Читать книгу (UN)PLANBAR - Ein Business-Roman über Sales & Operations Planning - Martin Hendel - Страница 4
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Der Wecker klingelt. Ich drehe mich zur Seite, um zu sehen, wie spät es ist. Es ist 4:30 Uhr. Ich bin müde und mag nicht aufstehen – den Kopf voller Gedanken hat es erneut viel zu lange gedauert, bis ich am Sonntagabend einschlafen konnte. Seit Monaten schon muss ich montagmorgens so früh raus, da mein aktueller Job voraussetzt, dass ich innerhalb Europas mobil bin.
Ich bequeme mich aus dem Bett, gebe meiner Freundin Sophia einen Kuss auf die Wange und springe unter die Dusche. Die morgendliche Routine kommt in Gang und nach 30 Minuten bin ich gehbereit. Der Koffer und mein Rucksack sind wie immer gepackt. Das Gepäck überbrückt in der Regel eine Zeit bis donnerstagabends. Bevor ich unsere Wohnung in Schaffhausen verlasse, schreibe ich einen kleinen Notizzettel mit einer Nachricht und befestige diesen mit einem Klebestreifen an der Wohnungseingangstür. Dort hängen bereits dutzende andere Zettel. Von Weitem sieht die Tür nicht mehr nach Holz, sondern wie frisch tapeziert aus. Das Zettelschreiben ist eine Art Routine und ein liebevoller Gruß, da ich ein schlechtes Gewissen habe, die ganze Woche über unterwegs zu sein. Heute fällt es mir besonders schwer, schöne Worte zu finden, da wir uns gestern Abend gestritten haben. Mir fällt auf, dass ich oft unausgeglichen bin und der Druck sonntags vor der neuen Arbeitswoche zunimmt. Mir gefällt mein Leben, aber ich bin unzufrieden, da ich immer weniger selbstbestimmt bin. Zumindest bilde ich mir das zurzeit ein. Auf dem Zettel steht:
Für die Welt bist Du irgendjemand. Aber für mich bist Du die Welt. Es tut mir leid. Hab‘ eine schöne Woche. Kuss, Gabriel
Das ist ziemlich kitschig, ich weiß. Aber das gehört eben auch zu meiner Persönlichkeit.
Ich schließe die Tür und gehe in die Tiefgarage zu meinem Auto. Auf der Fahrt Richtung Flughafen Zürich kann ich es kaum erwarten, im Flugzeug etwas Schlaf nachzuholen.
Glücklicherweise haben wir diverse Firmenparkplätze am Flughafen gemietet, so muss ich nicht nach einem Parkplatz suchen und gewinne an Zeit. Meistens komme ich auf den letzten Drücker. Zu meinem Erstaunen habe ich bei über einhundert Flügen im Jahr noch keinen einzigen verpasst – selbst als ich vor einigen Wochen für circa zehn Minuten im Flughafenaufzug stecken geblieben bin. Das Auto abgestellt, gehe ich Richtung Abflughalle. Auf einem der unzähligen Monitore schaue ich nach dem 6:40 Uhr Flug nach Amsterdam, suche nach der Flugnummer KL 1952. Nachdem ich das Gate ausfindig gemacht habe, gehe ich durch den Security Check – ich bin bereits eingecheckt und habe nur Handgepäck dabei. Am Gate angekommen, kann ich bereits das mit blauen Großbuchstaben bedruckte Flugzeug von KLM Royal Dutch Airlines besteigen. Nachdem ich das Gepäck verstaut und meinen Platz eingenommen habe, schlafe ich ein und wache erst mit dem Rütteln des Flugzeugs bei der Berührung der Landebahn in Schiphol, Amsterdam auf. Ich verlasse den Flughafen mit dem Zug Richtung Rotterdam. Ich mag diese gelb-blauen Doppelstockzüge. Im Zug fange ich an zu arbeiten, lese diverse E-Mails und treffe einige Vorbereitungen für den Tag. In Rotterdam nehme ich ein Taxi Richtung Fabrik, die in der Nachbarschaft des Stadions vom lokalen Fußballverein Feyenoord Rotterdam liegt.
