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Karneval des Völkerrechts

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Das Völkerrecht, oder der außerhalb des deutschen Sprachraums verwendete Begriff Internationale Recht, ist ein unübersichtliches Sammelsurium von Verträgen, Abkommen, Präzedenzfällen und, ganz banal, der realpolitischen Fähigkeit mächtiger Nationen, ihre Standpunkte anderen weniger mächtigen Ländern aufzudrücken. Es gibt keinen fest definierten Kodex, in welchem man Paragraph für Paragraph nachschlagen könnte, welches Verhalten rechtens ist und welches nicht. Selbst die Definition von Staaten ist nicht einfach. Wann existiert ein Staat? Sind der Kosovo, Abchasien oder der Orden der Ritter von Jerusalem und Malta souveräne Staaten oder nicht? Rein völkerrechtlich betrachtet haben sich die beiden provisorischen deutschen Staaten mit der Angliederung der DDR an die BRD (rechtlich kann nicht von einer Wiedervereinigung gesprochen werden) von selbst aufgelöst. Da sich das deutsche Volk – wie für diesen Fall vorgesehen – keine Verfassung gab, könnte argumentiert werden, dass wir derzeit in einem rechtlosen Raum leben, denn völkerrechtlich gesehen, existiert zwar das Deutsche Reich weiter, nicht aber BRD und DDR. Dies mag zwar obskur klingen, aber auch in der Koreafrage stolpern wir allenthalben über derartige völkerrechtliche Absurditäten, von denen einige eine versteckte Brisanz haben, die im Ernstfall zum Tragen kommen könnte.

Wenden wir uns zunächst einmal dem Land Korea zu. Es gibt völkerrechtlich gesehen eindeutig nur ein einziges Korea. Dessen Grenzen sind ebenfalls klar, sieht man von einigen ungeregelten Seegrenzen mit Japan ab. Im Gegensatz zu Deutschland, das seine derzeitige Form erst im zwanzigsten Jahrhundert gefunden hat und bei dem die Abtrennung Österreichs und Zugehörigkeit des Saarlands erst nach dem letzten Krieg eindeutig geklärt wurden, besteht Korea als völkerrechtlich klar definiertes Subjekt spätestens seit der Joseon-Dynastie. 1392 gegründet stellte sie 1910 bei ihrer Abschaffung durch die japanischen Eroberer eine der weltweit ältesten Dynastien überhaupt dar. Die völkerrechtlichen Grenzen Koreas sind damit die Grenzen des Königreichs der Joseon. Auch kulturell ist die Definition Koreas bedeutend einfacher als die Deutschlands, Koreaner mussten sich nie mit solchen Fragen auseinandersetzen, ob z.B. Franz Kafka, Elias Canetti oder Friedrich Dürrenmatt als Bestandteil der deutschen Kultur zu bezeichnen sind oder doch nicht.

Dafür gibt es keinen Namen für das Land. Der Norden nennt sich nach dem alten Königreich Goryeo, während der Süden sich als Land der Großen Han bezeichnet. Der Begriff „Korea“ existiert im Koreanischen schlichtweg nicht. Eine wichtige völkerrechtliche Besonderheit betrifft die Souveränität. Korea war seit Jahrhunderten nicht souverän, sondern ein Vasallenstaat Chinas. Dabei sollte an dieser Stelle angemerkt werden, dass der Begriff „China“ im Chinesischen und Koreanischen nicht existiert. Der Kaiser zu Peking herrschte über Tian Xia, unter dem Himmel, also über die gesamte Welt. Der Landesname Volksrepublik China lautet korrekt übersetzt „Volksrepublik der Zentralen Zivilisation“. Erst durch die japanischen Siege gegen China 1895 und Russland 1905 wurde die Joseon-Dynastie von Japan gezwungen, ihr Vasallenverhältnis zu China zu lösen. Dieser Schritt brachte jedoch nicht die nationale Souveränität, sondern leitete die Annexion durch Japan 1910 ein.

