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Prolegomena

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Frühling zieht in die Berge ein. Mein Blick gleitet das satte Grün der Hänge hinauf in die höheren Lagen des Zahmen Kaisers. Da oben liegt noch ein wenig Schnee, der in der Sonne gleißt. Von Osten her fahre ich den Kamm der Gipfel entlang: Heuberg, Hagerköpfe, Vordere Kesselschneide, Jofenspitze, Pyramidenspitze, Elferkogel … Dieser allem Zeitlichen entrückte Anblick ist meinem Gedächtnis tief eingeprägt. Es sind die noch sanften Vorposten des Alpenhauptkamms, den man hier vom Tal aus nur erahnen kann. Sobald man jedoch einen dieser Gipfel erklimmt, sieht man sich den schroffen Felsen des Wilden Kaisers gegenüber und spürt mit Gewißheit, daß hier eine andere Welt beginnt. Ein steinernes Reich von stiller Erhabenheit. Es erweist dem Menschen die Kleinheit seiner Existenz. Welche seiner Bemühungen hätte Bestand vor diesem Urbild der Schöpfung, das vor Anbeginn aller Zeitrechnung erschaffen wurde und in völliger Ungerührtheit auch dann noch bestehen wird, wenn alte Weltreiche zerfallen und auch nachfolgende Mächte längst wieder erloschen sind?

Im Bann dieser Kulisse will ich Bericht erstatten über das, was sich mir damals, im Jahre 2008, im entlegenen Kosovo zugetragen hat. Ich will nichts unterschlagen und nichts erdichten, sondern ausschließlich und vollständig das darlegen, was ich mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren selber oder aus verläßlicher Quelle vernommen habe. Die Ruhe von Personen, die nicht im öffentlichen Leben stehen, will ich schützen, indem ich ihnen andere Namen verleihe. Mit ihnen als Figuren aber will ich getreulich das Bild jener eigenartigen Situation zeichnen, welche ein Fehlgriff der Geschichte in jenen Tagen am äußersten Rande Europas geschaffen hat.

Damals stand das Kosovo für kurze Zeit im Licht allgemeinen Interesses. Schnell aber vollzog sich das, was ich Ihnen erzählen werde, wieder im Schatten der Öffentlichkeit. Gewisse Dinge bedürfen dieses Schattens, um überhaupt vonstatten zu gehen. Immer nur kurz, wenn es doch einmal wieder Unruhe gibt dort unten oder wenn Wanderer aus Not und Armut an die Türen unserer Ämter in Stuttgart oder Passau klopfen, erinnern wir uns vielleicht. Dann diskutieren wir in unseren Gazetten, daß es vor gar nicht langer Zeit politische Entscheidungen und historische Weichenstellungen gab, die dieser befremdlichen Realität dort unten den Weg bereitet haben. Dieser Weg – war er etwa vorgezeichnet und ohne gangbare Alternative? Oder trägt jemand die Verantwortung dafür, keinen besseren gewählt zu haben?

Erzählen will ich von den Menschen, die dort leben. Es treten auf: Ohnmächtige Entwicklungshelfer, Nato-Soldaten, die von der Mafia ausgelacht werden, Macchiato-Diplomaten und Technokraten der sogenannten Internationalen Gemeinschaft. Glücksritter und blutbespritzte Guerillakämpfer, die sich das neugeborene Staatsgebilde zur Beute machen. Kriegsverbrecher, die über Nacht zu Staatsmännern mutieren, und Frauen von blendender Schönheit. Straßenhunde, Staub, Schlamm und Panzerkolonnen. Alles will ich darlegen ohne Schönung und Übertreibung; so nüchtern, sachlich und anschaulich, wie es mir möglich ist.

Man möge bitte nicht denken, daß mein Werk nur den Serben freundlich gesinnt sei. Ich bin zunächst einmal allen Menschen freundlich gesinnt. Über die serbischen Untaten von 1989 bis 1999 wurde viel geschrieben. Ich wiederhole also nicht die Schilderungen und Bewertungen der serbischen Schreckensherrschaft im Kosovo, die unseren Ereignissen vorangegangen ist. Allen, die argwöhnen, daß ich einseitig zugunsten der Serben Partei ergreife, sei an dieser Stelle versichert, daß ich die serbischen Untaten im Kosovo für Verbrechen gegen die Menschlichkeit halte, die mit nichts zu entschuldigen sind und die überhaupt erst dazu führten, daß das Kosovo von Serbien losgelöst wurde.

Ich schreibe von dem, was ich persönlich erlebt habe, ergo von dem hilflosen Unterfangen, das im Kosovo danach geschah und das in Teilen mit der Bezeichnung einer europäischen Außenpolitik versehen ist, die es gar nicht gibt – und deren Fehlen durch dieses Scheitern so schmerzlich spürbar wird, daß ich auf dem Balkan und im Angesicht von Europas Ohnmacht zu einem europäischen Föderalisten wurde, der das hilflose Agieren der Mitgliedstaaten gerne abgeschafft und einer handlungsmächtigen und legitimen Union, einem europäischen Bundesstaat, übertragen gesehen hätte.

Bericht will ich erstatten, um aus tiefem inneren Bedürfnis den außenpolitischen Sonntagsreden vom Aufbau der Demokratie in fernen Ländern zu widersprechen, als Gegengift zur oberflächlichen Flüchtigkeit journalistischer Momentaufnahmen und zu dem Unfug, der unserer unbekümmerten Ignoranz entspringt. Dieses also ist das Resümee einer kurzen, aber dichten Phase meines Lebens, damit ich sie abschließen und von mir lösen kann.

Eine Parabel auf den gewissenlosen Umgang mit dem allgemeinen Gut will ich schreiben: Das Kosovo ist mir das Exempel und die reinste Form dieses Zustandes, die mir bisher im Staatsdienst unter die Augen gekommen. Die Namen und Orte sind immer andere, doch die Strukturen und Vorgehensweisen, das Denken und die Kultur der Korruption gleichen einander über den Erdball hinweg. Somit mögen vor allem jene diese Reportage lesen, die nie haben hinnehmen wollen, daß auch in unserem so fortschrittlichen Zeitalter der Demokratie und Menschenrechte überhaupt nur wenige Staaten vergleichsweise gerecht, sicher und geordnet, freiheitlich und wohlhabend bestehen, während viele andere in dem immergleichen Morast aus Lügen, Dummheit, Habgier und Gewalt täglich aufs Neue versinken, ihre Bürger eines Lebens in Anstand und Freiheit beraubend – so daß sie ihr Heil in Flucht und Wanderung suchen oder oft genug selber in Gewalt abgleiten. Viele begreifen erst jetzt, in Zeiten staatlicher Stümperei bei der Seuchenbekämpfung, daß Freiheit nicht selbstverständlich ist. Sie ist kein Geschenk von oben, sondern die beständige Forderung von unten.

Aber mein Antrieb, ins Kosovo zu gehen, war ein anderer als der Kampf um politische Freiheit. Mir ging es um persönliche Freiheit – oder was ich dafür hielt: Was mich vor allen anderen Dingen antrieb, zu jener Zeit ins Kosovo zu gehen, war die gänzlich profane Notwendigkeit meiner Flucht aus dienstlicher Langeweile und bürgerlicher Geborgenheit; meine längst abgestorben geglaubte, höchstpersönliche Lust auf Abenteuer und eine ferne Erinnerung an Karl Mays Land der Skipetaren.

Willkommen im Kosovo, dem toten Winkel Europas.

Kaisergebirge / Tirol im März 2021

Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen

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