Ich bin bereits seit einigen Jahren regelmäßig in den Niederlanden und die Stadt Rotterdam gefällt mir unheimlich gut. Da ich aus einer deutschen Kleinstadt mit gerade einmal siebentausend Einwohnern entstamme, mag ich die Weltoffenheit und das pulsierende Treiben dieser Stadt. Die Fabrik liegt direkt am Wasser und über ihr thront die Landeshauptverwaltung meines Arbeitgebers in den Niederlanden. Die unzähligen Büros des einer Brücke nachempfundenen Bauwerkes schweben majestätisch über den historischen Produktionshallen.
Ich nehme den im Gegensatz zur Hauptverwaltung weniger luxuriösen Eingang und laufe schnellen Schrittes entlang der Produktionshallen, wähle das große Tor, durch das diverse Fördermittel und Gabelstapler ein- und ausfahren und betrete unser Großraumbüro. Das Büro ist eher rudimentär eingerichtet, wie so mancher Arbeitsplatz an einem Produktionsstandort, weniger glamourös, wenn ich dies mit den modernen Open Spaces der Hauptverwaltung vergleiche. Mir macht das nichts aus, denn die Leute, mit denen ich die Räumlichkeiten teile, machen den Unterschied. Nach einer netten Begrüßung und Small Talk über unsere Wochenenden mache ich mich an die Arbeit. Seit nunmehr sechs Monaten leite ich vorübergehend das Supply Chain Management des Standorts. Wir sind übrigens einer der größten Margarinefabriken der Welt. Ich hatte bereits über ein Jahr lang in den Niederlanden zwei Produktionsstandorte mit der Einführung neuer Unternehmensprozesse und einhergehender Implementierung einer neuen Produktionsplanungssoftware betreut. Von heute auf morgen wurde ich dann gebeten, neben dem Projekt die operative und fachliche Verantwortung der Supply Chain des Werkes zu übernehmen, als eine überraschende Personalentscheidung bezüglich meines Vorgängers gefällt wurde. Ich habe nicht lange überlegen müssen, da dies für mich mit meinen gerade einmal vierundzwanzig Jahren Lebenserfahrung eine großartige Chance darstellte. Dennoch sollte die Stelle durch mich nur temporär besetzt werden, da ich mich mit meiner Lebensgefährtin nicht auf einen Umzug in die Niederlande einigen konnte. Noch immer fühle ich mich etwas schwermütig bei dem Gedanken, diese Führungsrolle im Betrieb bald wieder abgeben zu müssen. Ich habe Gefallen an der Verantwortung für die Logistik, Produktionsplanung, Beschaffung der Komponenten und vor allem für das Team gefunden. Es erfüllt mich mit Freunde, die vielen Herausforderungen anzugehen, täglich dazuzulernen und mit den Kollegen kleine Erfolge zu feiern.
Als ich mein Notebook starte, springt mir eine E-Mail von Pieter Smith ins Auge. Der Inhalt ist kurz gefasst mit der Bitte um einen Anruf. Pieter ist eine meiner größten persönlichen Herausforderungen, aber zugleich starker Befürworter meiner Weiterentwicklung. Ohne zu zögern greife ich zum Telefon und wähle seine Nummer. Pieter nimmt ab, begrüßt mich mit seinem flämischen Akzent und fragt mich neckisch, warum der Anruf so lange auf sich hat warten lassen. Ihr müsst verstehen, dass Pieter das Spiel mit leichtem Druck auf sein Gegenüber auf das Äußerste beherrscht. Es ist eine Art Spaß, aber gleichzeitig ein Test, wie schlagfertig man darauf reagiert.
Gerne erinnere mich an mein Vorstellungsgespräch von vor zwei Jahren zurück. Mein erster Besuch in Rotterdam. Oh war ich aufgeregt, vor allem, weil ich bis dato wenig Kontakt mit Personen aus höheren Managementebenen hatte. Pieter holte mich an diesem Tag an der Pforte ab. Ich habe sofort an »Doc« Dr. Emmett Brown vom Film »Zurück in die Zukunft« denken müssen, als sich Pieter mir vorstellte. Es war ein kalter Tag und sein langer Mantel sowie sein graues Haar flatterten im Wind. Er grinste verschmitzt und mir fiel direkt die Mischung aus frechem Kindskopf und abgebrühtem Business-Man, ich schätzte sein Alter auf Ende fünfzig Jahre, auf. Auf dem Weg zu den Container-Übergangsbüros rauchte er eine Zigarre und wir hielten etwas Small Talk. Zu dieser Zeit durfte man noch an einigen Stellen auf dem Areal rauchen. Kaum angekommen, wurde ich erstmal in die Mangel genommen, da ich keine Krawatte zu meinem Anzug trug. Er meinte es ernst und ließ erst locker, nachdem ich eine vernünftige Erklärung geben konnte. Wobei ihm der Inhalt der Erklärung weniger wichtig war, als wie ich mit der kleinen Drucksituation umging. Über die Jahre fallen mir immer wieder diese kleinen Tests auf. Er wendet diese auch bei anderen Kollegen an, aber ich bilde mir ein, dass er dies besonders eifrig bei Mitarbeitern, in denen er gewisses Potenzial sieht, durchführt.
