Читать книгу Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen - Martin Heipertz - Страница 9
1 Unter Soldaten
ОглавлениеSchon auf den ersten Blick war der Flugsteig zu erkennen. Hinter der letzten Sicherheitskontrolle wimmelte es von Feldgrau. Österreichische Gebirgsjäger, an deren Feldmützen das Edelweiß prangte. Ich schien der einzige Zivilist auf diesem Flug nach Priština zu sein. Die Soldaten nahmen keine Notiz von mir. Ihre Seesäcke hatten sie bereits verladen, und nun standen sie in Grüppchen beisammen und schwatzten. Einige telephonierten; früher hätte man geraucht. Nun erst wurde mir bewußt, daß ich im Begriff stand, mich an einen gefährlichen Ort zu begeben. Einen Ort, den man mit sechzehntausend Mann – zwei Divisionen – militärisch zu sichern für nötig befand. Dieser Umstand und die Erinnerung an die eigene Militärzeit belebten meinen Geist, der sich in meiner alten, zuletzt immer mehr in Routine versinkenden Berufstätigkeit in Frankfurt kaum noch hatte regen wollen.
»Ist das der Flug nach Priština?«
Ich fragte den mir am nächsten befindlichen Gebirgsjäger, einen etwas zu kurz geratenen, stämmigen Jugendlichen mit rundlichem Kopf und knappgeschorenen, blonden Haaren. Ich hatte zwar keinen Zweifel, daß dies der Flug nach Priština sei, aber zu gerne wollte ich ein Gespräch mit einem der Soldaten anfangen. Er nickte einmal leicht mit seinem Rundschädel und blickte abweisend aus kleinen, engstehenden Augen an mir vorbei.
»Sie fliegen auch hinunter ins Kosovo?«
Die nächste überflüssige Frage. Er nickte noch einmal.
»Wie lange werden Sie dort sein?«
»Vier Monate.«
»Darf ich fragen, wo Sie da eingesetzt sind? Ich selber werde in Priština arbeiten, für die EU.«
»Wir Österreicher stehen im deutschen Sektor in der Nähe von Orahovac. Camp Casablanca.«
»Und was machen Sie da?«
»Ich glaube nicht, daß Sie das interessieren müßte.«
Gespräch beendet. Er hatte ja recht, und ich hatte mich benommen wie der dümmste Grünschnabel. Als ob man einen fremden Soldaten nach seinem Auftrag fragen könne – er durfte es mir gar nicht sagen, das wußte ich als Offizier der Reserve selber allzugut. Aber so groß waren meine Spannung und Ungewißheit, daß ich mich zu diesen kindischen Fragen hatte hinreißen lassen.
Erst Monate später lernte ich, daß einem im Kosovo zumindest in kulinarischer Hinsicht nichts Besseres widerfahren konnte als das Offizierkasino von Camp Casablanca. Denn auch die Schweizer waren dort stationiert, und regelmäßig absolvierten eidgenössische Köche von internationalem Rang ebendort im Offizierkasino ihre Wehrübungen und tischten auf, was ihre Künste hergaben.
Über einen langjährigen Freund kam ich später einmal in den Genuß der Gaumenfreuden von Camp Casablana. Er hieß Oberleutnant Ludwig Harnagel, war ein deutscher Heeresoffizier und eine Zeitlang in der Nähe von Camp Casablanca stationiert. Er war Infanterist und gehörte zur Führungsreserve eines Bataillons, das bei einer Verschlechterung der Lage aus ansonsten anderweitig eingesetzten Einheiten zusammengezogen werden konnte. Im Friedensdienst jedoch sollte Harnagel ehemalige kosovarische Freischärler zu Unteroffizieren der künftigen regulären Armee der Republik Kosova machen. Sein Schwerpunkt war die Ausbildung an Handfeuerwaffen, mit denen seine Zöglinge vermutlich bereits aus früherer Zeit recht gut umgehen konnten.