Mit der Kapitulation Deutschlands im Zweiten Weltkrieg änderte sich die Lage in Fernost. Die Sowjetunion hatte sich widerwillig dazu verpflichtet, gegen Japan eine zweite Front zu errichten. Großes Interesse daran hatte Stalin zunächst nicht, denn er war auf seinen Machtausbau in Ost- und Mitteleuropa konzentriert. Amerika wollte Japan so schnell wie möglich und mit so wenig wie möglich eigenen Verlusten besiegen und den europäischen Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden ging es in erster Linie darum, ihre Kolonien wieder unter Kontrolle zu bringen. An Korea dachte dabei so gut wie niemand. Für Präsident Franklin Roosevelt und General Douglas MacArthur stand der Sieg über Japan im Vordergrund. Erst als im Sommer 1945 die Bereitstellung der Atombombe in greifbare Nähe rückte, änderten sich unter Roosevelts Nachfolger Harry Truman die Präferenzen. Roosevelt hatte noch eine zeitlich befristete Treuhandschaft der zu gründenden Vereinten Nationen für Korea befürwortet. Die sich abzeichnende militärische Fähigkeit der Roten Armee, ganz Mandschukuo und Korea zu besetzen und kommunistische Marionettenregierungen einzusetzen, veranlasste die US-Regierung nunmehr auf eine Teilung Koreas in zwei Besatzungszonen hinzuarbeiten.

Als die Rote Armee am 8. August ohne Kriegserklärung das formal neutrale Kaiserreich Mandschukuo überfiel, stieß sie auf keinen nennenswerten militärischen Widerstand. Es war absehbar, dass die sowjetischen Streitkräfte auch die gesamte koreanische Halbinsel besetzen würden. Dies veranlasste die amerikanische Regierung zum Handeln. Nach der Kapitulation Japans wurden die japanischen Besatzungstruppen gebeten, ihre Besetzung des Südens bis zum Eintreffen amerikanischer Truppen aufrechtzuerhalten. Stalin hielt sich an das vereinbarte Abkommen über die Errichtung der beiden Besatzungszonen.

Die Einheit Koreas stand nie zur Debatte. Ebenfalls war es Konsens, allerdings kaum diskutiert, dass Korea nach dem Krieg seine Unabhängigkeit erlangen sollte. Eine Teilung des Landes war zu keinem Zeitpunkt vorgesehen. Die Einrichtung der beiden Besatzungszonen jedoch schuf eine Situation, die letztendlich auf eine Teilung hinauslaufen musste, da weder Sowjetunion noch USA geneigt waren, die eigene Besatzungszone in das ideologische Lager der Gegenseite zu entlassen.

Nachdem die Verhandlungen über die Neuerrichtung des koreanischen Staates zwischen den USA und der Sowjetunion keine Ergebnisse gebracht hatten, wendeten sich die USA an die Vereinten Nationen, welche daraufhin die UN Temporary Commission on Korea UNTCOK ins Leben riefen, welche unter anderem die Abhaltung freier Wahlen überwachen sollte. Die Sowjetunion verweigerte jedoch die Zusammenarbeit und die UNTCOK konnte daher im Sommer 1948 die ersten allgemeinen Wahlen Koreas nur im Süden verfolgen. Am 15. August 1948 wurde die Republik Korea in Seoul gegründet und von den Vereinten Nationen als rechtmäßiger Koreanischer Staat anerkannt. Als Reaktion darauf wurde am 9. September 1948 im Norden die Koreanische Demokratische Volksrepublik ausgerufen, die jedoch nur von der Sowjetunion und ihren Verbündeten anerkannt wurde.

Beide Staatsgründungen können wie die der BRD und DDR als Provisorien gesehen werden, denn beide verfolgten von vornherein nicht das Ziel einer Wiedervereinigung, sondern einer Eingliederung des jeweils anderen Staates. Während die DDR jedoch das Ziel der Eingliederung im Laufe der Zeit aufgab und sich als eigenständiger Nationalstaat zu etablieren versuchte, erhalten in Korea beide Staaten den Alleinvertretungsanspruch bis heute aufrecht.

