Читать книгу Korea - Martin Guan Djien Chan - Страница 7

Vorspiel auf dem Kriegstheater Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen …

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Ein Albtraum. Stellen Sie sich vor, Sie lassen Ihren Feierabend ganz entspannt vor dem Fernseher ausklingen. Ein Tatort, eine Seifenoper oder sogar etwas Anspruchsvolleres. Es ist kurz nach elf Uhr abends. Plötzlich blendet der Sender einen Lauftext ein: „Krieg in Korea. Seoul liegt unter Beschuss!“ Eventuell wird das Programm sogar für eine Sondersendung unterbrochen. Wie dem auch sei, ob Sondersendung oder ob Sie auf CNN zappen, in den ruhigen Feierabend platzen Bilder der brennenden Millionenmetropole Seoul. Kein amerikanischer Videokrieg wie in Bagdad, bei dem man die Bilder aus der Kamera des anfliegenden Marschflugkörpers bis zu seinem Einschlag mitverfolgen konnte, sondern livegeschaltete Kameras aus der Sicht des Opfers. Die Kamera, sagen wir von CNN oder einem südkoreanischen Sender, filmt von der Straße oder dem Dach eines Hochhauses das totale Chaos und Flammeninferno einer bombardierten Stadt. Das sind keine Bilder eines „modernen“ Krieges, es sind Bilder wie aus Coventry oder Dresden, nur dass die Flugzeuge fehlen. Es sind Zehntausende von Artilleriegranaten, die eine der größten, modernsten und wichtigsten Metropolen der Welt innerhalb weniger Stunden in ein Flammenmeer verwandeln.

Halt! Das ist doch reine Phantasie!

Ist es das?

Kann so etwas passieren?

Ist das überhaupt möglich?

Und wenn ja, wie wahrscheinlich ist ein solches Szenario?

Fangen wir bei der letzten Frage an: Sie ist nicht zu beantworten. Um Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, benötigt man empirische Daten, die man entsprechend statistisch auswertet und berechnet. Mit anderen Worten, es sind Vergleichswerte vonnöten. Nordkorea und sein bizarres Regime sind jedoch auf ihre Weise einzigartig – und damit nicht vergleichbar. Was festgestellt werden kann, ist nur eines: Für das nordkoreanische Regime war und ist Krieg immer eine Option. Und wenn Nordkorea einen Krieg beginnt, dann, das kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, wird dieser Krieg ein totaler sein.

Doch nun zur Frage, ob es denn, rein technisch gesehen, überhaupt möglich ist, dass Nordkorea mit seiner hoffnungslos veralteten Artillerie die Hauptstadt eines der modernsten Flächenstaaten der Welt, der zudem über eine der schlagkräftigsten Streitkräfte verfügt, in Schutt und Asche legen kann?

Die Antwort ist leider: Ja! Die nördlichen Außenbezirke Seouls beginnen wenige Kilometer hinter der militärischen Waffenstillstandslinie. Das Stadtzentrum liegt im Schussbereich der schweren nordkoreanischen Artillerie und selbst Außenbezirke südlich des Stadtzentrums können von der Fern- und Raketenartillerie beschossen werden.

Kann so etwas passieren? Ja, es könnte tatsächlich passieren. Nicht zwangsläufig und es gibt genügend Grund zur Hoffnung, dass es nicht passieren wird, aber leider sprechen viele Indizien dafür, dass ein neuer Koreakrieg ausbrechen kann.

Diktatoren sind häufig unbelehrbar und weigern sich zu kapitulieren. In jüngster Zeit hatten wir Saddam Hussein, der in einem Erdloch aufgegriffen wurde, Zine el-Abidine Ben Ali, der ins saudische Exil flüchtete, Muhammad Husni Mubarak, der stur seine Niederlage bis zur Verhaftung ignorierte, und Muammar al-Gaddafi, der am Ende der Revolution gelyncht wurde. In Syrien ist die Präsidentenfamilie gewillt, alle auch noch so blutigen Mittel einzusetzen, um an der Macht zu bleiben. Warum sollte ausgerechnet das nordkoreanische Regime besonnener und humaner reagieren als die genannten gefallenen Diktatoren, deren Systeme im Vergleich zu Nordkorea geradezu liberal und menschlich wirkten?

