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Die Welt von Simon Rhomthal

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„Ich glaube, ich kann besser sein“, dachte Simon Rhomthal sich. Er wusste, dass er normal war, anständig, einer von vielen. Ein Prototyp eines gutbürgerlichen Mitteleuropäers. Jeden Morgen ging Simon Rhomthal früh zu seiner Arbeit, seine Brote schmierte er sich selber. Eingewickelt in das gleiche Nylon vom Vortag, trug er sie in seiner abgewetzten Tasche aus Kamelleder, die er aus seinem Tunesienurlaub mitgebracht hatte. Simon Rhomthal lebte alleine in seiner Eigentumswohnung am Rande des kleinen Bergs Zanzus, der auch gleichsam Hausberg des Städtchens Dorsis am Erdensee war.

Es war einer dieser spätherbstlichen Nebeltage; Simon Rhomthal wusste, dass sich seine Stimmung daher den ganzen Tag nicht bessern würde. Nur jene, die in der Lage waren, tagsüber auf die Anhöhen Zanzus oder die des Berges Hochboden zu fahren, konnten dieser Schwere des tief liegenden Nebels im Tal am Rhein entfliehen.

„Oft hängt dieser Nebel hier Tage lang fest. Er geht einfach nicht weg. Wenn ich nur diesen einen Auftrag erledigen könnte, hätte ich genug Geld, um dieses kalte Tal zu verlassen!“, murmelte er vor sich hin, auf dem Weg zu seiner Arbeit. Simon Rhomthal träumte oft davon, auszusteigen, einen neuen Weg zu beschreiten und die alte Last der täglichen Routine hinter sich zu lassen. Aber aus irgendeinem Grunde traute Simon Rhomthal sich nicht aus dieser Alltäglichkeit heraus. Er konnte die geißelnden Fesseln der Gesellschaft von Dorsis nicht so einfach ablegen. Zu katholisch war seine Erziehung, zu materialistisch seine heuchlerische Gegenwart.

„Guten Morgen, Frau Mayer!“, grüßte Simon Rhomthal die alte Frau, die sich fast jeden Tag aus dem ersten unteren Fenster des alten Rheintalhauses am Fuße des Zanzus heraus lehnte. Er stolperte fast über die letzte Stufe der Stiege des kleinen Weges, der an ihrem Haus vorbeiführte, als er versuchte, mit einer aufgesetzt freundlichen Miene seine sich heute anzukündende Depression zu verbergen.

„Wieso gibt es hier keinen anderen Weg vorbei?“, knurrte er, als er sich schon in Richtung Stadtzentrum bewegte.

Frau Mayer starrte ihm noch nach, bis er hinter der ersten Häuserzeile verschwand. Ein leichter Windstoß kündigte einen Wetter-umschwung an.

„Es müsste eigentlich kälter sein um diese Jahreszeit!“, rief ihm Frau Mayer nach. Sie beugte sich nach draußen, um möglicherweise die Sonne durch die dichte Nebeldecke zu erspähen. Erneut brauste ein leichter Luftzug durch ihr graues Haar, das sie, wie viele andere alten Frauen in dieser Gegend, zu einem traditionellen Knoten nach oben gebunden hatte. Ihr Wohnzimmer hinter ihr lag im Dunkeln. Wie viele Nachkriegswitwen war sie es gewohnt, zu sparen und jeden Cent mehrfach umzudrehen, bevor er ausgegeben wurde.

Als der Wind zum dritten Mal durch ihr Gesicht fuhr, zuckte sie ganz kurz zusammen. Parallel zu diesem Luftstoß hörte sie ein Knarren aus ihrer Küche, die sich direkt hinter ihrem Wohnzimmer auf der rechten Seite befand. Sie schloss das Fenster und humpelte langsam in Richtung Küche. Für die gut fünf Meter brauchte sie einige Minuten, da sie sich nach einem verheerenden Sturz auf einer Eisplatte vor ihrem Haus den Oberschenkelknochen gebrochen hatte. Aber der Schmerz kümmerte sie nicht. Sie war eine zähe Kämpfernatur.

„Die ganzen 93 Jahre in meinem Leben habe ich gekämpft“, erzählte sie Simon Rhomthal oft, wenn er an der alten Dame vorbeieilte. „Ich sah sie alle kommen und gehen, jeden von ihnen. Ich habe sie groß gezogen, ich habe sie leben gesehen, ich habe um sie geweint, als sie vor meiner Zeit dem Schöpfer gegenübertraten“, sprach sie zu sich selber, als sie an den Bildern von ihrer Schwester und den fünf Brüdern, die kurz vor dem Eingang in die Küche auf der rechten Seite befestigt waren, vorbeihumpelte.