Der Koreakrieg brachte nun wichtige völkerrechtliche Veränderungen. Bei Kriegsausbruch boykottierten die Sowjetunion und deren Verbündete die Vereinten Nationen. Der Sitz der Sowjetunion im Sicherheitsrat blieb daher unbesetzt. Die Volksrepublik China wurde erst 1971 Mitglied der UNO, 1950 saß die Republik China als Vetomacht im Sicherheitsrat.

Nach dem Kriegsausbruch übernahmen die Vereinten Nationen die Führung der militärischen Operationen in Korea. Zu diesem Zwecke wurde das United Nations Command in Korea UNC gegründet, welches das militärische Hauptquartier der UNO darstellt. Im Prinzip hatten die Vereinten Nationen damit Nordkorea den Krieg erklärt, völkerrechtlich gesehen kann man den Koreakrieg aber nicht als Krieg bewerten, denn dieser wird ausschließlich zwischen Staaten geführt. Weder die Koreanische Demokratische Volksrepublik noch die später in den Krieg eingetretene Volksrepublik China waren jedoch als Staaten anerkannt. Der nördliche Teil Koreas war nach Ansicht der UNO Teil der Republik Korea, das Gebiet der Volksrepublik China Teil der Republik China. Die Sowjetunion griff niemals direkt in die Kämpfe ein. Sowjetische Flugzeuge mit sowjetischen Piloten flogen immer unter nordkoreanischem Hoheitszeichen.

So gesehen handelt es sich beim Koreakrieg um einen Bürgerkrieg, bei dem die UNO die offiziell anerkannte Regierung unterstützt, während die nördliche Bürgerkriegsseite Unterstützung durch Söldner (sowjetische Piloten) und eine ausländische Bürgerkriegspartei erhält, denn die chinesische Volksbefreiungsarmee ist juristisch gesehen die Parteimiliz der Kommunistischen Partei Chinas.

Obwohl die UNO die Republik Korea als einzigen legitimen koreanischen Staat anerkannte, wurde Südkorea nicht in die UNO aufgenommen. Das UNC war das militärische Oberkommando aller Truppen in Korea, aber da Südkorea nicht UN-Mitglied war, durften auch keine südkoreanischen Offiziere dort ihren Dienst ableisten. Die Truppen Südkoreas standen unter ausschließlich ausländischem Kommando. Südkorea hatte damit einen erheblichen Teil seiner gerade erst erlangten Souveränität wieder abgegeben.

De facto war Südkorea während und in den Jahren nach dem Krieg eine Art Protektorat der UNO, wobei ebenfalls de facto die USA alle nennenswerten Entscheidungen trafen, da sie das UNC personell völlig dominierten.

Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens am 27. Juli 1953 ändert sich die völkerrechtliche Lage. Unterzeichner sind die Koreanische Demokratische Volksrepublik und für die UNO das UNC. Diese Unterzeichnung stellt auch eine diplomatische Anerkennung Nordkoreas dar, welche 1991 mit der zeitgleichen Aufnahme beider Koreas in die UNO ihren Abschluss findet. Die juristischen Widersprüche sind offensichtlich. Die UNO erkennt auf der einen Seite ausschließlich Südkorea als legitim an, akzeptiert aber den Norden als Mitglied. Der Norden tritt einer Organisation bei, welche mit ihm selber im Kriegszustand ist. So ungewöhnlich ist ein solches Paradoxon aber auch wieder nicht: Deutschland befindet sich schließlich offiziell auch noch mit der halben Welt im Krieg, da nie ein Friedensvertrag unterzeichnet wurde.