So kam es, daß er mich im Frühsommer zu einem deutschamerikanischen Vergleichsschießen einladen konnte, das er in der Nähe von Camp Casablanca organisierte. Dazu ließ er mich in aller Form über seinen nationalen Vorgesetzten, einen im KFOR-Hauptquartier tätigen Oberst der Luftwaffe, für eine nur einen Tag währende Wehrübung heranziehen. Vorsorglich hatte ich ohnehin einen Feldanzug ins Kosovo mitgenommen, man konnte ja nie wissen. Meine Kollegen im Büro staunten nicht schlecht, als ich den Rock, wie wir sagten, eines Freitags zur Mittagspause anzog und mich im Flecktarn von ihren fragenden Gesichtern verabschiedete.
»Ich fahre zu einer Schießübung.«
Das sagte ich mit betonter Nonchalance und sprang in meinen Dienstwagen, einen leichtgepanzerten Terrano in metallischem Hellblau.
Der Schießplatz, auf dem ich zwei Stunden später unter bleicher Nachmittagssonne und mit der bis zum Horizont reichenden Staubwolke meiner Fahrspur im Rücken eintraf, war völlig improvisiert. Die Begrenzungen der Schießbahn links und rechts waren durch Wimpel markiert, an ihrem Ende stand ein halbes Dutzend Schießscheiben, und der Schießstand selber war nichts anderes als ein Wiesenstück, mit dem für solche Zwecke üblichen, bei Dunkelheit fluoreszierenden Band abtrassiert, wie es im Jargon heißt. Ansonsten war keine weitere Vorkehrung getroffen worden. Zahlreiche staubverkrustete Militärfahrzeuge standen quer zur Fahrbahn aufgereiht entlang der Schotterpiste, die mich zu dem Gelände führte. Ich parkte zwischen einem Dingo-Panzerwagen der Bundeswehr und einem amerikanischen Jeep. Nicht ohne Befriedigung stellte ich fest, daß mein Wagen das einzige Zivilgefährt weit und breit war.
Das Grenzgängertum war nämlich schon immer so meine Sache gewesen: Vorhin noch der einzige Militär im zivilen Büro, und nun der einzige Zivilist unter Soldaten …
Das Schießen war bereits in vollem Gange. Einzelschüsse und Salven von unterschiedlicher Dauer hallten in rascher Folge über das Areal, der Geruch von Pulverdampf hing in der Luft, und der Schießstand war schon anhand des über ihm stehenden Qualms erkennbar. Harnagel leitete die Veranstaltung von seinem kleinen Feldherrenhügel aus, wo er guten Überblick hatte. Er thronte mit Funkgerät in der Hand auf einem Klappstuhl, die Feldmütze tief im gebräunten Gesicht. Als ich ihn erreicht hatte, grüßte ich militärisch.
»Melde mich wie befohlen.«
Dann umarmten wir uns in dem überschwenglichen Bewußtsein eines unerklärlichen, vor- und außerzivilisatorisch aufschwingenden Gefühls von Männlichkeit. Ich sagte zu Harnagel, wie sehr ich mich freue, einen wahren Freund bei KFOR zu haben. Wer weiß, wozu das noch gut sein würde.
»Mit dir würde ich in den Krieg ziehen«, antwortete er.
