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Wenn Steine sprechen

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In der Vergangenheit ...

06.07.117 nach Christus, Jerusalem, Anhöhen von Golgatha. Rund zwei Dutzend spärlich bekleidete, von der Sonne gebräunte Männer waren mit dem Ausheben einer Grube beschäftigt. Auf Befehl von Kaiser Marcus Ulpius Traianus wurde hier ein römischer Tempel zu Ehren des Gottes Elagabal errichtet. Elagabal galt als Berg-Gott, der von Kaiser Traianus verehrt wurde. Der Kaiser war auf seinen frühen Feldzügen in das heutige Deutschland öfters über die Alpen gereist. Er erlebte die Berge als mystische Region, der er nahe stand.

Der Tag neigte sich zur letzten hellen Stunde hin, als Ismael Hibääus erneut mit seiner Schaufel in die harte Erde vor sich einstach. Ismael war Mitte dreißig, doch wirkte er als Konsequenz der harten Sklavenarbeit um einiges älter. Seine Haare waren kurz und schwarz. Ein gut zwanzig Zentimeter langer Bart schützte ihn vor der heißen Sonne. Er arbeitete am tiefsten Punkt in der dreißig Mal dreißig Meter großen Aushebung. Seine Hände waren dunkel von der Erde und überzogen von Schwielen. Den Schweiß wusch er sich mit einem am Arm umwickelten Tuch vom Gesicht. Außer einem weiteren Fetzen Stoff, den er wie eine Windel um seine Beine gewickelt hatte, trug er keine Kleidung mehr an sich. Er war Lehrer im Dorf Miron in der Nähe von Safed gewesen.

Eines Tages waren römische Legionäre gekommen und versklavten ihn sowie einige seiner Freunde und Dorfmitbewohner. Miron war bekannt für seine Gelehrten. Jene sollten nun den Bau des römischen Tempels als Erniedrigung ihres Glaubens durchführen. Ismael Hibääus machte die Arbeit nichts aus. Er war zwar knochendürr, aber von unbeugsamem Überlebenswillen gestärkt. Seit zwei Wochen waren sie nun schon am Graben. Genau so lange versuchte Ismael, einen Weg zur Flucht zu finden. Er wusste, dass ein missglückter Fluchtversuch mit der sofortigen Kreuzigung bestraft wurde. Dennoch wollte er auf keinen Fall sein Leben in Sklaverei verbringen. Doch dem Tod wollte er noch nicht ins Auge sehen. Zu viele Bauvorhaben der Römer brauchten immer mehr Sklaven. Zu wenig war das Leben eines Einzelnen wert.

„Ich werde diesen Tag nicht verfluchen, weil er nicht mein letzter sein wird!", murmelte Ismael in seiner Grube vor sich hin. Der letzte Spatenstich für diesen Tag, ein letztes Mal griffen die zarten Hände Ismaels den Spaten; mit Wucht durchbrach er einen Stein. Der Stein war glatt, von Menschenhand gemacht. Dennoch hatte er tief unter der Erde, ohne jeden scheinbaren Zusammenhang mit den anderen Gebäuden, gelegen. Ismael drehte sich, um zu sehen, ob eine der Wachen ihn beobachtete. Als er merkte, dass diese ihm keine Aufmerksamkeit schenkten, setzte er seinen Spaten erneut für einen weiteren Stich an. Doch diesmal war es anders. Ismael entdeckte vor sich im Dreck einen ovalen Steinkrug, der durch die Wucht von seinem Stoß in zwei Teile zerbrach. Er bückte sich, löste die eine Hälfte des Tonkruges und entdeckte zu seinem Erstaunen eine kleine beschriftete Platte.

