Читать книгу (UN)PLANBAR - Ein Business-Roman über Sales & Operations Planning - Martin Hendel - Страница 5
Оглавление2
Einige Wochen später stehe ich am Prager Flughafen und warte auf meine Mitfahrgelegenheit. Die Nacht war noch kürzer als sonst. Ich bin ständig aufgewacht und verspürte eine Gefühlsmischung aus Nervosität und Aufregung. Daher kommt mein Körper erst jetzt so langsam in Gang und mein Bauch macht sich bemerkbar. Immer wenn ich nervös bin, schlägt es mir auf den Magen. Im heutigen Fall sollte meine Nervosität aber nicht negativ sein, denn ich freue mich auf die kommende Zeit und habe mich bewusst dafür entschieden. Unser Körper und Geist spielt uns hier gerne einen Streich und lässt uns auf Positives wie Negatives ähnlich reagieren. Ich konzentriere mich auf meine Atmung und komme schnell zurück ins Gleichgewicht.
Ein freundlich aussehender älterer Herr, der sich mir später als Marek vorstellen wird, kommt mit einem Schild mit der Aufschrift »Gabriel Wolf« in die Empfangshalle des Flughafens gelaufen. Ich gehe auf ihn zu und stelle mich vor. Wenig später sitzen wir in seinem hellblauen Ford Mondeo und fahren ungefähr vierzig Minuten zum Produktionswerk nördlich von Prag. Mit jedem Kilometer, mit dem wir Prag hinter uns lassen, reisen wir gefühlt in die Vergangenheit zurück. Denn die Städte und Dörfer scheinen aus einer anderen, einfacheren Zeit. Die Fahrt ist kurzweilig, da Marek mit einer Mischung aus gebrochenem Englisch und Deutsch versucht, vieles zu erzählen. Er ist mir direkt sympathisch, bodenständig, gezeichnet von einem Leben voller Arbeit, aber freundlich und warmherzig. Seine Wesensart nimmt mir die Nervosität vor den kommenden Stunden.
Wir erreichen den Zielort Nelahozeves, eine kleine Gemeinde mit knapp über zweitausend Einwohnern. Die Ortschaft grenzt direkt an die Moldau und hat neben einem Schloss mit dem Geburtshaus des Komponisten Antonín Dvořák immerhin zwei Sehenswürdigkeiten. Mir war vorher gar nicht bewusst, dass der Ort im Vergleich zu meiner neuen Arbeitsstätte, eine Fabrik mit über siebenhundert Beschäftigten, gerade einmal dreimal so viele Bürger beheimatet.
Wir erreichen das Ziel, passieren den Werksschutz und fahren auf das Fabrikgelände. Als ich aus dem Auto gestiegen bin, nehme ich die schiere Größe des Standorts war. Neben diversen Gebäudekomplexen, die Büros, aber auch diverse Produktionstechnologien bis hin zu einer Lebensmittelölraffinerie beherbergen, erkenne ich mehrere Lagerhallen, eine werkseigene Lokomotive, die neben unzähligen hohen Metalltanks auf den Gleisen steht, und sehe einige Gabelstapler und LKWs über das Gelände fahren. Marek bringt mich zum Verwaltungsgebäude und zeigt auf einen Schaukasten, in dem das Management Team, quasi die Werksleitung, abgebildet ist. Es ist bereits ein Bild von mir angebracht, unter welchem sich der Titel »Leiter Planung & Materialwirtschaft« befindet.
Eigentlich sollte ich vor Stolz platzen, aber mich übermannt ein Gefühl der Demut. Nun bin ich Teil dieses kleinen Führungsteams, das die Zukunft des Werkes mit langer Tradition und so vielen Beschäftigten gestalten darf. Ich spüre die große Verantwortung, die ich mit gerade einmal Mitte Zwanzig übernehmen kann. Dennoch überwiegt die Vorfreude auf die kommenden Herausforderungen.
