborene Bastler und Konstrukteur, der überdies einen großen Teil aller je geschriebenen Zeitreise-Romane gelesen hatte – und genau bescheid wußte.
„Und wo sind wir da eben gelandet – bzw. geflogen?“ fragte Teer.
„Ich schätze, daß wir beim ersten Mal Milliarden Jahre vor unserer Zeit gelandet sind, irgendwo in den Tiefen der Erdgeschichte. Und beim zweiten Mal … Da du nur irgendwelche Zahlen eingetippt hast, ist der Ort immer der gleiche geblieben. Und irgendwann, vermutlich in sehr ferner Zukunft, wird es in Tondon, genau dort, wo wir waren, mal einen Abgrund geben. Und was für einen!“
„Das heißt, wenn ich keinen anderen Ort eingebe, bleibe ich am Ausgangspunkt. Und wechsle nur die Zeit.“
„Exakt.“
„Und warum sind wir jetzt hier, bei eurer hochherrschaftlichen Jagdhütte?“
„Das ist unsere Rettungs-Position. Habe ich eingespeist, für Notfälle. Wenn du nur die 1 drückst, landen wir immer hier. Nur die 1 drücken. Merk dir das!“
Teer sah mißmutig drein.
„Wäre es nicht klug gewesen, mir das alles vorher zu erklären – bevor wir uns in die Weiten von Zeit und Raum begeben?“
Teer und Feder waren nach ihren diversen Fehlversuchen und den reichlich aufregenden Abenteuern der vergangenen Tage und Stunden so erschöpft, daß sie erst einmal volle 12 Stunden schliefen, in der Jagdhütte. Feder hatte darauf bestanden, erst noch zu essen, aber Teer war schon am Tisch eingeschlafen.
Am folgenden Vormittag saßen sie entspannt am Kaminfeuer, betrachteten die diversen Jagdtrophäen, die Generationen von Feders durch sinnlose Knallerei erbeutet hatten, und machten darüber dumme Witze.
„Kann hier niemand hereinplatzen?“ fragte Teer. „Welches Jahr haben wir eigentlich?“ Er gluckste vor sich hin. „Nicht, daß du selbst gleich hier erscheinst …“ Mit einemmal sah er sehr betrübt aus. „Diese ganze Zeitreiserei …“ sinnierte er. „Ich glaube, ich habe schon genug davon. Irgendwie hatte ich mir das einfacher vorgestellt.“ Er paffte Zigarrenrauch hoch in die Luft.
„Wir müssen ein bißchen vorsichtiger sein“, sagte Feder. „Aber … jetzt fängt der Spaß doch erst an. Jetzt denken wir uns ein schönes Datum aus, in einem schönen Teil der Welt. Das geben wir ganz sorgfältig ein. Und wenn’s brenzlig wird, können wir immer die 1 drücken. Also … wohin soll’s gehen?“
„Wolltest du nicht mit Shakespeare Schweinshaxe essen?“
„Sicher, aber das kann warten. Du sollst das erste richtige Ziel bestimmen!“
So war Feder. Eine Seele von Mensch. Wollte seinem betrübten Freund eine Freude machen.
In den arg zusammengesunkenen Teer kehrte das Leben zurück. „Gut“, sagte er. „Dann sage ich: Paris! Paris im Jahre 1900! Am Montmartre. Im Sommer. August!“
Feder grinste freudig und tippte. „Paris, Montmartre im August 1900! Fertig? Und los!“
Feder blickte sich um. Die engen Gassen einer Stadt. Männer in steifen Anzügen und mit Hüten auf dem Kopf. Frauen in langen, taillierten Kleidern, eine davon mit Sonnenschirm. Sommer-Atmosphäre. Es war angenehm warm. Von irgendwoher erklang Akkordeonmusik. Und als er den Blick leicht wendete, sah er den Eiffelturm zwischen den Häusern, ziemlich weit entfernt.
Es hatte funktioniert. Das war Paris. Er war in Paris, im August 1900!
Er blickte sich um. Um und um und um.
„Wo zum Teufel …?“
Wo zum Teufel war Teer?