Als er aufstand, ging die Sonne vor ihm wieder auf. Sein Land färbte sich orangerot. Seine großen dunklen Augen konnten die Schönheit seiner Welt kaum verlassen. Gräser, Bäume, Sträucher, verzweigte Wege, umsäumt mit Olivenbäumen, sowie Maisfelder, die am Horizont mit dem morgendlichen Lichtspiel eins wurden. Eine große, ältere Frau erschien hinter ihm und tippte ihn auf seine linke Schulter. Ein leichter Nordwind ließ Bäume und Sträucher in einer Harmonie hin und her wippen. Aaren, sein Land, seine Heimat, sein Glück. Sein erster Schritt in diese Welt. Sein Vater, alt und weise, erzählte ihm die Geschichten seines Landes und seiner Vorfahren. Seine Mutter, mit der er noch immer in innigster Verbindung stand, war die Quelle seiner Liebe.

Es war ein Moment, der nicht besser zu beschreiben wäre, als der perfekte, nicht zu erstickende, wahre Augenblick.

Er sank zu Boden. Die letzte Minute des Tages war angebrochen. Das Schwert durchbohrte sein Herz durch den Rücken. In seiner Hand hielt er die kleine Platte. Erst bei der dritten Kontrollsperre konnten sie ihn stoppen.

In der Gegenwart ...

Simon Rhomthal sah sich selber in den dunklen Augen von Alban Sickberger.

„Wo ist sie?", fragte er nach längerer Pause. Sickberger fiel zurück in seine Rolle des Informanten mit dem Wissen, dass hier eine gute Möglichkeit für ihn bestand, ein Geschäft nach seinem Geschmack abzuwickeln. Er richtete seine grasgrüne Krawatte und zupfte sein kariertes Sakko glatt.

„Nun, es gab Gerüchte über die Pfandhäuser im Westen. Ein gewisser Jemand hat sein Erbe erhalten und die scheinbar wertlosen Gegenstände verscherbelt“, sagte Sickberger.

„Wo ist sie?", beharrte Simon Rhomthal in einem sehr energischen Tonfall. „Was soll mich diese Information kosten, Sickberger?" Simon Rhomthal wusste nur zu gut, dass Sickberger ihm niemals so eine Information gratis zur Verfügung stellen würde. Was ihm mit seiner vorsichtigen Natur sehr skeptisch werden ließ. Sickberger guckte ihn mit gerunzelter Stirn an

„Nur ruhig, junger Freund! Es ist nicht das erste Mal, dass wir Geschäfte machen und nicht das letzte Mal, so hoffe ich. Die Behörden haben mich wieder mal fälschlicherweise wegen so einer blöden Sache in der Zange. Ich brauche eine kleine Gefälligkeit, die nur mit deiner Fähigkeit, Dinge über den Computer zu regeln, möglich ist. Du musst dich in den Zentralrechner der Behörde reinhacken, ich brauche eine Information“, sagte Sickberger ruhig.

„Niemals, Sickberger! Diese Zeiten sind vorbei.", brüllte Simon Rhomthal Sickberger in das Gesicht. Verwundert darüber, dass er so eine starke Stimme besaß. Für einen Moment wurde es ruhig. Sickberger schien sich nicht auf lange Diskussionen einzulassen und marschierte Richtung Ausgang. Er wusste, dass er keine fünf Meter gehen musste, bevor er zurückgerufen wurde. Zu sehr hatte Simon Rhomthal sich mit der Doloris Rolle beschäftigt. Aber eine Sackgasse nach der anderen ließ ihn immer wieder vor dem Nichts enden.

„Das letzte Mal Sickberger, das letzte Mal! Sollte diese Information nichts bringen, werde ich die Behörden persönlich über dich informieren! Nun rede!“, sagte Simon Rhomthal laut.