Mir schießen Gedanken an die letzten Jahre durch den Kopf. Ich erinnere mich, wie ich im Alter von sechszehn Jahren zuhause ausgezogen bin, um eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren. Aufgrund meiner Minderjährigkeit musste ich bei einer fremden Familie hunderte Kilometer von zuhause entfernt zur Untermiete wohnen. Ich denke an die unzähligen Stunden, die ich jede Woche in einem LKW verbracht habe, um über das Wochenende nachhause zu fahren, da ich kein Geld für eine Zugfahrkarte hatte. Gerade erst habe ich den Verkehrsfachwirt und nun den Betriebswirt berufsbegleitend absolviert, um mehr Theoriebausteine für meine Zukunft in meinem Rucksack zu haben. Zugegebenermaßen hatte ich während der letzten Jahre gar keine Zeit, den Fortschritt, die persönliche Weiterentwicklung oder meinen Erfolg zu genießen. Hier und heute schlage ich ein weiteres Kapitel auf – erneut ohne Reflektion und Pause. Nun stehe ich hier in Tschechien und soll eine erste längerfristige sowie große Verantwortung übernehmen.
Mir wird ein freundlicher Empfang bereitet. Nach einem Gespräch mit dem Personal- und Werksleiter lerne ich mein Team, genauer gesagt die Teamleiter, die direkt an mich berichten werden, kennen. Als ich sehe, dass die vier Nachwuchsführungskräfte aufgeregt sind, stellt sich bei mir etwas mehr Souveränität ein – geteiltes Leid ist halbes Leid. Ich grinse breit und bringe ein »dobry den, jmenuji se Gabriel« über die Lippen. Ich glaube meine Aussprache war so schlecht, dass damit direkt das Eis gebrochen wurde, da jeder der vier anfing freundlich zu lachen. Diese ersten Treffen finde ich jedes Mal aufs Neue richtungsweisend. Immerhin werde ich mit diesen Personen montags bis freitags einen Großteil meiner Zeit verbringen.
Direkt vor mir steht Jana. Ich schätze sie etwas älter als mich ein. Im Vergleich zu meinen 1,73 Metern Körpergröße ist sie groß gewachsen, sportlich und hat lange blonde Haare. Jana kümmert sich um das Projektmanagement wie Produktneueinführungen. Da sie ein ehemaliger Management-Trainee ist, kennt sie sämtliche Abteilungen des Standorts. Sie hinterlässt einen schlagfertigen, aber auch vertrauensvollen Eindruck bei mir.
Die Person neben ihr stellt sich mir als Magdalena vor. Sie erzählt mir direkt von ihrer kleinen Tochter, die sie allein erzieht und dass sie dadurch früh von der Arbeit gehen muss, aber in der Regel abends von zuhause aus aufarbeitet. Magdalena kommt taff und willensstark rüber, zumindest bilde ich mir das aufgrund ihrer drahtigen Figur und schwarzen Kurzhaarfrisur ein. Sie leitet die Gruppe der Produktions- und Materialplaner der Produktionseinheit für Salatdressings, Ketchup und Mayonnaise.
Der nächste meiner neuen Kollegen stellt sich als Ondrej vor. Er scheint kurz angebunden oder nicht sehr kommunikativ zu sein. Ich schätze ihn auf Mitte Dreißig, er hat einen starken Händedruck und mir wird später klar werden, dass dies von seinen regelmäßigen Klettertouren kommen mag. Ondrej ist am längsten in der Abteilung und verantwortet die Produktions- und Materialplanung der Margarine- sowie der vor kurzen in Betrieb genommenen Vitaminshots-Produktion.
Jakub bildet den Abschluss. Er scheint recht humorvoll zu sein und bringt unsere neu geformte Gruppe erneut zum Lachen. Er ist sehr groß und scheint in meiner Altersklasse zu sein. Er betreut die Transportplanung und die Exportabwicklung in die über zwanzig Länder, die aus den Lagerorten des Produktionswerkes beliefert werden.