Vorerst aber wurde mir nur ein amerikanischer Unteroffizier zur Seite gegeben, und unter Aufsicht dieses stämmigen, wortkargen, aber wohlwollenden Profis durfte ich nach Herzenslust mit allem schießen, was in Deutschland und Amerika an Handfeuerwaffen in militärischem Gebrauch stand. Das war der vordergründige Sinn eines solchen Vergleichschießens. Munition und Waffen gab es in einem Gefechtszelt ohne jegliche Formalitäten. An Auswahl und Menge alles, was des Narren Herz begehrte. Da Soldaten meist kindlichen Gemüts sind und kindlichen Gemütern das Unbekannte immer das Faszinierende ist, waren die Amerikaner besonders an den deutschen Waffen interessiert und unsere Leute an den amerikanischen. Die Amis bewunderten den Rückschlag, der bei ihrem Schießgerät weniger stark war, und raunten ehrfurchtsvoll Hitlersäge beim Anblick unserer Maschinengewehre, deren Bauart seit dem Krieg nur unwesentlich verändert worden war. Sie versuchten, eine deutsche Schützenschnur zu ergattern, während die Männer der Bundeswehr es auf das US-Rifle-Abzeichen abgesehen hatten. Es sieht einem Eisernen Kreuz ähnlich und darf zu einer deutschen Uniform sogar getragen werden. Seinem preußischen Vorbild ist es angeblich nachempfunden, weil dieses bei amerikanischen Scharfschützen während beider Weltkriege die begehrteste Trophäe gewesen sei. Und da man seither in Deutschland glaubte, auf militärische Orden verzichten zu können, muß man das Eiserne Kreuz heutzutage über den Umweg einer amerikanischen Schießübung erlangen. Als Offizier trüge man es freilich nicht, doch mein zur Aufsicht abgestellter Sergeant wurde ehrgeizig, als er merkte, daß ich recht ordentlich schoß. So bedrängte er mich, die für das Abzeichen vorgesehenen Schießprüfungen komplett zu absolvieren. Noch vor Einbruch der Dunkelheit erhielt ich dann neben einigen anderen, stolz grinsenden Kameraden das begehrte Metall mitsamt seinen gottlob nicht allzu langen Nadeln durch die Uniform mit einem kräftigen Faustschlag an die stolzgeschwellte Brust geheftet. Für einen Abend also war ich Träger des Eisernen Kreuzes und nicht minder als die anderen gewillt, den heroischen Anlaß gebührend zu feiern.
Auf das Schießen folgte ein feucht-fröhliches Bankett der an der Übung beteiligten Offiziere – und zwar im allseits gerühmten Kasino von Camp Casablanca. Die schon erwähnten Schweizer Köche ließen nichts zu wünschen übrig; die mir noch Jahre später in lebhafter Erinnerung gebliebene Speisefolge umfaßte eine Lachsvariation, Kalbsmilke an Pfifferlingen, eine Poularde mit Buchweizenbisquit und Gemüse sowie eine Schokoladenkomposition mit Himbeeren. Harnagel hatte das arrangiert, denn vermutlich umfaßte sein Budget zur Ausbildung kosovarischer Unteroffiziere, von denen freilich kein einziger zugegen war, auch das eine oder andere Abendessen im Kasino. Ich saß als Ehrengast mitsamt meinem Eisernen Kreuz zwischen dem inzwischen im maßgeschneiderten Dienstanzug mit richtigen Verdienstabzeichen geschmückten Harnagel und dem jovialen amerikanischen Captain. Zu Harnagels Schießen war dieser mit seinen Leuten aus dem sagenumwobenen Camp Bondsteel herübergekommen – der größten amerikanischen Basis auf dem Balkan. Von Uranminen über geheime Bomberflotten und Foltergefängnissen gab es nichts, was die Phantasie nicht über das dortige Treiben der Amerikaner hervorgebracht hätte. Die Höflichkeit verbot es freilich, den Captain hierzu zu befragen. Statt dessen floß portugiesischer Rotwein in Strömen auf die deutsch-amerikanische Waffenbrüderschaft. Schließlich torkelten wir in unsere Container, die dort wie in sämtlichen Einsatzgebieten dieser Welt als militärische Unterkunft dienten.