Damit ist auch die erste Frage beantwortet: Nein, bei dem Szenario handelt es sich um keine Fantastik, Utopie oder Science-Fiction. Es ist schlichtweg das Worst-Case-Szenario einer real existierenden Situation. Dem letzen Überbleibsel des Kalten Krieges, der an dieser Stelle doch noch zu einem heißen und sogar atomaren werden könnte.

Und was bedeutet das für uns Europäer? Für den friedlich eingeläuteten Feierabend und den Morgen danach? Spielen wir das Horrorszenario doch einmal durch. Zunächst: Was geschah, wie konnte es dazu kommen?

Sie kennen wahrscheinlich den Film „Der Untergang“. Die nordkoreanische Führung sitzt seit zwei Jahrzehnten im mentalen Führerbunker, nur dass dieser aus mehreren luxuriösen Palastanlagen besteht. Psychologisch gesehen ist die Situation aber durchaus vergleichbar. Es ist offensichtlich, dass der (kalte) Krieg verloren ist. Im Gegensatz zu Hitler verläuft die Zeit für Kim Jong-il und heute für Kim Jong-un jedoch nicht in Stunden, sondern in Jahren. Ergo, wenn schon untergehen, dann richtig. Im Gegensatz zu Hitler verfügen die Nordkoreaner aber noch über militärische Mittel, die Millionen von Feinden vernichten können.

Diese Untergangs-Psychose des Regimes ist, wie wir später sehen werden, ein ganz entscheidender Faktor. Langfristig kann das Regime nicht überleben, Reformen sind nicht möglich, ohne die Macht zu verlieren, und ein politischer Umsturz würde zwangsläufig zum Tod der Herrschenden führen. Auch Hitler und seine wichtigsten Getreuen waren sich dessen bewusst. Der Kampf bis zur letzten Patrone, die Opferung der Hitlerjugend und des Volkssturms, die Flutung der Berliner U-Bahn – all dies lässt sich nur aus diesem Untergangsgefühl heraus erklären. Und genau aus diesem Grunde besteht im Fall Nordkoreas die durchaus realistische Gefahr, dass auch dieses Terrorregime kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch noch einmal alle Kräfte bündelt, einen letzten Ausbruchsversuch unternimmt, um doch noch Seoul im Sturm zu erobern. Trotz der letztendlichen Erfolglosigkeit einer solchen Verzweiflungstat wäre sie aus der Sicht der Herrschenden eine bessere Option, als sang- und klanglos im Chaos eines staatlichen Zusammenbruchs unterzugehen: Im Lichte der eigenen militaristischen Ideologie wäre eine solche Tat heroisch. Das einsame Nordkorea im verzweifelten Kampf gegen die überlegenen imperialistischen Mächte!

Ganz abgesehen davon kann man im Chaos eines totalen Krieges eher fliehen und untertauchen als bei einem einfachen Regimezusammenbruch. Auch dies wäre ein plausibler Grund für eine solche Wahnsinnstat.

Wie würde der Krieg beginnen, gäbe es Vorzeichen, wer wäre involviert?

Die zweite Frage dieses Abschnittes ist einfach zu beantworten: Es würde keine Vorzeichen geben. Wenn überhaupt, dann eine diplomatische Friedensoffensive, welche die Welt von den wahren Absichten ablenken soll. In den dreißiger Jahren gab es eine Karikatur mit der Bildunterschrift: „Es riecht nach Krieg, Hitler hat wieder eine Friedensrede gehalten.“ Diese Karikatur lässt sich problemlos auf Korea übertragen.