Der Raum in der Küche war voller Erinnerungen: ein Foto ihres Mannes, ein Bild ihres Bruders, das Kreuz in der Gottesecke – die Küche einer alten Frau. Ohne zu ahnen, was sie in dieser dunklen Küche erwartete, trat sie ein.

Es war so, als ob sie nochmals ihr ganzes Leben sehen konnte, als sie über die Türschwelle trat. Dieser Schritt schien alles zu beinhalten und zu beantworten, was sie sich die letzten 93 Jahre, 7 Monate, 17 Tage, 7 Stunden, 3 Minuten und 5 Sekunden gefragt hatte. Langsam sank sie auf die Knie und landete unsanft mit dem Kopf auf dem Holzboden der Küche. Ihr Gesicht war immer noch in Richtung Fenster gedreht, das harsch durch einen letzten kräftigen Windstoß zugeschlagen wurde. In ihren blauen Augen, die starr und regungslos offen standen, reflektierten sich die ersten Sonnenstrahlen seit über einem Monat.

Simon Rhomthal drehte sich kurz um, als er die ersten Häuserfassaden der alten Villen im Stadtzentrum erblickte. Doch hinter ihm blieb alles ruhig, in der Ferne erkannte er einen Mann, der den Berg Zanzus hoch lief. Da er aber von der Sonne geblendet wurde, drehte er sein Gesicht wieder in Richtung Stadt. Für einen Moment hörte er auf seine innere Stimme, die in ihm ein neues, unbekanntes Gefühl erzeugte.

Fisherman ein Beobachter dieser Reise:

„Als alles in ihm blind und ignorant, egoistisch und vor Schmerz weinend, kalt und verglühend zugleich schien, hatte er nichts mehr, was ihn halten konnte, um seinem inneren Gewissen nochmals den Hauch einer Chance zu geben. Sein Körper schien in drogenkranker Ekstase, einem in der Erdatmosphäre verglühenden Kometen ähnlich zu werden. Die Schönheit seiner leuchtenden Hülle konnte der Katastrophe nur weichen, wenn er genügend Kraft besaß, um mit voller Wucht diese Erde zu erreichen, um einmal mehr dem ganzen Spuk ein Ende zu setzen“.

Eva-Maria Pauschberger war gerade damit beschäftigt, den Blumenstrauß, den sie für ihr zwanzigjähriges Jubiläum als Sekretärin der Abteilung für Geschichte an der Universität Dorsis bekommen hatte, in eine dunkelbraune ovale Vase zu stellen. Sie saß an ihrem Schreibtisch am Eingang des Großraumbüros IM01, in dem sich hauptsächlich Gastlektoren für ihren kurzen Aufenthalt als Vortragende niederließen. Ihre gute Figur und der moderne stufenförmige Pagenschnitt verliehen ihr aus der Ferne angesichts ihrer 44 Jahre ein jugendliches Aussehen. Dennoch, beim genaueren Betrachten entdeckte man in ihrem Gesicht tiefe Falten, die durch die vergilbte Haut noch verstärkt wurden. Sie hätte schon längst das Rauchen aufgeben sollen, doch ihre instabile Lebenssituation mit leichten Depressionsschüben ließ dies einfach nicht zu. Zu sehr wurde sie von den verschiedensten Männern in ihrem Leben gekränkt und ausgenutzt. Allzu sehr wollte sie das perfekte Glück erzwingen, steckte doch eine sensible, verletzliche Seele in diesem einst so strahlenden Körper. Jedoch konnte sie sich immer noch auf die kleinen Dinge des Lebens konzentrieren und sich tief fallen lassen. Wie dieser Blumenstrauß mit gelben und weißen Nelken, die an diesem kalten grauen Tag herrlich nach Frühling und Wärme dufteten. Mit einem weiteren Atemzug und geschlossenen Augen versuchte sie nochmals, für einen kurzen Moment der täglichen Einsamkeit zu entfliehen.

Sie bemerkte nicht, wie er an ihr vorbeilief, obwohl er ihr ein kurzes „Hallo“ zuwarf.

Als sie die Augen wieder öffnete, war Simon Rhomthal schon längst hinter dem ersten Bücherregal, das die verschiedenen Arbeitsplätze trennte, verschwunden. Er begab sich zum letzten Arbeitsplatz am Ende eines schmalen Korridors, der in einer kleinen Nische auf der linken Seite lag. Versteckt hinter tausenden von Fachbüchern und Zeitschriften fand Simon Rhomthal hier die Ruhe, die er an den größeren Arbeitsplätzen nie erreichen konnte. Simon Rhomthal legte seine Kamelledertasche auf den Tisch, verstaute seine Winterjacke aus Baumwolle hinter einer Bücherreihe im oberen Regal, setzte sich an seinen Schreibtisch und las in seinen mitgebrachten Unterlagen, die aus gut einem Dutzend lose zusammengelegter, von Hand beschrifteter Blätter bestanden.