Am nächsten Morgen und mit brummendem Schädel nahm ich das Interieur wahr: Das Wellblech des Metallkastens war für die Wohnlichkeit mit hellgrauem Kunststoff verkleidet. Der Fußboden hingegen schimmerte in einem matten, filzähnlichen Grün. Mein vermutlich für Gäste des Camps vorgesehener Container verfügte über ein Fenster, dessen Rollladen, nachdem ich ihn aufgezogen hatte, den Blick auf den gegenüberliegenden Duschcontainer freigab, aus welchem Dampfschwaden emporstiegen, als sei er ein türkisches Badehaus. Die Einrichtung bestand aus einem klappbaren Feldtisch mit ebenfalls klappbarem Feldstuhl aus Metallröhren und olivgrünem Leinentuch, einem metallenen Bettgestell mit Drahtbezug und Schaumstoffmatratze, einem kleinen Kühlschrank, der wohnlich brummte und mich mit Coca Cola labte, sowie, etwas schief hierauf abgestellt, einem altersschwachen Fernseher. Ich stellte ihn probehalber an, und sogleich bot er, satellitengestützt, pornographisches Material dar. An der dem Fenster gegenüberliegenden Längswand der Blechbehausung prangte das Bildnis einer hübsch anzusehenden und nicht übermäßig bekleideten jungen Dame, die mir zuzuzwinkern schien, als ich die neben dem Fenster eingefügte Tür unter fiesem Quietschen öffnete und in das helle Tageslicht hinaustrat. Während ich die Morgenluft einsog und in meinen Beintaschen erst nach der Sonnenbrille, sodann nach dem Schlüssel des Terrano tastete, durchströmte meine Adern ein erhabenes Gefühl von Freiheit und Abenteuer. Genau deswegen hatte ich Frankfurt verlassen…
Doch ich greife vor. Zurück zum Flughafen Wien und zum Flugsteig nach Priština. Der Gebirgsjäger hatte also nicht mit mir reden wollen, und so schlenderte ich quer durch die Wartehalle zum Zeitungsstand. Da nicht einmal die Offiziere der Österreicher sich dort bedient hatten, stand mir die volle Auswahl der Zeitschriften von Austrian Airlines zur Verfügung. Von jedem Blatt steckte ich ein Exemplar in meine Tasche: Wiener Standard, Frankfurter Allgemeine, Süddeutsche, Financial Times, Kronenzeitung, Bildzeitung, International Herald Tribune, die heute anders heißt, und natürlich Le Monde, El País, Corriere. Nie nämlich war ich ein fleißigerer Zeitungleser wie als Fluggast. Was für andere der Tomatensaft, war für mich die umfassende Lektüre von Printmedien. Wir schrieben Samstag, den 16. Februar 2008, es gab noch Zeitungen zum Fliegen – und sämtliche Blätter waren voll von meinem Reiseziel.
Es sollte noch einen Tag dauern, bevor das Parlament des Kosovos die Unabhängigkeitserklärung verabschieden würde. Damit würde sich die Republik Kosova von der Republik Serbien lossagen und zu einem souveränen Staat deklarieren. Ein beachtliches Vorkommnis, das in gewissem Widerspruch zu der völkerrechtlich garantierten Unverletzlichkeit der territorialen Integrität von Staaten zu stehen schien, zumal Serbien Mitglied der Uno war. Allerdings ein Vorkommnis, das von gewichtigen Fürsprechern unterstützt wurde, allen voran den Vereinigten Staaten von Amerika. Man hatte sich nämlich in Washington entschlossen, den sogenannten Ahtisaari-Plan umzusetzen, benannt nach dem im wörtlichen Sinne schwergewichtigen finnischen Politiker und Uno-Funktionär, der in mühsamen Verhandlungen eine einvernehmliche Lösung zwischen Serbien und dem Kosovo herbeizuführen beauftragt gewesen war. Aber nicht jedes Problem kennt eine Lösung. Strenggenommen ist ein Problem mit einer Lösung schon gar kein Problem mehr. Das Problem zwischen Kosovaren und Serben ließ sich nicht lösen. Auch die Lossagung des Kosovos von Serbien war in Wahrheit keine Lösung, sondern immer nur die ultima ratio gewesen, das letzte Mittel, die Drohung, mit der man den Serben zugesetzt hatte für den Fall, daß die Verhandlungen scheiterten, weil die Bedingungen für eine autonome Region Kosovo innerhalb der serbischen Republik auf albanischer Seite als nicht annehmbar galten. Wann und warum genau diese Verhandlungen hoffnungslos gescheitert waren, stand in den Gazetten nicht. Dieser Umstand wurde vorausgesetzt, und also schritt man, in der Presse ganz überwiegend begrüßt, zur Radikallösung – der Unabhängigkeit.