Die nordkoreanische Militärdoktrin kennt nur den Überraschungsangriff. Wie bei dem Überfall auf Polen würde irgendein Grund erfunden, damit ab 5:45 Uhr zurückgeschossen werden kann. Auf einen Schlag würden fast zehntausend Geschützrohre aller Kaliber die südkoreanische Hauptstadt beschießen. In der ersten Kriegsstunde würden über eine Million Granaten und Raketen Seoul „in ein Flammenmeer verwandeln“, wie es die nordkoreanische Propaganda regelmäßig androht. Hunderttausende von Soldaten, Reservisten, Milizionären würden erbarmungslos von ihren Offizieren auf die feindlichen Stellungen getrieben werden, um einen schnellen Durchbruch zu erlangen. Verluste, und mögen sie in die Millionen gehen, wären für das nordkoreanische Regime belanglos. Wer Millionen von Landeskindern verhungern lässt, während die Armee aufgerüstet, die Atombombe entwickelt wird und neue Paläste für den Geliebten Führer gebaut werden, der schreckt auch vor einem solchen Gemetzel nicht zurück.

Ganz gleich, ob die nordkoreanischen Angreifer den Verteidigungsring um Seoul durchbrechen oder nicht, die Metropole am Han-Fluss wird verwüstet, Hunderttausende von Zivilisten würden Opfer des erbarmungslosen Bombardements. Aber ebenso sicher ist, dass die 670.000 Mann starke südkoreanische Armee, nachdem sie acht Millionen gut ausgebildete und modern ausgerüstete Reservisten mobilisiert hat und damit zu einem der kampfstärksten Heere der Welt geworden ist, letztendlich den Sieg davontragen wird. Allerdings zu einem fürchterlichen Preis.

Und nun zur letzten Frage, wer involviert wäre: Im Prinzip die ganze Welt. Zwar kann der Koreakrieg der fünfziger Jahre auch als Bürgerkrieg betrachtet werden, völkerrechtlich jedoch ist er ein Krieg der Vereinten Nationen gegen Nordkorea gewesen. Der einzige Krieg übrigens, der jemals im Namen der UNO geführt wurde und, da offiziell nicht beendet, noch geführt wird. Inwieweit sich auch alle ihre Mitgliedsstaaten im Kriegszustand mit Nordkorea befinden, ist ungeklärt. Sollte dies so sein, würde sich Nordkorea, welches 1991 zusammen mit Südkorea aufgenommen wurde, mit sich selbst im Kriege befinden. Ein weites Feld für juristische Theoretiker. Fakt ist jedoch, dass die Vereinten Nationen in New York offiziell die prinzipiellen Entscheidungen treffen, selbst wenn die UN-Truppen auf dem Kriegsschauplatz fast ausschließlich von den USA und Südkorea gestellt werden. Der UN-Generalsekretär ist der oberste Befehlshaber, der Sicherheitsrat und die Generalversammlung sind die entscheidenden politischen Gremien und das militärische Hauptquartier der Vereinten Nationen in Korea UNC ist für die taktische Kriegsführung verantwortlich. In diesem Sinne wäre ein erneuter Koreakrieg ein Weltkrieg, da die UNO als Vertretung der Welt und der Menschheit in ihrer Gesamtheit die Verantwortung trägt.

Direkt involviert wären natürlich neben den beiden Koreas in erster Linie die USA, die nicht nur 28.000 Soldaten auf der Halbinsel stationiert haben, sondern auch als atomare Schutzmacht für Südkorea und Japan auftreten. Japan ist, entgegen landläufiger Meinung, in diesem Konflikt nicht neutral, denn es beherbergt sieben Militärbasen der Vereinten Nationen, von denen aus Nordkorea im Kriegsfall bombardiert werden würde. Die Volksrepublik China unterhält offiziell immer noch ein Militärbündnis mit Nordkorea und fungiert als Schutzmacht. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob es diesen Verpflichtungen im Fall eines erneuten Krieges nachkommen würde. Russland ist das einzige Nachbarland Koreas, welches seine Interessen in Nordkorea weitgehend aufgegeben hat und sich im Kriegsfalle höchstwahrscheinlich im Hintergrund halten würde. Abgesehen davon sind die russischen Streitkräfte in Fernost in einem dermaßen erbärmlichen Zustand, dass militärische Interventionen eher in einem blamablen Fiasko denn in einem gloriosen Sieg enden würden.