„Es handelte sich sehr wohl um eine Katze im Sack, die dort zur Versteigerung angeboten wurde. Nichts von Belang. Holzfiguren aus Afrika, ein Stapel alter Landkarten, Ende 19. Jahrhundert, ein Kompass. Darunter gab es allerdings auch eine ganze Reihe von Platten und Aufzeichnungen, auf denen seltsame Schriftzeichen prangen. Arabisch, so denke ich. Ich habe bei der Auktion in der Vorstadt gehört, wie einer der Käufer sich sehr über den zu viel bezahlten Preis geärgert hatte. Die angepriesene Zusammenfassung aller Gegenstände war ein kleines Buch in dunkles Leder eingebunden, das ebenfalls Inhalt der Kiste war. Das erregte natürlich gleich meine Neugier. Ich näherte mich dem Bauern, der die Kiste ersteigert hatte, und blickte ihm über die Schulter. Das Buch war in alter Schrift gehalten, dennoch ganz eindeutig in englischer Sprache verfasst. Da seine Fremdsprachkenntnisse nicht sehr gut zu sein schienen, bat er mich, es ihm zu übersetzen. Du weißt, dass ich eine Vorliebe für afrikanische Kultur hege“, sagt Sickberger höhnisch.

„Ich weiß nicht, ob Elfenbeinschmuggel und Ausbeutung der afrikanischen Armut dich als Experten auszeichnet! Sickberger, du bist krank!", spuckte er in einem sehr sarkastischen Tonfall aus.

„Lass mich weiter reden! Neben unzähligen Reiseberichten in dem Notizbuch tauchte auch ein Besuch in Ägypten auf. Ich glaube, er lautete so:

>19. Oktober 1870

... ein Händler auf dem alten Basar in Kairo erweckte meine Neugier. Auf einem Tuch aus feinster Seide zeigte mir der Händler eine Sammlung kleiner Platten mit mir unbekannter Inschrift. Auf meine Anfrage hin sagte der Händler, es wären die Geschichten der Doloris. Ich kannte diese Geschichten nicht. Die Objekte waren auch nicht Ziel meiner Einkäufe. Dennoch musste ich sie aus einem unbekannten inneren Drang unbedingt für mich haben. Seltsam schien mir aber, dass der Händler nach meinem Kauf aufstand, und in Richtung Westen ging, ohne sich einmal umzudrehen. Sein gesamtes Hab und Gut ließ er einfach zurück.<

Doloris, ohne Zweifel, ich habe es gelesen. Der Inhalt dieser Kiste zeigt den Weg zu der Doloris Rolle oder zu den Doloris-Rollen, was auch immer!“, sagt Sickberger.

Simon Rhomthal drehte sich von Sickberger weg. Ganz in sich gekehrt, konnte er im Moment nichts mehr in sich hineinlassen.

Sickberger versuchte, ihm nochmals seine Situation klar zu machen. Er bat ihn, baldigst seine Information zu beschaffen, da er sonst in Schwierigkeiten stecken würde. Doch Simon Rhomthal war tief in sich mit nur einer Frage beschäftigt. Seit er als junger Mann mit knapp siebzehn Jahren von der Rolle erfahren hatte, dachte er an Aufzeichnungen auf Papyrus, Leder oder ähnlichen Materialen. Von Platten hatte sie nie gesprochen. Die Rolle, die den Sinn ergibt, sollte aus Papier sein. Platten für Hinweise auf die Rolle waren Simon Rhomthal neu. Es sei denn, es handelte sich hier wirklich um eine Art Steinplatte, die älter war als organisches Material wie Papyrus. Das machte so keinen Sinn. „Ich muss mit ihr reden. Ich muss den Bauern finden", sagte er zu Sickberger, der kein Wort zu verstehen schien. Hastig warf Simon Rhomthal seinen Mantel über und begab sich in Richtung Ausgang. Als er an Eva-Maria Pauschberger vorbeilief, grummelte er nur kurz: „Wir sehen uns später, Eva!“, bevor er hinter der überdimensionierten Eingangstür der Bibliothek verschwand.

Eva-Maria Pauschberger wollte noch kurz etwas sagen, aber sie wurde von seinem hastigen Abgang sichtlich überrascht. Sie drehte sich wieder Richtung Computer und schrieb ihre angefangene E-Mail weiter. Sie freute sich auf den heutigen Abend. Bartrefftag in der Fonzusbar. Simon Rhomthal war auch meistens dabei.

Die sieben Steine

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