In den Zeitungen las ich mich in die mir bis dahin fast völlig fremde Materie ein. Ich war Ökonom und kannte mich ein wenig mit Staatsfinanzen aus. So hatte ich fast vier Jahre in der Europäischen Zentralbank zugebracht und war dort unter anderem für die Analyse der Finanzpolitik einiger Balkanländer zuständig gewesen. Tiefere Kenntnis aber hatte ich nicht von dieser Region; hinzu kam höchstens noch ein von Studienzeiten und der Offizierschule herrührendes, allgemeines Interesse an Fragen der Sicherheitspolitik und der internationalen Beziehungen. So war mir grob bekannt, daß der Westen unter amerikanischer Führung neun Jahre zuvor einen Luftkrieg gegen Serbien geführt hatte, weil der Serbenführer Milošević an den Albanern im Kosovo Völkermord zu begehen im Begriff gestanden habe.
Der damalige deutsche Außenminister Joseph Fischer klang mir noch im Ohr:
»Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.«
Milošević war demnach so etwas wie der neue Hitler. Nach wochenlangen Bombardierungen rückte die Nato mit Bodentruppen in das Kosovo ein, das die Serben nahezu kampflos räumten. Der Feldzug des Westens beendete die serbische Herrschaft über das Kosovo. Ein Interregnum setzte ein: Die Region wurde unter internationale Verwaltung der Uno gestellt, und nur noch formal gehörte sie weiterhin dem Staat Serbien an. Damit war die Frage nach dem Status des Kosovos aufgeworfen: souveräner Staat oder restjugoslawische Verwaltungseinheit? Nach einer ersten, jahrelangen Phase von Verhandlungen, in denen die albanische Seite von den Amerikanern und die Serben von ihrer traditionellen Schutzmacht Rußland protegiert wurden, schien die Lösung dieser Frage unter stillschweigendem Einverständnis der sogenannten Internationalen Gemeinschaft auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden zu sein. Standards vor Status – so lautete das im Rückblick reichlich naive Motto, unter dem erst einmal eine Verwaltung aufgebaut und das Kosovo wirtschaftlich entwickelt werden sollten, ohne daß man die staatliche Verfaßtheit auch nur im Ansatz geklärt hätte. Hauptsache, die Lage blieb ruhig, keine Toten verwesten in den Straßengräben und keine Flüchtlingsströme ergossen sich nach Mitteleuropa wie in den neunziger Jahren. Doch die Lage tat der Internationalen Gemeinschaft keineswegs den Gefallen, ruhig zu bleiben …
Keine fünf Jahre nach dem Waffenstillstand kam es im Jahre 2004 zu Pogromen, nunmehr aber der Albaner gegen die Serben. Der fünfzehnjährige Jovica Ivić wurde in der serbischen Enklave Čaglavica von Albanern erschossen, die aus einem vorbeifahrenden Auto wahllos mit einer Maschinenpistole auf Passanten feuerten. Jovica wurde von Kugeln in den Magen und den Arm getroffen und verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus. Seinen Bruder lernte ich Monate nach meiner Ankunft im Kosovo kennen. Er zeigte mir das Mahnmal an der Hauptstraße; an der Stelle, wo auf Jovica geschossen worden war. Der Bruder aber war vier Jahre später Friedensaktivist geworden und arbeitete mit Studenten einer Organisation aus Belgrad zusammen, die sich der Verständigung von Albanern und Serben verschrieben hatte.