Zieht man einen Kreis mit einem Radius von fünfhundert Kilometern um die koreanische Halbinsel, erfasst also das geographische Gebiet, das in direkter Nachbarschaft zum Kriegsschauplatz läge, so kann man feststellen, dass in dieser Region über eine halbe Milliarde Menschen leben: die gesamte wirtschaftliche Supermacht Japan, die chinesische Mandschurei, welche das schwerindustrielle Herz des Reiches der Mitte ist, die Metropole Peking und wichtige Kernprovinzen wie Shandong, die als Heimatprovinz des Konfuzius als zivilisatorische Seele Ostasiens angesehen werden kann. Die beiden wichtigen Häfen Dalian (ehemals Port Arthur) und Tianjin, die den gesamten Norden Chinas einschließlich Peking versorgen, würden im Fall von Kriegshandlungen nur noch eingeschränkt, wenn überhaupt, von zivilen Handelsschiffen angelaufen werden können. Diese Häfen sind die Lebensadern der nordchinesischen Industrie. Der südkoreanische Hafen Pusan wäre für die zivile Schifffahrt gesperrt, was einem Ausfall Rotterdams oder Antwerpens gleichkäme (nicht Hamburg, denn dieser Hafen ist im Vergleich zu Pusan klein und bedeutungslos). Auch Yokohama, Lebensader Tokyos, würde unter Einschränkungen leiden. Der zivile Luftraum um Korea wäre aus Sicherheitsgründen nicht mehr passierbar. Sowohl Tokyo als auch Peking, beides Knotenpunkte höchster Bedeutung, würden nur eingeschränkt operieren können. Selbst die ehemals deutsche Kolonie Tsingtau an der Südküste Shandongs, die sich gerade anschickt der fünftgrößte Hafen der Welt zu werden und den ehemalig britischen Rivalen Hongkong hinter sich zu lassen, könnte betroffen werden. Tsingtau ist der Hafen für die chinesische strategische Erdölreserve.

Im Gegensatz zu Bürgerkriegen auf dem Balkan oder in Zentralafrika und zu militärischen Interventionen in Afghanistan oder im Irak würde ein erneuter Koreakrieg mitten in einem der wichtigsten globalen Wirtschaftszentren und nicht an der ökonomischen Peripherie stattfinden. Auf europäische Verhältnisse übertragen, mit ähnlichen Bevölkerungszahlen, würde dies bedeuten, dass ein atomar bewaffnetes Belgien mit mehreren Millionen Soldaten und 16.000 Geschützen das Ruhrgebiet überfällt und Frankreich droht, sollte es den Deutschen zu Hilfe eilen, Paris und ein weiteres halbes Dutzend Städte atomar einzuäschern. In Europa ist ein solches Szenario eine groteske Vorstellung, in Ostasien leider nicht. Ein Krieg, der eine Mischung aus Verdun, Blitzkrieg und atomarem Holocaust darstellen würde, inmitten einer dicht besiedelten Region, die zu den wichtigsten ökonomischen, politischen und kulturellen Gebieten der Welt gehört, der die Hauptstädte der zweit- und drittwichtigsten Wirtschaftsmacht der Welt direkt bedrohen würde, der mit Südkorea eine der wichtigsten Industrienationen zu einem großen Teil verwüsten wird – ein solcher Krieg träfe direkt ins Herz der menschlichen Zivilisation.

Führen wir das Szenario weiter. Als die al-Qaida-Selbstmordbomber in die Zwillingstürme des World Trade Centers rasten, töteten sie ungefähr dreitausend Menschen und zerstörten Gebäude im Wert von zehn Milliarden US-Dollar. Die Kursverluste an den Börsen vernichteten ein Vielfaches an Werten und bescherten der Welt eine kleine Wirtschaftskrise. Der Gesamtschaden wird auf vierzig Milliarden US-Dollar geschätzt. Der Tsunami, der große Teile Nordjapans verwüstete, legte auch einen Teil der Weltproduktion lahm, weil spezialisierte Fabriken nicht mehr liefern konnten. Die globale Automobilindustrie wurde von einem immensen Nachschubproblem heimgesucht. In kleinerem Maße führten 2011 die Überschwemmungen in Thailand zu einem ernst zu nehmenden Engpass bei Computerfestplatten. Nicht nur Japan, sondern auch Südkorea und Nordchina sind zentrale Produktionsstandorte der Weltwirtschaft. Südkorea hat sich an die Spitze der Hightech Nationen vorgearbeitet. Fällt Südkorea aus, so stehen auch in Deutschland viele Bänder still. Nordchina ist, global betrachtet, nicht ganz so wichtig, aber wenn Dalian und Tianjin von den zivilen Handelsflotten nicht mehr angesteuert werden können, wird auch das beträchtliche Auswirkungen haben. Aber diese Auswirkungen werden erst einige Wochen nach Kriegsbeginn zum Tragen kommen.