Zurück zum Telefonat. Pieter kommt direkt zum Punkt.
»Gabriel, wir haben eine Herausforderung in unserem tschechischen Werk, in der Nähe von Prag, und ich möchte, dass du als Expatriate das Management-Team dieses Standortes vervollständigst. Wir sind mit der Leistung des bisherigen Customer Service & Logistics Managers unzufrieden. Du wirst vorerst für ihn arbeiten, aber mittelfristig seine Position übernehmen. Wir investieren gerade viel Geld in den Standort, in neue Produktionsanlagen und -technologien, aber die Außenwahrnehmung und die Lieferperformance sind schlichtweg unterirdisch und müssen dringend verbessert werden.«
Ich unterbreche ihn.
»Ok, danke für das Vertrauen, aber kann ich bitte darüber nachdenken und weitere Details in Erfahrung bringen?«
»Ja, rufe doch bitte bei Mike Pence an, er kann dir einige Hintergründe und Details erklären. Morgen früh hätte ich gerne deine Rückmeldung. Du solltest bereits im nächsten Monat in Prag aufschlagen und mit deiner Einarbeitung beginnen.«
Wir beenden das Telefonat. Ich bin verwirrt. Eine Mischung aus Euphorie und Unsicherheit macht sich in mir breit. Der Rest des Arbeitstages vergeht wie im Autopiloten, da ich meine Gedanken nicht richtig sortieren kann.
Zwischendurch rufe ich Mike an. Er ist ein guter Arbeitskollege aus unserer Supply-Chain-Zentrale und kümmert sich um die zentrale Planung und Steuerung des globalen Werkverbundes sowie der Lieferanten und stimmt diese mit den Marktbedürfnissen ab. Wir kennen uns bereits seit über zwei Jahren und haben diverse Projekte gemeinsam umgesetzt. Daher bin ich mir sicher, eine objektive, aber auch ehrliche Einschätzung der Ausgangslage und Herausforderung des Werks in Tschechien zu erhalten. Mich erstaunt, dass mich seine Aufzählung nicht abschreckt, sondern Neugier und gewissen Ehrgeiz in mir wecken. Vom Gespräch bleiben bei mir Bruchstücke wie »unzuverlässig, schlechte Prognosen, ungenügend qualifizierte Mitarbeiter, hohe Fluktuation, schlechtester Kundenservice im Netzwerk, viele Projekte und Neuprodukte, schlichtweg unplanbar« hängen.
Nach der Arbeit laufe ich regelmäßig kilometerweit im Dunkeln durch die Straßen der Stadt in Richtung Hotel. Die Brücken Rotterdams faszinieren mich. Die Erasmus-Brücke überquere ich abends zu Fuß. Sie besitzt zwei dominante meterhohe Säulen und in eine Richtung eine Vielzahl mächtiger Stahlseile, die sich wie ein Fächer aufspannen. Links und rechts erheben sich Hochhäuser und die Lichter in den Fenstern erhellen den Nachthimmel.
Heute muss ich einiges verarbeiten und nachdenken, weshalb ich diverse Umwege in Kauf nehme, sodass ich erst neunzig Minuten später im Hotel ankomme. Das Check-in läuft wie immer reibungslos. Ich gehöre fast schon zum Inventar dieses Hotels, die meisten Mitarbeiter kennen mich und nennen mich beim Namen. Auf dem Hotelzimmer angekommen, rufe ich Sophia an und erzähle ihr die Neuigkeiten – von dem zweiten Angebot einer größeren Managementaufgabe innerhalb kürzester Zeit. Diesmal werde ich wohl nicht »nein« sagen können.