Einmal nahmen mich diese Leute auf eine wilde Turbo-Folk-Party nach Čaglavica mit, die in einer Scheune am Dorfrand stattfand. Turbo-Folk ist eine Mischung aus serbischer Volksmusik und Techno. Von Menschenmassen, die nächtelang Turbo-Folk tanzten, wurde im Luftkrieg von 1999 eine wichtige Brücke über die Save in Belgrad gegen die Nato-Bomber geschützt. Die amerikanischen Piloten sollten so viele zivile Opfer nicht in Kauf nehmen – man befand sich schließlich an der Schwelle zu einem neuen, zivilisierten Jahrtausend. Also mußten die Bomberpiloten abdrehen, und sie tauften ihr unangreifbares Zielobjekt resigniert die Rock’n’Roll-Bridge, denn was sollten sie schon von Turbo-Folk wissen. Mir gefielen der Turbo-Folk in der Scheune von Čaglavica, die alten Lieder, welche die Jugend mit Trotz in der Stimme zu der modernen Maschinenmusik sang, und die darin ausgedrückte kulturelle Selbstbehauptung und Aufsässigkeit gegenüber dem Westen, die diese Klänge transportierten. Das hatte etwas, was ich zu Hause kaum noch bemerkte: Identität.
Doch im Jahre 2004, nach dem Tod von Jovica Ivić, wurde in Čaglavica kein Turbo-Folk getanzt. Die Serben errichteten Straßenbarrikaden. Am nächsten Tag ertranken drei albanische Kinder im Fluß Ibar, der die ethnische Grenze zu dem mehrheitlich serbisch besiedelten Norden des Kosovos darstellt. Es hieß damals, die Kinder seien aus Rache für Jovica Ivić von den Serben ertränkt worden. Tags darauf fielen zehntausende Albaner über die serbische Minderheit in den verschiedenen Enklaven her. Marodierende Banden wurden aus Albanien mit Bussen in das Kosovo gebracht und zogen eine Spur der Verwüstung durch das Land. Klöster wurden niedergebrannt, zahlreiche Mönche verstümmelt und totgeschlagen – alles unter den völlig überraschten Augen der Nato, die dem Gewaltausbruch nichts entgegensetzte und sich darauf beschränkte, die Serben zu evakuieren. Noch heute kursieren im Internet Videos von Schaulustigen, die jugendliche Täter dabei filmten, wie sie Kirchen in Brand setzen. Von einem dieser Filmchen ist mir in Erinnerung, wie die Glocken einer kleinen Kirche von höherer Macht geläutet zu werden scheinen, während das ganze Schiff schon in Flammen steht. Schlagartig verstummen die Rufe und Schmähungen der Albaner, und man hört nur noch das Knacken und Fauchen des Feuers und darüber die läutenden Glocken, bis der Turm zusammenbricht.
Die Internationale Gemeinschaft schreckte im Jahre 2004 gehörig auf, ließ Standards vor Status fallen wie eine plötzlich heißgewordene Kartoffel und beschloß, diese offensichtlich doch nicht zu umgehende Statusfrage nunmehr vordringlich zu regeln. Ein neuer, zermürbender Verhandlungsmarathon setzte ein, der drei Jahre dauern sollte, jedoch die Hoffnungen auf einen Friedensschluß nicht erfüllen konnte. Er war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die von serbischer Seite den Albanern vorgeschlagene Autonomielösung wurde immer weitergehend ausgestaltet und erreichte schließlich die Qualität des im Völkerrecht als Ausnahmefall geltenden Statuts von Südtirol im italienischen Staatsverbund. Aber die Albaner lehnten auch die am weitesten gehenden Vorschläge ab. Die Meinungen in den Zeitungen, die ich las, gingen auseinander: Die Wunden säßen zu tief, lautete ein Argument, und nach dem versuchten Völkermord durch Milošević sei es doch nicht zumutbar, von den Albanern zu verlangen, noch länger mit den Serben in einem Staat zu leben. Die Albaner hätten nie ernsthaft verhandelt, schrieb eine kleine Minderheit von kritischen Journalisten, weil die Amerikaner ihnen unter der Hand immer versichert hätten, ihre vollständige Loslösung von Serbien zu unterstützen, wenn erst die Verhandlungen formell gescheitert seien. Die albanische Minderheit in den USA sei die bestorganisierte politische Lobby nach der jüdischen, wagte ein Kommentator in Südeuropa zu behaupten. Außerdem verfügten die Amerikaner mit einem von Belgrad unabhängigen Kosovo, das nach ihrer Pfeife tanze, über eine militärische Basis inmitten der Südwestflanke der russischen Einflußsphäre – eine Basis, in der sie nach Gutdünken schalten und walten könnten wie weiland die alten Römer in ihrer Provinz Dardania.