Bleiben wir in der Chronologie des Szenarios. Seit 5:45 Uhr wird also zurückgeschossen. Die asiatischen Börsen haben noch nicht geöffnet, in Europa ist es kurz vor Mitternacht. Die Wall Street bereitet sich gerade auf den Feierabend vor. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Börsenaufsichten einen Notfallplan für einen Koreakrieg haben und sämtlichen Handel innerhalb von Minuten auf unbestimmte Zeit aussetzen könnten. Insbesondere der elektronische, computerisierte automatische Handel müsste sofort unterbrochen werden. Keine Aktie, keine Devise dürfte mehr gehandelt werden. Ansonsten erschiene der Zusammenbruch der Lehman Brothers geradezu wie eine lustige Anekdote aus einem goldenen Zeitalter.

Im Vergleich zu einem Bombardement von Seoul mag dies nichtig sein, denn es werden bei einem Börsenzusammenbruch ja keine Menschen direkt getötet. Wenn man aber die Auswirkungen auf Länder der Dritten Welt betrachtet … Wie werden die Nahrungsmittelspekulanten reagieren? Wo brechen ganze Volkswirtschaften zusammen? Wie viele verarmte und hoch verschuldete Bauern im Punjab werden sich das Leben nehmen, weil die Kreditzinsen erneut steigen? Sicher, es werden nicht so viele Menschen an der Wirtschaftskrise sterben wie in der Hölle von Seoul, aber es wird ganze Länder ins Elend stürzen, die den Auswirkungen der internationalen Märkte hilflos ausgesetzt sind. Statistisch wird man diese Opfer nie erfassen können, aber es ist sicher, dass ein neuer Koreakrieg auch in Afrika und Südamerika seine Opfer fordern wird.

Aber es würden nicht nur die Börsen zusammenbrechen, sondern auch das Vertrauen in die internationale Ordnung, die eigene Regierung, die Verbündeten etc. Am wenigsten in Südkorea, denn dort wird man mit dem eigenen Überleben beschäftigt sein. Solange der Krieg tobt, wird diese Nation zusammenstehen, die Probleme kommen später. Aber was ist mit Japan und China? In beiden Ländern, die zunächst nicht direkt in den Krieg verwickelt sind, werden Fragen über Fragen aufgeworfen werden. In Japan: Können wir uns wirklich auf die Amerikaner verlassen? Ist unser Nachkriegspazifismus richtig? Sollten wir nicht lieber doch eine eigene Atombombe entwickeln? In China wird es noch komplexer: Auf welcher Seite sind wir? Sind wir nicht Verbündete? Finden wir Südkorea nicht eines der tollsten Länder und kennen wir nicht alle Popstars, Computerspiele und Seifenopern? Und letztendlich: Haben wir vielleicht 1950 die falsche Seite unterstützt? Die letzte Frage tangiert direkt den Herrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei. Das witzige – oder besser tragikomische – an der chinesischen Position ist, dass die Volksrepublik als Staat eigentlich keine wirklichen „Freunde“ hat. Das einzige Land auf der Welt, mit dem sich über die letzten Jahrzehnte eine bilaterale freundschaftliche Beziehung entwickelt hat, die über das übliche ökonomische und politische Kalkül hinausgeht, ist – Südkorea. Mit keinem anderen Land ist der kulturelle Austausch Chinas so tief und intensiv wie mit Südkorea. Aber auch diese Fragen werden erst langsam nach dem ersten Schock gestellt werden.