Die Kollegen begleiten mich in mein neues Büro. Es liegt direkt neben dem Großraumbüro meiner neuen Abteilung und ist mit einem großen modernen Schreibtisch, einem Besprechungstisch und dem nötigen IT-Equipment ausgestattet. Es ist schon länger her, dass ich ein eigenes Büro hatte. Es wird auch nicht lange so bleiben, denn schon in den kommenden Wochen werde ich einen Teil der Wand entfernen lassen, um direkten Anschluss an das Großraumbüro meines Teams zu bekommen. Mir ist es durchaus wichtig, die Atmosphäre und Stimmungslage im Raum aufzunehmen, den Rhythmus des geschäftigen Treibens zu fühlen aber auch selbst sichtbar und greifbar zu sein. Seit ich selbst eine Führungskraft bin, ist mir bewusst geworden, wie schnell man den Draht zum Team verlieren kann, da man von Termin zu Termin rennt und die wenigen Momente am Schreibtisch stumm und unsichtbar verbringt. Die persönliche Note, das Weitergeben von Emotionen oder Vorbild sein, vor allem für junge und dynamische Gruppen empfinde ich als unentbehrlich. Auch wenn ich der Vorgesetzte sein darf, so bin ich Teil des Teams, der Dynamik, des Erfolgs wie auch des Misserfolgs. Muss man einmal etwas Vertrauliches oder Persönliches besprechen, kann ein Besprechungsraum oder auch ein Spaziergang gewählt werden.
Gegen Ende des Tages kommt der schwierigste Teil. Es klopft an meiner Bürotür und ein kräftiger Mann mit Frisur und Ausstrahlung eines Offiziers betritt den Raum. Er heißt Vladimir Horak und muss mit dem heutigen Tag einen Teil seiner Kompetenzen an mich abtreten und verantwortet von nun an nur noch den physischen Teil der Logistik, das heißt Lager und Transport. Zumindest auf dem Papier. Im Team selbst wird er in den kommenden Wochen weiterhin als informeller Vorgesetzter auftreten und mich vor einige Herausforderungen stellen. Was mich bei unserem ersten Aufeinandertreffen bedrückt ist, dass ich bereits informiert bin, dass er mittelfristig seinen Platz räumen muss, damit ich die komplette Logistik mitübernehmen kann. Das bereitet mir permanent ein schlechtes Gewissen, denn Vladimir hat, neben seinen beruflichen Problemen, das Herz am rechten Fleck, arbeitet hart und handelt verantwortungsbewusst. Er wird seine Fähigkeiten und Wissen in der Logistik mehrfach unter Beweis stellen können und ich werde von ihm diesbezüglich einiges lernen. Doch die wachsenden Anforderungen an das Supply Chain Management, dem Zusammenspiel sämtlicher Funktionen entlang der Lieferkette vom Lieferanten bis zu den Kunden, stellt neue Anforderungen, die ihm einige der Führungskräfte in der Unternehmenszentrale nicht mehr zutrauen. Das wird nicht das erste und letzte Mal eines doppelten Spieles an diesem Standort für mich sein.
Morgen treffe ich den Rest des Management-Teams. Vor allem auf die Produktionsleitung bin ich gespannt, da aus der Erfahrung heraus hier das größte Konfliktpotenzial, welches unsere Verbesserungsmaßnahmen betrifft, besteht. Ich erinnere mich an eine Auseinandersetzung mit der Produktionsleiterin in Rotterdam. Wir hatten uns so sehr in die Haare bekommen, dass ich sie vor versammelter Mannschaft gebeten hatte, unverzüglich das Büro zu verlassen. Wenige Stunden später haben wir uns natürlich wieder vertragen, obwohl wir uns in der Sache »Effizienz versus Flexibilität der Produktion« nie einig wurden.
Es ist seit längerem dunkel und bereits nach 7:00 Uhr abends. Marek fährt mich zurück nach Prag. Ich werde dort am Stadtrand das Hilton Hotel beziehen. Dieser riesige und luxuriöse Quader wird in der nächsten Zeit meine Wochenresidenz bilden, zumindest bis wir eine dauerhafte Bleibe beziehen können.