Ich las weiter, die Europäische Union sei tief gespalten in der Statusfrage. Großbritannien halte in Treue zu den amerikanischen Alliierten. Deutschland habe zwar erhebliche Bedenken hinsichtlich des Völkerrechts, das nunmehr, neun Jahre nach dem Krieg, zugunsten der Serben spreche, weil die humanitäre Not der Albaner schließlich auf Dauer behoben sei. Immerhin habe es im Jahr 2000 in Serbien eine Revolution gegeben, welche die Milošević-Diktatur in den Orkus der Geschichte geschickt und durch eine Demokratie ersetzt habe, die sich ernsthaft um Aufnahme in die EU bemühe. Aber aus Hörigkeit gegenüber den Amerikanern unterstützte Berlin trotz dieser Bedenken die Unabhängigkeit des Kosovos, wie letztlich auch Paris. Andere Mitgliedstaaten der EU nähmen die gegenteilige Position ein, entweder aus traditioneller und kultureller Nähe zu den orthodoxen Serben, wie Griechenland und Zypern, oder im Hinblick auf nationale Minderheiten im eigenen Land, die ebenfalls separatistische Tendenzen verfolgten, etwa Spanien und das – zudem orthodox geprägte – Rumänien. Diese Spaltung der EU sei den Amerikanern wiederum nur recht, denn damit habe die Union ein unlösbares Problem vor der eigenen Haustür, an dem sich die kränkliche sogenannte gemeinsame Außenpolitik der Europäer noch auf Generationen die Zähne würde ausbeißen können.
Eine Lautsprecherdurchsage forderte zum Einsteigen auf und riß mich aus meiner Lektüre. Ich blickte um mich und sah die Gebirgsjäger in Reih und Glied antreten und in das Flugzeug einrücken. Ich begab mich an das Ende der Abteilung und nickte meinem wortkargen Gesprächspartner noch einmal zu – ohne Reaktion.
Offensichtlich war ich aber doch nicht der einzige Zivilist auf dem Flug nach Priština: Zwei bewaffnete Gendarmen in Schutzwesten kreuzten auf einmal auf und begleiteten einen jungen, verwegen blickenden Mann mit dunklen Haaren, schwarzglühenden Augen und einer scheußlichen Narbe quer über dem Gesicht zum Einstieg. Es mußte sich um einen jener Bürger des neuzugründenden Staates handeln, die nicht nur in Österreich hin und wieder unangenehm aufzufallen die Angewohnheit hatten und der deshalb zurück in die Heimat expediert wurde. Wenn auch vermutlich nicht für lange. Kosovo-Albaner genießen überwiegend nicht den Ruf von Liebenswürdigkeit, und etwas bange war mir dann doch, daß ich nun in einen Flieger stieg, der mich mit niemand anderem als zahlreichen Soldaten und dieser zumindest zweifelhaften Person meinem Bestimmungsort für diesen neuen Abschnitt meines Lebens zuführte.