„Psst!“

Simon Rhomthal drehte sich kurz um, doch hinter ihm stand nur ein Bücherregal, das sich bis zur Decke erstreckte.

„Psst!", ertönte es noch einmal hinter ihm.

„Verdammt, was ist denn heute los?", ruckartig drehte Simon Rhomthal sich um. Fast schon wie ein Boxer, der zum letzten Schlag ausholen wollte, hechtete er zum Bücherregal. Da bemerkte Simon Rhomthal einen leichten Schatten, der sich hinter den Spalten der einzelnen Bücher leicht bewegte.

„Ich bin’s! Alban!", flüsterte Alban Sickberger durch die Spalten des Regals hinter ihm. Mit nur einem Meter fünfzig Größe, gut hundert Kilo Körpergewicht, dunkler Haut, rabenschwarzen Haaren sowie einem karierten Sakko, das seine besten Zeiten schon längst hinter sich hatte, war Alban Sickberger eine bizarre Erscheinung. Er schien weit über sechzig zu sein. Dies wusste allerdings niemand so genau, da er als Überbleibsel der französischen Besatzungstruppen nach dem Zweiten Weltkrieg als Mischling nicht sehr leicht einzuschätzen war. Sickberger hatte sich einen Namen beim Beschaffen von geheimen Informationen im Bereich der Auftragsvergabe von neuen Bauvorhaben gemacht.

Die Politiker von Dorsis waren kulturell nicht sehr offen, abgesehen von vereinzelten volkstümlichen, alljährlichen Bräuchen. Doch was die Wirtschaft und das Bauwesen, sowie die Forschung und Entwicklung neuer Ideen anging, waren die Großen von Dorsis die Erfolgreichsten im Westland. Man munkelte, dass zwielichtige Gestalten wie Sickberger im Hintergrund immer wieder gute Arbeit leisten, um interessante Informationen frühzeitig, gegen reichhaltige Bezahlung an die potenziellen Käufer zu bringen.

„Sickberger, erstens glaube ich kaum, dass es mich interessiert, was du mir zu sagen hast, zweitens habe ich im Moment keine Zeit für dich, und drittens habe ich dir gesagt, dass ich dich hier nicht mehr sehen will!“, sagt Simon Rhomthal, drehte sich wieder in Richtung Schreibtisch und studierte weiter seine Unterlagen.

Simon Rhomthal hatte Sickberger vor zwei Jahren kennengelernt, als er noch arbeitslos und in ziemlichen Geldnöten gewesen war. Sickberger hatte ihm damals über zweitausend Euro geliehen. Dafür musste er aber diverse Beobachtungsaufgaben beim örtlichen Computersoftwarehersteller Ceyfexxis durchführen. Simon Rhomthal hasste es, sich so herabgelassen zu haben und wegen Sickberger in einer zwielichtigen Situation gelandet zu sein. Beim Beobachten von Ceyfexxis hatte man ihn auf Video aufgezeichnet. Ein paar Tage später flatterte schon die erste Anzeige wegen Betriebsspionage ins Haus. Vor Gericht hatte er Sickberger kein einziges Mal erwähnt. Simon Rhomthal gab an, arbeitssuchend, ein Auge auf die Firma geworfen zu haben, was ihm der zuständige Richter nicht wirklich abkaufte; es handelte sich schließlich um spätabendliche Aktivitäten. Dennoch wurde Simon Rhomthal mit einer Mahnung, der Firma fern zu bleiben, entlassen. Seitdem dachte Sickberger, ihm einen Gefallen zu schulden. Was in Wirklichkeit gar nicht Simon Rhomthal’s Wunsch entsprach. Er wollte nur in Ruhe gelassen werden und nichts mehr mit den Aktivitäten der Unterwelt zu tun haben.

„Psst!“, summte Sickberger noch einmal durch das Bücherregal. Sickberger nervte ihn nun so gewaltig, dass Simon Rhomthal nochmals ruckartig aufsprang und hinter dem Bücherregal, wo Sickberger stand, verschwand. Simon Rhomthal schubste Alban Sickberger an die gegenüber liegende Wand.

„Was um alles in der Welt ist los mit dir, Sickberger? Ich will mit dir nichts mehr zu tun haben!“, schrie in Simon Rhomthal an. Sickberger war sichtlich von diesem Schubser überrascht, da er mit seinem Gewicht der Stärkere von beiden war. Dennoch fing er sich gleich wieder.

„Ich weiß, wo die Doloris-Rolle ist!“, sagte Sickberger. Simon Rhomthal ließ sofort von Sickberger ab und blieb für einen Moment regungslos mit starrem Blick vor ihm stehen.

Die sieben Steine

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