Als Letztes soll noch ein Blick auf die völkerrechtliche Lage Chinas geworfen werden. 1950 wurde das Land noch von der Republik repräsentiert, seit 1971 verkörpert die Volksrepublik das Land. Auch in China beharren beide Bürgerkriegsgegner auf dem Alleinvertretungsanspruch, allerdings haben sich die Beziehungen in den letzten Jahren so verbessert, dass ein erneuter Bürgerkriegsausbruch extrem unwahrscheinlich ist. Politiker beider Seiten haben auch schon Bemerkungen fallen lassen, nach denen es nicht auszuschließen wäre, wenn in absehbarer Zeit erste Gespräche über einen offiziellen Friedensschluss beginnen könnten. Der rechtlich wichtige Aspekt hinsichtlich Koreas ist, dass die Volksrepublik heute eben Mitglied der UNO ist. 1950 konnte sie ohne Probleme gegen die UNO ins Feld rücken, da ihr die UNO die Anerkennung verweigerte. Heute wäre es für China sehr viel schwieriger, sich entsprechend zu rechtfertigen. Außerdem kam es bei dem Wechsel der UN-Anerkennung von Republik zu Volksrepublik zu einer Panne: Die Republik China kündigte ihre Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen auf, noch bevor diese den Sitz auf die Volksrepublik übertragen hatte. Bei genauer juristischer Betrachtung ist also China seit dem 21. Oktober 1971 gar kein Mitglied mehr in der UNO und damit entfällt auch das Vetorecht. Ein Verfahrensfehler, der bei einer wirklich heißen Eskalation der Koreakrise durchaus „entdeckt“ werden könnte.

Was bedeuten diese völkerrechtlichen Besonderheiten heute? Im Gegensatz zu allen anderen Konfliktfällen hat hier die UNO kein Mandat erteilt, sondern ist selber Akteur. Bei einem Mandat wird interessierten Mitgliedsstaaten die Erlaubnis erteilt, in einem anderen Staat zu bestimmten Konditionen zu intervenieren, z.B. um einen Bürgerkrieg zu beenden. Im Fall des Koreakrieges forderte die UNO ihre Mitglieder auf, Truppen zu stellen. Fast alle nichtkommunistischen Länder, die über die benötigten militärischen Kapazitäten verfügten, kamen damals dieser Aufforderung nach: von Äthiopien über die Türkei bis Australien. Deutschland, Japan und Italien waren seinerzeit entmilitarisiert und ein großer Teil der heutigen Nationalstaaten noch nicht aus der kolonialen Abhängigkeit entlassen. Japan stellte sein Territorium der UNO zur Verfügung, um dort Militärbasen zu errichten.

Der Koreakrieg stärkte die Rolle der Vereinten Nationen. Die Sowjetunion musste ihre Blockade der UNO aufgeben und die Volksrepublik China setzte alles daran, die Republik China zu verdrängen. Würde diese große Solidarität heute noch funktionieren? Sehr viel mehr Länder als 1950 haben heute militärische Mittel, die sie bereitstellen könnten, Deutschland selbstverständlich eingeschlossen. Ein neuerlicher Krieg könnte über die Zukunft der Vereinten Nationen entscheiden. Eine große globale Solidaritätswelle könnte die UNO stärken und ihr eine neue Bedeutung geben, ein Ausbleiben von Unterstützung jedoch würde das System der Vereinten Nationen nachhaltig schwächen und ihre Rolle als Friedenswächter geradezu ruinieren.

Für Deutschland würde sich die verfassungsrechtliche Frage stellen, inwieweit einer Aufforderung der UNO an die Bundesrepublik, Truppen zu stellen, nachgekommen werden kann oder sogar muss. Ist ein Angriff auf die Vereinten Nationen auch ein Angriff auf die Bundesrepublik? Für Österreich würde sich die Frage stellen, inwieweit eine solche Aufforderung der eigenen Neutralität widerspricht oder ob es sich auch auf einen Angriff auf das eigene Land handelt. Deutschland strebt nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat, Wien ist nach New York und Genf der dritte UNO-Sitz. Eine Verweigerung der Unterstützung dürfte auf alle Fälle Konsequenzen haben, die den spezifischen Interessen dieser Länder zuwiderlaufen würden. Nur Schweden und die Schweiz sind offiziell neutral, sie stellen als „Neutrale“ Militärbeobachter in der Entmilitarisierten Zone.

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