Wie würde es weitergehen nach Blitzkrieg und wahrscheinlichem Börsenzusammenbruch der ersten Stunden?

Der ursprüngliche Grund, warum Nordkorea ein unverantwortlich großes Maß seiner geringen Ressourcen in die Entwicklung der Atombombe steckt, war der, in einem erneuten Krieg eine ausländische Intervention von Seiten des Südens zu verhindern. Mit der Bombe soll Japan erpresst werden, die Militärbasen der Vereinten Nationen zu schließen, und Amerika zum Rückzug bewegt werden. Ob dieser Plan überhaupt realistisch ist, sei dahingestellt, in Nordkorea spekuliert man jedenfalls darauf, dass Japan und die USA nicht bereit wären für die Verteidigung des Südens das Risiko eines Atomkrieges einzugehen. Der Norden hätte überhaupt nur eine Chance, nennenswerte militärische Erfolge zu erlangen, wenn eine ausländische Intervention ausbliebe. Ein Ultimatum an UNO, USA und eben auch Japan, den neuen Krieg als rein innerkoreanische Angelegenheit zu betrachten, wäre die logische Konsequenz. Doch dieses Ultimatum müsste entsprechend untermauert werden. Und genau dies ist der Grund, warum ein erneuter Koreakrieg so leicht in einen atomaren Krieg ausarten könnte. Nur wenn der Norden seinen unerbittlichen Willen zeigt, den totalen Krieg zu entfachen, hätte er überhaupt eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Die Atombomben des Kalten Krieges wurden gebaut, um nicht eingesetzt zu werden. Sie dienten der Abschreckung, der Kriegsverhinderung. Die nordkoreanischen Bomben werden gebaut, um eingesetzt zu werden. Sie dienen der Kriegsermöglichung.

All das soeben geschilderte würde natürlich nur im schlimmsten Fall eintreffen. Natürlich hoffen wir, dass es nie zu der geschilderten Katastrophe kommen wird. Oder wenn tatsächlich ein Krieg ausbricht, dieser doch nicht so katastrophal wird wie geschildert. Doch wie stehen die Chancen auf eine friedliche Entwicklung wirklich?

Das Hauptproblem bei dem Versuch, die Koreakrise zu analysieren, besteht darin, dass der Hauptakteur, Nordkorea, nach einer völlig eigenen Logik und Ratio handelt. Um die Handlungen des nordkoreanischen Regimes zu verstehen, muss man sich in diese interne Logik hineinversetzen und versuchen, die Welt aus der Sichtweise des Herrschers bzw. der Herrscherfamilie zu betrachten. Auf diese Weise kann erkannt werden, dass bestimmte Optionen, die aus europäischer Sicht naheliegend wären, für das Regime in Pjöngjang überhaupt nicht zur Debatte stehen.

Für den europäischen Betrachter stellen aber auch die anderen fünf involvierten Staaten eine Herausforderung dar. Die amerikanische Weltsicht unterscheidet sich zwar sehr stark von der europäischen, sie ist aber zumindest gut bekannt und nachvollziehbar. China, Japan und Südkorea gehören jedoch einem völlig anderen Kulturkreis an. Das außenpolitische Verständnis, die politische und diplomatische Etikette und die Geschichte der zwischenstaatlichen Beziehungen dieser Länder sind den meisten Europäern unbekannt. Auch hier macht es Sinn, die Koreakrise aus den Blickwinkeln der verschiedenen Länder zu betrachten, um die unterschiedlichen Interessenlagen herauszuarbeiten.

Der erste einleitende Teil dieses Buches gibt einen kurzgehaltenen Überblick über die Geschichte Koreas, den koreanischen Kommunismus, den Koreakrieg und die Teilung des Landes. Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit den beteiligten sechs Ländern und stellt deren Blickwinkel in den Mittelpunkt. Im abschließenden Teil werden die Widersprüche und Gemeinsamkeiten und die Wahrscheinlichkeit von möglichen Entwicklungen diskutiert. Zu guter Letzt wird auf die Auswirkungen dieser verschiedenen Möglichkeiten eingegangen.

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